Deutsche Bibelgesellschaft

Abwesenheit Gottes (AT)

(erstellt: Januar 2009)

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1. Abwesenheit Gottes – nicht immer ein Problem

„Abwesenheit“ Gottes ist im Alten Testament und den Texten seiner Umwelt kein festgeprägter Begriff; wohl aber sind in diesen Texten Erfahrungen überliefert, die denen entsprechen, die heute unter diesem Begriff verhandelt werden. Daneben zeigen diese Texte aber auch, dass die Abwesenheit (eines) Gottes nur unter gewissen Glaubensvoraussetzungen als ein Problem erfahren wird. Kein (oder ein anderes) Problem etwa haben die „Atheisten“, die von Anfang an davon ausgehen, dass „kein Gott ist“ (אֵין אֱלֹהִים ’ên ’älohîm; Ps 10,4; Ps 14,1). Froh über die Abwesenheit Gottes sind die „Gottlosen“, müssen sie sich so doch keiner Strafen fürchten (Ps 94,7; Ez 8,12). Kein grundsätzliches Problem ist die (temporäre) Abwesenheit (eines) Gottes auch, wenn (dieser) Gott stark anthropomorph und entsprechend raum-zeitlich gebunden vorgestellt wird. Deutlich ist dies in den Mythen der Umwelt des Alten Testaments, in denen verschiedene Götter miteinander agieren und dabei etwa auch reisen oder sich zu einem Schläfchen zurückziehen können. Spuren dieses Denkens findet man im Alten Testament etwa in der Urgeschichte, wo mehrere Sätze zeigen, dass Gott nicht als omnipräsent vorgestellt wurde (vgl. Gen 3,8; Gen 3,16; Gen 6,12; Gen 11,5). Ähnliche Vorstellungen spiegeln sich auch in Texten, die von → Gottesbegegnungen an besonderen Orten und zu bestimmten Zeiten berichten (Gen 18,1-15; Ex 19,9ff), allem voran Texte wie Ex 29,43-45; Ex 40,34-38; Num 10,35f; 1Kön 8,10-13, nach denen → Gottes Gegenwart eng an sein → Heiligtum gebunden ist.

Weil Gottes Präsenz an einem bestimmten Ort nicht selbstverständlich ist, wird sie in den letztgenannten Texten auch als Ausdruck von Gottes Zugewandtheit zu den Seinen verstanden. Denkt man auf dieser Linie weiter und versteht (Erfahrungen von) Gottes Anwesenheit als Zeichen von Gottes Mitsein (Gen 28,15.20; Ex 3,12), dann wird das Fehlen von Erfahrungen rettender Gottesnähe zum Problem (Ri 6,13) – existentiell, weil sich der Mensch verlassen fühlt; theologisch, weil das Fehlen von Erfahrungen einer göttlichen Zugewandtheit als Ausdruck eines gestörten Gott-Mensch-Verhältnisses interpretiert wird. Niederschläge solcher Erfahrungen finden sich im Alten Testament gehäuft in den → Psalmen, im → Hiobbuch und in manchen Prophetenbüchern. Vergleichbare Aussagen sind auch in Mesopotamien zu finden (ebenfalls in der sogenannten Hiob-Literatur und in Klagen), auffälligerweise aber nur sehr selten in Ägypten (vgl. die Klagen der Auseinandersetzungsliteratur).

2. Sprachbilder

Wie bereits die beiden deutschen Begriffe „Abwesenheit“ und „Verborgenheit“ Gottes zeigen, können Erfahrungen der „Gottverlassenheit“ (d.h. das Fehlen von Erfahrungen rettender Gottesnähe) mit unterschiedlichen Sprachbildern beschrieben werden. Besonders häufig ist im Alten Testament die Rede davon, dass Gott sein „Gesicht verberge“ (סתר str Hif. + פנים pānîm; Hi 13,24; Ps 13,2; Ps 30,8; Ps 143,7; Jes 64,6). Damit verbunden sind Aussagen, wonach Gott auf das Elend der Seinen nicht reagiert (Ps 22,2-3), bzw. Bitten, Gott möge nicht „taub sein“ und „schweigen“ (Ps 35,22; Ps 39,13; Ps 83,2), sondern „hören / hinhören“ und „antworten“ (Ps 55,3; Ps 86,1.6; Ps 102,3; → hören). In Ps 35,23 und Ps 44,24 wird das Ausbleiben einer göttlichen Antwort mit dem Schlafen Gottes erklärt bzw. verbildlicht (→ Schlaf).

Neben der Rede vom „Gesicht verbergen“ finden sich im Alten Testament auch allgemeinere Formulierungen, wonach Gott sich selbst „verbirgt“ (Ps 10,1; Ps 55,2; Ps 89,47). Stärker noch um die Frage nach dem Ort Gottes geht es dort, wo davon gesprochen wird, dass Gott „fern“ (רחק rḥq) sei (Ps 10,1; Ps 22,2; Ps 35,22). Interessanterweise sprechen die Klagenden im Alten Testament die entsprechende „Wo-bist-Du?“-Frage nicht aus (vgl. aber Ps 89,50; Jes 63,11.15), sondern klagen lediglich, dass ihre Feinde ihnen diese Frage stellen (Ps 42,4; Ps 115,2) – obwohl es sonst als Zeichen der Gottlosigkeit gilt, dass niemand die Wo-Frage stellt (Hi 35,10; Jer 2,6.8). Dass Gott nicht (mehr) am gleichen Ort ist wie die Menschen, ist auch dort impliziert, wo Formulierungen mit „verlassen“ (עזב ‘zb) gebraucht werden (Ps 22,2; Ps 27,9; Jes 49,14). Im → Ezechielbuch wird diese Vorstellung konkret durchgedacht und davon berichtet, dass die → „Herrlichkeit“ JHWHs aus dem Tempel auszog (Ez 10,18; vgl. Ez 8,12; Ez 9,9; und als Wiedereinzug Ez 43,4).

Natürlich aber geht es bei diesem Auszug aus dem Heiligtum nicht primär um einen Ortswechsel, sondern um einen Akt, mit dem Gott die Seinen aufgibt. Neben Formulierungen mit „verlassen“ kann dieser Gedanke im Alten Testament auch anders ausgedrückt werden, etwa mit „vergessen“ (Ps 13,2; Ps 42,10; Ps 44,25) oder „verwerfen“ (Ps 27,9; Ps 71,9; Ps 74,1; Ps 88,15). Beinahe all diese (ähnlich auch in mesopotamischen Texten bezeugten) Sprachbilder benennen sowohl das Alleingelassensein des / der Klagenden als auch die Zurückweisung durch Gott; je nach Wortwahl und Kontext kann dabei das eine oder andere stärker betont sein.

3. Größere theologische Zusammenhänge

Weder in den mesopotamischen noch in den alttestamentlichen Texten wird abstrakt über die Abwesenheit / Verborgenheit Gottes reflektiert; als Klagen entwachsen entsprechende Aussagen vielmehr Notsituationen, in denen das Fehlen von Erfahrungen rettender Gottesnähe besonders empfindlich empfunden wird. Die Erwartung, dass Gott eigentlich da sein müsste, ist dabei so stark, dass Gott in der Regel direkt angesprochen wird – die Diskrepanz zwischen Form und Inhalt spiegelt die Diskrepanz von Erwartung und Realität.

Sowohl in den Psalmen wie auch den mesopotamischen Klagen wird diese Diskrepanz oftmals mit „Warum“- (Ps 10,1; Ps 22,2), „Wie lange“- (Ps 6,4; Ps 119,82 ) und anderen Fragen zum Ausdruck gebracht. Nicht selten spitzen sich solche Fragen zu Vorwürfen zu (Ps 13; Ps 44). Bereits in mesopotamischen Texten kann im Zusammenhang von Klagen über das Nichteingreifen Gottes aber auch von Gottes → Zorn und der Schuld des Klagenden die Rede sein. Im Alten Testament wird dieser Gedanke v.a. bei den Propheten aufgenommen: Auf der Linie des → Deuteronomismus (vgl. Dtn 31,17), erklären sie sich die Abwesenheit Gottes bzw. das Verlassensein des Volkes als Folge der → Sünde Israels (Jes 1,15; Jer 33,5; Ez 39,24). JHWH hört nicht mehr auf die Klagen seines Volkes, weil dieses nicht auf ihn gehört hat (Jer 2,13; Jer 14,11-11). Gott verlässt die Seinen, weil sie ihn verlassen haben (Jes 1,4; Jer 26,21).

Sowohl die Vorwürfe an Gott wie auch die Schuldeingeständnisse gehören in den Kontext der → Theodizeefrage: Gott wird dort als Abwesender / Verborgener erfahren, wo Gottes → Gerechtigkeit verborgen bleibt. Neben Klagen, Vorwürfen und Schuldeingeständnissen sind im Alten Testament und den Texten seiner Umwelt auch noch andere Möglichkeiten aufgezeigt, wie Menschen auf diese Verborgenheit (die auch als unheilvolle Präsenz erfahren werden kann, Hi 13,24; Hi 30,21) reagieren können. In der kritischen Weisheit wird auf die Verborgenheit der Weisheit (Hi 28,21) bzw. die beschränkte Erkenntnisfähigkeit des Menschen (Pred 8,16f) verwiesen und dazu geraten, sich mit der Ferne und Unerforschbarkeit Gottes zu arrangieren (Pred 5,1). In Ägypten (mit Ausnahme der → Aton-Hymnen der Amarnazeit) hat die Verborgenheit Gottes ihren festen Platz im theologischen Denken (→ Amun ist der „Verborgene“; die nächtliche Fahrt → Res durch die Unterwelt gehört zum Weltenlauf) und verliert damit einen Teil ihrer Bedrohlichkeit. Entsprechend wird sie in den → ägyptischen Hymen und Gebeten zwar thematisiert, aber nicht beklagt. Auch im Alten Testament finden sich Hinweise, dass die Verborgenheit Gottes als Teil von Gottes Wesen zu akzeptieren ist. So heißt es in Dtn 29,28, dass das Verborgene bei JHWH sei, und ist in Jes 28,21 vom „fremden Werk“ (Vulgata: opus alienum) Gottes die Rede. Die Spitzenaussage diesbezüglich bietet Jes 45,15, wo JHWH gleichzeitig als „ein sich verbergender Gott“ (Vulgata: deus absconditus) und „Retter“ angesprochen wird.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Stuttgart u.a. 1973ff. (סתר)
  • Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, 6. Aufl., München / Zürich 2004 (סתר)
  • Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2007
  • Neues Bibel-Lexikon, Zürich u.a. 1988-2001

2. Weitere Literatur

  • Balentine, S.E., A Description of the Semantic Field of Hebrew Words for „Hide“, VT 30, 1980, 137-153
  • Balentine, S.E., The Hidden God. The Hiding of the Face of God in the Old Testament, Oxford 1983
  • Block, D.I., Divine Abandonment. Ezekiel’s Adaption of an Ancient Near Eastern Motif, in: M.S. Odell / J.T. Strong (Hgg.), The Book of Ezekiel. Theological and Anthropological Perspectives (SBL Symposium Series 9), Atlanta 2000, 15-42
  • Burnett, J.S., The Question of Divine Absence in Israelite and West Semitic Religion, CBQ 67, 2005, 215-235
  • Friedman, R.E., The Hidden Face of God, New York 1995
  • Gerstenberger, E.S., „Warum hast du mich verlassen?“. Die Klage um die Gerechtigkeit Gottes im Alten Testament, in: U. Schoenborn / S.H. Pfürtner (Hgg.), Der bezwingende Vorsprung des Guten. Exegetische und theologische Werkstattberichte (FS W. Harnisch), Münster / Hamburg 1994, 64-78
  • Hermisson, H.-J., Der verborgene Gott im Buch Jesaja, in: ders., Studien zu Prophetie und Weisheit (FAT 23), Tübingen 1998, 105-116
  • Penchansky, D. / Redditt, P.L. (Hgg.), Shall not the Judge of all the Earth do what is Right? Studies on the Nature of God in Tribute to James L. Crenshaw, Winona Lake 2000
  • Perlitt, L., Die Verborgenheit Gottes, in: H.W. Wolff (Hg.), Probleme biblischer Theologie (FS G. von Rad), München 1971, 367 382
  • Widengren, W., The Accadian and Hebrew Psalms of Lamentation as Religious Documents. A Comparative Study, Stockholm 1937

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