II. Die gegenwärtige Verwerfung der großen Mehrzahl des jüdischen Volkes in ihrem Verhältnis zum Heilsplan Gottes
1. Einleitung: Der tiefe Schmerz des Apostels über die zeitweilige Ausschließung seines Volkes vom Heile
1Ich sage die Wahrheit in Christus, ich lüge nicht – mein Gewissen bezeugt es mir im heiligen Geist –: 2ich trage schweren Kummer und unaufhörlichen Schmerz in meinem Herzen. 3Gern wollte ich selbst durch einen Fluch aus der Gemeinschaft mit Christus ausgestoßen sein, wenn ich dadurch meine Brüder, meine Volksgenossen nach dem Fleische, retten könnte; 4sie sind ja doch Israeliten, denen der Sohnesstand (oder: das Kindschaftsrecht = die Annahme zum Gottesvolk) und die Herrlichkeit Gottes, die Bündnisse und die Gesetzgebung, der Gottesdienst und die Verheißungen zuteil geworden sind, 5denen die Erzväter angehören und aus denen der Messias dem Fleische nach stammt: der da Gott über allem ist, gepriesen in Ewigkeit! Amen.
2. Rechtfertigung Gottes bezüglich der gegenwärtigen Verwerfung der Juden
a) Gottes Verheißungen an Israel sind unverbrüchlich, gelten aber nicht allen leiblichen, sondern nur den geistlichen Nachkommen Abrahams
6Ich will damit aber nicht gesagt haben, daß Gottes Verheißungswort hinfällig geworden (oder: unerfüllt geblieben) sei; denn nicht alle, die aus Israel stammen, sind Israel, 7und nicht alle sind schon deshalb, weil sie Abrahams Same (d. h. leibliche Nachkommen) sind, auch seine Kinder; sondern (1. Mose 21,12): »In (= nach) Isaak soll dir Nachkommenschaft genannt werden.« 8Das will ich sagen: Nicht die leiblichen Kinder (Abrahams) sind damit auch Gottes Kinder, sondern (nur) die Kinder der Verheißung werden als Nachkommenschaft (Abrahams) gerechnet. 9Denn so lautet das Wort der Verheißung (1. Mose 18,10.14): »(Übers Jahr) um diese Zeit werde ich (wieder-) kommen, da wird Sara einen Sohn haben.« 10Und nicht nur hier (= bei Sara) ist es so gewesen, sondern auch bei Rebekka, die von einem und demselben Manne, nämlich unserm Vater (= Ahnherrn) Isaak, guter Hoffnung war. 11Denn ehe sie (ihre beiden Kinder) noch geboren waren und irgend etwas Gutes oder Böses getan hatten, schon da wurde – damit Gottes Vorherbestimmung aus freier Wahl bestehen bliebe, 12abhängig nicht von Werken, sondern (allein) von dem (Willen des) Berufenden – der Rebekka gesagt (1. Mose 25,23): »Der Ältere wird dem Jüngeren dienstbar sein«; 13wie ja auch (anderswo) geschrieben steht (Mal 1,2-3): »Jakob habe ich geliebt, Esau aber habe ich gehaßt.«
b) Die Erwählung zum Heil ist das freie Werk der Gnade Gottes; die Versagung des Heils und der Gnade gestattet dem Menschen kein Hadern mit Gott
14Was folgt nun daraus? Liegt da etwa Ungerechtigkeit auf seiten Gottes vor? Nimmermehr! 15Zu Mose sagt er ja (2. Mose 33,19): »Ich werde Gnade erweisen, wem ich gnädig bin, und werde Barmherzigkeit dem erzeigen, dessen ich mich erbarme.« 16Demnach kommt es nicht auf jemandes Wollen oder Laufen (= Bemühen) an, sondern auf Gottes Erbarmen. 17So sagt ja auch die Schrift zum Pharao (2. Mose 9,16): »Gerade dazu habe ich dich in die Welt kommen lassen, um an dir meine Macht zu erweisen und damit mein Name auf der ganzen Erde verkündet werde.« 18Also: Gott erbarmt sich, wessen er will, und verstockt auch, wen er will. 19Da wirst du mir nun einwenden: »Wie kann er dann noch (jemand) tadeln? Wer vermöchte denn seinem Willen (oder: Ratschluß) Widerstand zu leisten?« 20Ja, o Mensch, wer bist denn du, daß du Gott zur Verantwortung ziehen willst? Darf etwa das Gebilde zu seinem Bildner sagen: »Warum hast du mich so gemacht?« 21Oder hat der Töpfer nicht Macht über den Ton, aus derselben Masse hier ein Gefäß zu ehrenvoller Bestimmung und dort ein anderes zu gemeiner Verwendung zu verfertigen?
22Wie aber, wenn Gott, obgleich er seinen Zorn offenbaren und seine Macht an den Tag legen will, doch die Gefäße des Zornes, die zur Vernichtung hergestellt sind (oder: für den Untergang, oder: zum Gericht reif waren), mit großer Langmut getragen hat, 23um zugleich den Reichtum seiner Herrlichkeit an Gefäßen des Erbarmens zu erweisen, die er zur (Teilnahme an seiner) Herrlichkeit zuvor bereitet hat? 24Als solche (Gefäße des Erbarmens) hat er auch uns berufen, und zwar nicht nur aus den Juden, sondern auch aus den Heiden(völkern), 25wie er ja auch bei (dem Propheten) Hosea sagt (Hos 2,25): »Ich werde das, was nicht mein Volk ist, mein Volk nennen und der Ungeliebten den Namen ›Geliebte‹ beilegen«; 26und (Hos 2,1): »Es wird geschehen: an dem Orte, wo zu ihnen gesagt worden ist: ›Ihr seid nicht mein Volk‹, dort werden sie ›Söhne des lebendigen Gottes‹ genannt werden.« 27Jesaja ferner ruft laut im Hinblick auf Israel aus (Jes 10,22-23): »Wenn auch die Zahl der Söhne Israels wie der Sand am Meer wäre, wird doch nur der Rest davon gerettet werden; 28denn sein Wort (= seine Drohung) wird der Herr, indem er die Dinge sicher und Schlag auf Schlag verlaufen läßt, zur Ausführung auf der Erde bringen.« 29Und wie Jesaja vorhergesagt hat (Jes 1,9): »Hätte der Herr der Heerscharen uns nicht einen Samen (= eine Nachkommenschaft) übriggelassen, so wären wir wie Sodom geworden und hätten gleiches Schicksal mit Gomorrha gehabt.«
3. Israels Verwerfung ist durch eigene Schuld herbeigeführt
a) Die Schuld der Juden hat in der Verwerfung der Glaubensgerechtigkeit und im übereifrigen Trachten nach der Werkgerechtigkeit bestanden
30Was folgt nun daraus? Dieses: Heiden, die nicht nach Gerechtigkeit trachteten, haben Gerechtigkeit erlangt, nämlich die Gerechtigkeit, die aus dem Glauben kommt; 31Israel dagegen, das nach der vom Gesetz geforderten Gerechtigkeit trachtete, hat das vom Gesetz gesteckte Ziel (der Rechtfertigung) nicht erreicht. 32Warum nicht? Weil sie es nicht auf dem Glaubensweg, sondern es mit Werken haben erreichen wollen: da haben sie sich am Stein des Anstoßes gestoßen, 33von dem geschrieben steht (Jes 28,16; 8,14): »Siehe, ich lege in Zion einen Stein des Anstoßes und einen Felsen des Ärgernisses (oder: des Strauchelns = zum Fallen); und wer auf ihn sein Vertrauen setzt (oder: an ihn glaubt), wird nicht zuschanden (oder: enttäuscht) werden.«