Textgrundlage Bibelübersetzung
Die Textgrundlagen von Bibelübersetzungen
Es ist heute selbstverständlich, dass eine Bibelübersetzung aus den biblischen Originalsprachen angefertigt wird, also für das Alte Testament aus dem Hebräischen und teilweise Aramäischen, für die Spätschriften des Alten Testaments (Deuterokanonische Schriften/Apokryphen) und das Neue Testament aus dem Griechischen. Das gilt seit den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts auch für die katholischen Übersetzungen, die sich bis dahin weitgehend an der kirchenoffiziellen lateinischen Übersetzung (Vulgata) orientiert hatten.
Aber mit der Entscheidung für die biblischen Originalsprachen ist noch nicht festgelegt, welche spezielle Textfassung für eine Übersetzung maßgebend ist. Die verschiedenen Einzelschriften, die in der Bibel enthalten sind, sind uns in keinem Fall in der Originalhandschrift ihres Verfassers überliefert. Die handschriftlichen Bibeltexte, die wir in großer Zahl besitzen, stammen aus späteren Jahrhunderten und weichen im Wortlaut vielfältig voneinander ab. Die biblische Textforschung hat sich die Aufgabe gestellt, mit wissenschaftlichen Methoden die besten Handschriften und von Fall zu Fall die besten »Lesarten« herauszufinden und einen biblischen Grundtext zu rekonstruieren, der dem Originaltext so nahe wie möglich kommt. (»Lesart« ist der von anderen Handschriften abweichende Wortlaut einer Bibelstelle in einer bestimmten Handschrift oder Handschriftengruppe. Sind z.B. an einer Stelle drei verschiedene Wortlaute überliefert, so gibt es von dieser Stelle drei »Lesarten«, von denen höchstens eine Anspruch auf Ursprünglichkeit erheben kann.)
Der Befund der handschriftlichen Überlieferungen ist für die verschiedenen Teile der Bibel unterschiedlich. Deshalb muss auch die Frage des Grundtextbezugs für jeden Teil der Bibel gesondert betrachtet werden.
Die Textgrundlage für die Übersetzung des Alten Testaments
Vom Alten Testament kennen wir weit weniger Handschriften als vom Neuen Testament. Das hängt damit zusammen, dass die jüdischen Gemeinden ihre Schriftrollen, wenn sie durch langen Gebrauch brüchig wurden, in der Regel vernichtet haben. Auch für das Alte Testament gibt es so etwas wie einen Textus receptus: es ist der von den jüdischen Schriftgelehrten um 100 n.Chr. festgelegte Text. Ursprünglich ein reiner Konsonantentext, wurde er seit etwa 700 n.Chr. mit Vokalzeichen versehen. In dieser Form wurde er von den sog. Masoreten mit peinlicher Genauigkeit weiter überliefert. (Das hebräische Wort »masora« bedeutet Überlieferung.) Dieser hebräische – und in späteren Teilen aramäische – Text heißt deshalb der »masoretische« Text.
Bei ihm handelt es sich nach unseren heutigen Erkenntnissen um eine späte und sicher nicht an allen Stellen ursprüngliche Textform. Durch mancherlei Handschriftenfunde, insbesondere die sensationellen Funde in den Höhlen bei Qumran, sind uns Lesarten des alttestamentlichen Textes bekannt geworden, die hinter die masoretische Textbearbeitung zurückreichen. Das Gewicht des masoretischen Textes ist jedoch so groß, dass auch heutige wissenschaftliche Textausgaben (Biblia Hebraica von Kittel; seit 1967 Biblia Hebraica Stuttgartensia; in Vorbereitung Biblia Hebraica. Editio Quinta) diesen Text abdrucken und lediglich im »textkritischen Apparat« abweichende Lesarten verzeichnen. Im Unterschied zur Ausgabe des Neuen Testaments von Nestle-Aland stehen hier also auch Lesarten »im Text«, die nach dem Urteil der Herausgeber keinen Anspruch auf Ursprünglichkeit haben.
Für die Feststellung des ursprünglichen alttestamentlichen Textes haben außer den überlieferten Handschriften auch die älteren Übersetzungen des hebräischen Textes eine Bedeutung, vor allem die griechische, syrische und lateinische (Septuaginta, Peschitta, Vetus Latina und Vulgata). Sie gehen auf Handschriften zurück, die noch nicht (oder noch nicht durchgreifend) von den Masoreten bearbeitet sind, und können deshalb gelegentlich als Zeugen einer ursprünglicheren Textform herangezogen werden.
Auch Textverbesserungen, die ohne Anhalt an der handschriftlichen Überlieferung von Gelehrten vorgeschlagen worden sind, spielen beim hebräischen Text des Alten Testaments eine Rolle. Da der Text jahrhundertelang ohne Vokalzeichen abgeschrieben wurde und manche hebräischen Konsonanten sehr ähnlich aussehen, konnten sich leicht Verwechslungen ergeben. Eine Zeit lang beurteilten die Forscher die Chance, durch »Konjekturen«, d.h. vermutungsweise vorgenommene Textverbesserungen, zum ursprünglichen Text des Alten Testaments vorzudringen, sehr optimistisch; heute ist man vorsichtiger geworden. (Die Forschergruppe »Hebrew Old Testament Text Project« der Bibelgesellschaften lässt nur in Ausnahmefällen »Konjekturen« zu und sucht nach Möglichkeit dem überlieferten hebräischen Text einen Sinn abzugewinnen. Ihre Ergebnisse wurden von Dominique Barthélemy in der Reihe Orbis Biblicus et Orientalis, Fribourg und Göttingen, unter dem Titel Critique Textuelle de l'Ancien Testament in mehreren Bänden veröffentlicht.)
Die Textgrundlage für die Übersetzung des Neuen Testaments
Die meisten Handschriften besitzen wir für den griechischen Text des Neuen Testaments. Bekannt sind über 5000, von denen allerdings nur wenige das ganze Neue Testament enthalten. Sie sind heute so weit ausgewertet, dass man von einem weitgehend gesicherten ursprachlichen Text des Neuen Testaments sprechen kann.
Ein solcher Text wurde von einem internationalen und interkonfessionellen Komitee von Textforschern zwischen 1955 und 1975 erarbeitet und ist abgedruckt im »Novum Testamentum Graece« von Nestle und Aland, kurz: Nestle-Aland (28. Auflage 2012; bis zur 21. Auflage von 1952 Nestle), und im »Greek New Testament« der United Bible Societies (5. Auflage 2014).
Abweichende »Lesarten« verzeichnet der editorische Nachweis, der sog. »textkritische Apparat« am Fuß jeder Seite. Viele der heute in Gebrauch befindlichen deutschen Übersetzungen sind vor dem Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser beiden Textausgaben erarbeitet worden; auch ist kein Übersetzer in seinem Urteil an die Entscheidungen des Textkomitees gebunden. Bibelleser müssen deshalb damit rechnen, dass der Übersetzung, die sie benutzen, hie und da abweichende Lesarten zugrunde liegen, die von den Herausgebern der genannten wissenschaftlichen Textausgaben »verworfen« und in den Apparat verbannt worden sind.
Das Neue Testament wurde seit dem Ausgang des Altertums in einer Textform verbreitet und immer wieder abgeschrieben, die nach unseren heutigen Erkenntnissen an zahlreichen Stellen vom mutmaßlichen Originaltext abweicht. Erst im 19. und 20. Jahrhundert entdeckte man ältere Handschriften, die uns näher an den Originaltext heranführen. Viele Bibelleser und Kirchen (z.B. die orthodoxen) hängen aus Gewöhnung an der Textfassung, die durch jahrhundertelangen Gebrauch »sanktioniert« ist. In der Textforschung nennt man diese Textform den Textus receptus, d.h. den von den Kirchen seit alters allgemein anerkannten Text. Diese Textform enthält u.a. Versteile, Verse und gelegentlich Versgruppen, die in der ältesten Überlieferung nicht bezeugt sind, jedoch bei der Festlegung der Versziffern im 16. Jahrhundert mitgezählt wurden (z.B. Markus 15,28; Johannes 4,3b-4).
Wer sich über den Stand der neutestamentlichen Textforschung eingehender informieren will, sei verwiesen auf Kurt Aland und Barbara Aland: Der Text des Neuen Testaments, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 2. Auflage 1989.
Die Textgrundlage für die Übersetzung der Apokryphen | Spätschriften
Eine besondere Gruppe bilden diejenigen alttestamentlichen Schriften, die fast ausschließlich in griechischer Sprache überliefert und in der griechischen Übersetzung des Alten Testaments (Septuaginta) enthalten sind. Als die jüdischen Schriftgelehrten in Palästina um 100 n.Chr. den »Kanon« ihrer heiligen Schriften endgültig festlegten, wurden diese Schriften von ihnen nicht mit aufgenommen. Da jedoch die frühe Christenheit das Alte Testament in der griechischen Fassung der Septuaginta vom Judentum übernahm, gingen auch diese Schriften als selbstverständlicher Bestandteil in die Heilige Schrift der Christen ein. Allerdings wurde schon bald ihre Sonderstellung erkannt. Der Kirchenvater Origenes nannte sie als Erster »apokryphe« Schriften (das Wort bedeutet »verborgen, geheim«).
Der Begriff »Apokryphen« stiftet Verwirrung, weil er auch für Schriften verwendet wird, die niemals im Judentum bzw. in der Kirche kanonische Geltung erlangt haben (außerbiblische Apokryphen). Dazu zählen z.B. aus spätalttestamentlicher Zeit das 4. Buch Esra und das Henoch-Buch, aus neutestamentlicher Zeit das Thomas-Evangelium und die Paulus-Akten. Deutsche Ausgaben der ersten Gruppe sind: Altjüdisches Schrifttum außerhalb der Bibel, übersetzt und erläutert von Paul Riessler, Kerle Verlag, Heidelberg (vergr.); Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit, hg. v. H. Lichtenberger u.a., Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh (15 Bände in Lieferungen erscheinend); eine deutsche Ausgabe der zweiten Gruppe ist: Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, hg. v. W. Schneemelcher, J.C.B. Mohr, Tübingen (2 Bände).
In der lateinischen Bibel (Vulgata) waren die innerbiblischen »Apokryphen« ähnlich wie schon in der Septuaginta über das ganze Alte Testament verteilt, und in dieser Anordnung finden sie sich auch heute noch in den katholischen Bibelausgaben. Für die katholische Kirche sind sie vollgültiger Bestandteil der Heiligen Schrift, werden aber wegen ihrer gesonderten Überlieferung als »Deuterokanonische Schriften« (Schriften des zweiten, d.h. des Septuaginta-Kanons) bezeichnet. Luther, der sie nicht in seinem hebräischen Bibeltext fand, stellte sie in einem Anhang zum Alten Testament zusammen.
Auf der Suche nach einem neutralen, nicht konfessionell belasteten Ausdruck für diese Schriftengruppe wurde der Begriff Spätschriften des Alten Testaments geprägt, der seit der »Bibel in heutigem Deutsch« von 1982 Verwendung findet. In interkonfessionellen Bibelausgaben werden diese Schriften wie in der Lutherbibel als eigener Teil vor dem Neuen Testament abgedruckt.
Der griechische Grundtext der Septuaginta wird im Rahmen der großen kritischen Göttinger Septuaginta-Ausgabe in Einzelbänden veröffentlicht. Daneben behält die kritische Handausgabe der Septuaginta von Alfred Rahlfs (1935) weiterhin ihre Bedeutung, obwohl in der Göttinger Ausgabe einzelne textkritische Entscheidungen anders gefällt werden. Der griechische Text des Alten Testaments ist gegenüber dem hebräischen Text der Masoreten weniger einheitlich. Manche Bücher, wie z.B. Tobit (Tobias) oder Daniel, sind in zwei z.T. stark abweichenden Fassungen überliefert. Der Übersetzer muss sich in einem solchen Fall entscheiden, welcher Textfassung er den Vorzug gibt.