Einführung: Das Buch Ezechiel
Das Buch ist nach dem Propheten Ezechiel benannt, für den auch die Namensform Hesekiel gebräuchlich ist. Es besteht aus drei großen Buchteilen mit Gerichtsworten über Israel (1–24), Gerichtsworten über die Völker (25–32) und dem Ausblick auf eine heilvolle Zukunft (33–48). Nach den im Buch enthaltenen Datierungen hat Ezechiel im Zeitraum von 593 bis 572 v. Chr. als Prophet unter den nach Babylonien weggeführten Judäern gewirkt. Seine Botschaft wird in einer fast durchgängigen Ich-Rede dargeboten. Dabei werden Empfang und Weitergabe der Gottesworte durch Formeln gekennzeichnet wie »Das Wort des HERRN kam zu mir« oder »So spricht Gott, der HERR«. Im Kern ist das Prophetenbuch in Babylonien entstanden, und zwar bei den Judäern, die sich dort nach der Wegführung aus Jerusalem 597 v. Chr. angesiedelt hatten. Danach wurde das Buch weiter fortgeschrieben und ist in seinem Umfang deutlich angewachsen.
Der Prophet Ezechiel stammt aus priesterlichen Kreisen in Jerusalem. Er gehört zu einer Gruppe angesehener Judäer, die Nebukadnezzar II. bereits im Jahr 597 v. Chr. nach Babylonien verschleppen ließ. Als sein Aufenthaltsort wird die Siedlung Tel-Aviv angegeben, die an einem Seitenkanal des Eufrat liegt. Dort wird er 593 v. Chr. in einer Vision zum Propheten berufen (2). Im Zentrum seiner Verkündigung steht zunächst die Ankündigung, dass Gott den Tempel in Jerusalem zerstören wird. Das geschieht als Strafe für den Götzendienst und das Unrecht, das die im Land gebliebene Bevölkerung verübt. Außerdem wird der Prophet von Gott zum »Wächter« seines Volkes bestimmt, der die Menschen warnen und zur Umkehr bewegen soll (3,16-21; 33,1-20). Zweifellos zählt Ezechiel zu den einflussreichsten Vertretern der judäischen Gemeinde in Babylonien. In seinem Haus kommen auch die Ältesten Israels zu Beratungen zusammen (8,1; 14,1; 20,1).
Der erste Buchteil (1–24) beginnt mit einem eindrucksvollen Abschnitt (1–11), der die Berufungsvision des Ezechiel, erste Zeichenhandlungen des Propheten, Gerichtsankündigungen und eine Vision umfasst. In ihr erlebt der Prophet, wie die Herrlichkeit Gottes auf einem Thronwagen den Tempel und die Stadt Jerusalem verlässt. Der zweite Abschnitt (12–24) schildert weitere Zeichenhandlungen des Propheten und bietet Gerichtsworte in außergewöhnlicher Vielfalt und bilderreicher Sprache. Daran schließen sich im zweiten Buchteil Gerichtsworte über die Völker an (25–32).
Der dritte Buchteil (33–48) macht deutlich, dass Gott sein Volk nicht aufgegeben hat. Der Blick richtet sich auf die künftige Wiederherstellung Israels (33–39) und auf einen neuen Tempel (40–48). Dabei schildert die abschließende große Vision bis ins Detail, wie das Heiligtum aussehen wird und ausgestattet ist (vgl. dazu 2. Mose/Exodus 25–40). Auch die Verteilung des Landes unter den zwölf Stämmen Israels wird neu geregelt.
Bemerkenswert sind vor allem die Verbindungslinien, die zwischen dem ersten und dritten Buchteil, zwischen Gerichts- und Heilsverkündigung gezogen werden: Das Verstummen des Propheten (3,24-26) wird von Gott beendet (33,21-22), die Gerichtsankündigung über die Berge Israels (6,1-7) wird in eine Verheißung umgewandelt (36,1-15), das Ende Israels durch das Schwert (7,15-21) wird durch die Wiederbelebung seiner Toten aufgehoben (37,1-14), und die Herrlichkeit Gottes, die Jerusalem verlassen hat (8–11), kehrt in den neuen Tempel zurück (40–43).
Die Verkündigung Ezechiels beeindruckt durch ihre kühnen Bilder sowie durch ihre teilweise rätselhaften Botschaften und seltsamen Zeichenhandlungen (4–5; 12; 24). Typisch für den Propheten sind Bilderreden. In ihnen geht er mit der Stadt Jerusalem scharf ins Gericht. Sie wird als Frau vorgestellt, die sich schamlos der Hurerei hingegeben hat (16; 23). Bilder und Deutung fließen fast unmerklich ineinander. Ein wichtiges Thema ist auch die Frage nach der Wirkung menschlicher Schuld. Dabei stellt Ezechiel unmissverständlich klar, dass Kinder nicht für die Schuld der Väter haften. In jeder Generation wird jeder Einzelne für seine Vergehen zur Rechenschaft gezogen. Nur das Tun von Recht und Gerechtigkeit kann vor Schuld bewahren, die dann Strafe nach sich zieht (18,1-20).
Zu den Texten, die eine große Wirkung entfaltet haben, gehört die Vision von der Auferweckung der Toten auf dem Schlachtfeld (37,1-14). In ihr wird die Erneuerung Israels im Bild so dargestellt, dass die Knochen der Erschlagenen gesammelt, mit Fleisch und Haut überzogen und durch den Geist Gottes zu neuem Leben erweckt werden. Die Schilderung (37,9-10) zeigt bereits eine Nähe zu Texten, die sich mit Ereignissen am Ende der Zeit befassen. Hierzu gehört auch der Text von Gottes Sieg über Gog aus dem Land Magog (38–39). Darin geht es um einen geheimnisvollen Herrscher, der am Ende der Zeit zu einem letzten Kampf gegen Israel heranzieht. Im Neuen Testament wird in der Offenbarung des Johannes auf diesen Text Bezug genommen (Offenbarung 20,7-10).
Welche Faszination insbesondere von den Visionen des Ezechiel ausging, zeigt sich in der frühen Kirche. Ihre Bilddarstellung der vier Evangelisten geht auf die visionäre Schau des Thronwagens bei Ezechiel zurück (1,10): Der Mensch wird Matthäus zugeordnet, der Löwe Markus, der Stier Lukas und der Adler Johannes.
(BasisBibel. Altes und Neues Testament, © 2021 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart)