Ätiologie
Andere Schreibweise: Aitiologie
(erstellt: September 2008)
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1. Der Begriff und seine Verwendung
Der Begriff Ätiologie leitet sich von dem griechischen Wort aitiología ab, das seinerseits auf die Elemente aitían légein mit der Bedeutung „den Grund“ oder „die Ursache“ einer Gegebenheit „nennen“ zurückgeht. Ätiologie hat es also mit der Untersuchung und Angabe von Ursachen und Gründen zu tun. Davon können die unterschiedlichsten Sachverhalte und Wissensgebiete betroffen sein.
Die Medizin, speziell die Klinische Psychologie und die Epidemiologie, versteht unter Ätiologie die Lehre von den Krankheitsursachen, die alle Faktoren, die zur Entstehung von Krankheiten führen, in den Blick nimmt.
In der griechischen Philosophie ist der Begriff spätestens seit Epikur (4. - 3. Jh. v. Chr.) bekannt. Er gebraucht den Ausdruck im Zusammenhang mit der Untersuchung der Himmelserscheinungen, verwendet ihn also kosmologisch. Der griechische Dichter Kallimachos (3. Jh. v. Chr.) stellt in seinen aίtia mythologische Gedichte über die Ursachen außergewöhnlicher Phänomene zusammen. Hier kommen Ätiologien der Sache nach zum ersten Mal im Sinne eines literarischen Genres in den Blick (Belege: Cancik-Lindemaier, 391).
Auch im Kultus und Mythos des Alten Vorderen Orients nehmen Ätiologien einen breiten Raum ein. Für Ägypten lassen sich ätiologische Elemente vor allem in den → Sargtexten
Eine religionsphilosophische Dimension gewinnt die ätiologische Fragestellung im vermutlich erst während der Amarnazeit (14. Jh. v. Chr.) entstandenen so genannten „Buch von der Himmelskuh“ (Hornung, 81). Die relativ umfangreiche Dichtung – wenigstens 330 Verse sind erhalten – weist einerseits zahlreiche ätiologische Einzelzüge auf und ist andererseits insofern als Ganze eine Ätiologie als sie versucht, den „unvollkommenen Zustand der Welt“ (aaO, 82) zu erklären. Man kann allerdings fragen, ob der Begriff Ätiologie für diesen ausgedehnten Beitrag zur Sinndeutung der Wirklichkeit tatsächlich passend gewählt ist.
2. Ätiologien im Alten Testament
2.1. Ältere Definitionen und ihre Revision
Der Ätiologie-Begriff der alttestamentlichen Wissenschaft hat sich lange an einem Frage-Antwort-Paradigma orientiert, das auch heute noch vielfach ungeprüft übernommen wird. Als Ausgangspunkt von Ätiologien erscheint bei diesem Verständnis immer eine ungeklärte Gegebenheit der jeweiligen Gegenwart eines Textes, die als offene Frage im Raum steht. Die Ätiologie wird entworfen, um die passende Antwort zu liefern. Bei den in Frage stehenden Phänomenen kann es sich im Prinzip um die unterschiedlichsten Tatbestände der menschlichen Lebenswirklichkeit handeln, insbesondere um soziale Konstellationen, die Namen von Personen, Völkern oder Orten, um kultische oder sonstige Bräuche und Vorschriften, um die Gebietsansprüche von Völkern oder Sippen oder auch um auffällige geologische Besonderheiten. Geradezu klassische Formulierungen des traditionellen Ätiologie-Konzeptes sind die im Verlauf der Forschungsgeschichte immer wieder aufgegriffenen Definitionen von Gunkel und Alt:
„Es gibt eine Fülle von Fragen, die ein antikes Volk beschäftigen. Das Kind schaut mit großen Augen in die Welt und fragt: warum? Die Antwort, die es sich selbst gibt, und mit der es sich bald beruhigt, ist vielleicht sehr kindlich, also sehr unrichtig und doch, wenn es ein gemütvolles Kind ist, fesselnd und rührend, auch für den Erwachsenen. Solche Fragen wirft auch ein antikes Volk auf und beantwortet sie, so gut es kann. Diese Fragen sind gewöhnlich auch dieselben, die wir selber stellen und in unseren wissenschaftlichen Disziplinen zu beantworten suchen.“ (Gunkel, XX).
„Denn wenn das Wesen einer ätiologischen Sage darin besteht, daß sie einen gegenwärtigen Tatbestand kausal aus einem Ereignis der Vergangenheit ableiten will, so ist zwar unbestreitbar der behandelte gegenwärtige Tatbestand eine Größe der historischen Wirklichkeit, hingegen gar nicht ausgemacht und aus der betreffenden Sage allein auch nicht auszumachen, ob das zur Erklärung erzählte Ereignis der Vergangenheit ebenfalls dem Bereich der historischen Wirklichkeit entnommen ist.“ (Alt, 185).
Solche Definitionen geben naturgemäß wenig Anlass zu einer optimistischen Beurteilung der Frage nach der historischen Zuverlässigkeit ätiologischer Texte. Zu deutlich herrscht der Eindruck vor, dass die Ätiologien gleichsam „erfunden“ worden sind, um dem Bedürfnis nach der Erklärung der Welt und der vielen Einzelerscheinungen in ihr Rechnung zu tragen. Ein ätiologischer Text – das deutet sich letztlich schon bei Alt an – darf aber nicht schon und allein deshalb für historisch zweifelhaft erklärt werden, weil er ätiologisch ist. Vielmehr sagt sein ätiologischer Charakter an sich überhaupt nichts über die Historizität der von ihm geschilderten Vorgänge aus. Es bleibt vielmehr von Fall zu Fall zu klären, ob ein entsprechender Text auf mythische oder geschichtliche Vorgänge Bezug nimmt und ob die geschichtlichen Vorgänge als solche denkbar oder unwahrscheinlich sind. Ist der jeweilige Text fiktiv gestaltet, oder lässt sich eine historische Verankerung für ihn plausibel machen? Bei alledem gilt es zu bedenken, dass eine allzu schroffe Unterscheidung zwischen mythischen und daher unhistorischen Ätiologien einerseits und geschichtlichen Ätiologien andererseits womöglich in der Gefahr steht, neuzeitliche Kategorien auf antike Texte anzuwenden und damit an der Grundintention von Ätiologien vorbeizugehen.
2.2. Formelhafte Wendungen aus ätiologischen Kontexten
Ätiologische Elemente sind zwar nicht immer, aber doch in vielen Fällen an bestimmten Sprachmustern zu erkennen. Besonders häufig begegnen relativ fest gefügte Formulierungsstrukturen im Zusammenhang mit Benennungen von Personen, Orten oder Kultstätten. Dabei lassen sich tendenziell bestimmte Schemata eruieren, die allerdings nicht immer in derselben scharf umrissenen Form erscheinen, sondern mannigfaltige Variationen aufweisen können.
Der wichtigste Typ beginnt mit der Formulierung „da nannte er den Namen von …“ (wajjiqrā’ šem …) und gibt dann den zu erklärenden Namen an. In vielen Fällen folgt ein Begründungssatz, der mit der Wendung kî ’āmar („denn er sprach“) oder auch nur mit der Konjunktion kî („denn“) eingeleitet wird:
„Da nannte er seinen Namen Gerschom (geršom), denn er sprach: ‚Ein Fremdling (ger) bin ich geworden in einem fremden Land‘.“ (Ex 2,22
„Da nannte Jakob den Namen des Ortes Pniel (pənî’el), ‚denn ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht (’älohîm pānîm ’æl pānîm) gesehen, doch mein Leben ist gerettet worden‘.“ (Gen 32,31
Wie das erste Beispiel besonders deutlich zeigt, ist die Verbindung zwischen dem Namen, der eingeführt wird, und der Begründung für die Wahl des Namens häufig volksetymologischer Natur. Das heißt, es werden zwei Begriffe – wie hier ger („Fremdling“; → Fremder
Ein weiteres Schema wird grundsätzlich durch die Wendung ‘al-ken („darum“) eingeleitet, worauf die Nennung des Namens folgt: „Darum nannte man ihren Namen ‚Mara‘.“ (Ex 15,23
Eine Formulierungsstruktur, die in ihrer ätiologischen Relevanz häufig überschätzt wurde und die den Ätiolgie-Begriff der älteren Forschung so einseitig geprägt hat, ist das Frage-Antwort-Schema, das sich beispielsweise in Jos 4,6b-7
„Wenn eure Kinder künftig fragen werden: ‚Was bedeuten euch diese Steine?‘, dann sollt ihr ihnen sagen: ‚Dass das Wasser des Jordans vor der Lade des Bundes JHWHs verschwand. Als sie durch den Jordan zog, verschwand das Wasser des Jordans. Und diese Steine sollen für die Israeliten zu einem Denkmal werden auf immer‘.“
Strukturell verwandte Passagen finden sich noch in Ex 12,26ff
Fraglich ist jedoch, ob das Frage-Antwort-Schema hier wirklich in allen Fällen einen im strengen Sinne ätiologischen Charakter aufweist (vgl. besonders Dtn 6,20ff
Eine formelhafte Wendung, die gern in Verbindung mit der Benennung von Orten, aber auch bezogen auf die Stiftung von Kultstätten oder Gedächtnismalen verwendet wird, ist das Adverbiale ‘ad hajjom hazzæh („bis zu diesem Tag“):
„Darum ist der Name der Stadt ‚Beer-Scheba‘ bis zu diesem Tag.“ (Gen 26,33b
„Und sie sind dort geblieben bis zu diesem Tag“. (Jos 4,9b
„Bis zu diesem Tag befindet sich der noch im Ofra der Abiesriten“. (Ri 6,24b
Die Stadt → Beerscheba
2.3. Ätiologische Erzählungen oder ätiologische Motive?
Ein wichtiger Schritt in der Geschichte der Erforschung der ätiologischen Elemente des Alten Testaments war die Erkenntnis, dass nicht jede ätiologische Textkomponente zwangsläufig auf eine ätiologische Sage schließen lässt. Wir müssen vielmehr grundsätzlich zwischen solchen Erzählungen, die als ganze ätiologisch ausgerichtet sind und bloßen ätiologischen Motiven unterscheiden (vgl. Westermann, 1964, 39-47). Viele ätiologische Stoffe stehen nicht im Zentrum der Textpragmatik einer Erzählung, sondern begleiten die größere Einheit nur als Motiv. Erzählungen weisen für gewöhnlich einen Spannungsbogen auf (→ Erzählende Gattungen
In Gen 22
Die von kultischen Auseinandersetzungen geprägte Erzählung in Ri 6,25-32
2.4. Das Wesen der Ätiologie
Ätiologische Stoffe dienen im Alten Testament in den seltensten Fällen lediglich der Beantwortung einer schlichten Warum-Frage. Das gilt bereits für untergeordnete ätiologische Motive, erst recht jedoch für größere ätiologisch geprägte Einheiten.
Die so genannte Erzählung vom Turmbau zu Babel in Gen 11,1-9
Bei der Abfassung der Erzählung von Gideons Berufung in Ri 6,11-24
Die Beispiele aus Gen 11
Literaturverzeichnis
1. Lexikonartikel
- Lexikon der Ägyptologie, Wiesbaden 1975-1992
- Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1977-2004
- Neues Bibel-Lexikon, Zürich u.a. 1991-2001
- The Anchor Bible Dictionary, New York 1992
- Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Freiburg i.Br. 1993-2001
- Eerdmans Dictionary of the Bible, Grand Rapids 2000
- Calwer Bibellexikon, Stuttgart 2003
- Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament, Darmstadt 2006
2. Weitere Literatur
- Alt, A., 3 Aufl. 1963, Josua (1936), in: Ders., Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel, Band 1, München, 176-192
- Cancik-Lindemaier, H., 1988, Art. Ätiologie (Aitiologie), HRWG 1, 391-394
- Golka, F.W., 1976/1977, The Aetiologies in the Old Testament, VT 26, 410-428; VT 27, 36-47
- Gunkel, H., 8. Aufl. 1969, Genesis, Göttingen
- Hornung, E., 2. Aufl. 1991, Der ägyptische Mythos von der Himmelskuh. Eine Ätiologie des Unvollkommenen (OBO 46), Freiburg Schweiz / Göttingen
- Long, B.O., 1968, The Problem of Etiological Narrative in the Old Testament (BZAW 108), Berlin
- Scherer, A., 2005, Überlieferungen von Religion und Krieg. Exegetische und religionsgeschichtliche Untersuchungen zu Richter 3-8 und verwandten Texten (WMANT 105), Neukirchen-Vluyn
- Seebass, H., 1996, Genesis I. Urgeschichte (1,1-11,26), Neukirchen-Vluyn
- Seebass, H., 1997, Genesis II. Vätergeschichte I (11,27-22,24), Neukirchen-Vluyn
- Settgast, J., 1975, Art. Ätiologie. Ätiologische Mythen, LÄ 1, 80-83
- Van Dyk, P.J., 1990, The Function of So-Called Etiological Elements in Narratives, ZAW 102, 19-33
- Westermann, C., 1964, Arten der Erzählung in der Genesis, in: Ders., Forschung am Alten Testament. Gesammelte Studien (TB 24), München, 9-91
- Westermann, C., 4. Aufl. 1999, Genesis 1-11 (BK I/1), Neukirchen-Vluyn
Abbildungsverzeichnis
- Die ägyptische Himmelskuh (Grab Sethos’ I.; 1313-1292 v. Chr.). Aus: H. Gressmann, Altorientalische Bilder zum Alten Testament, Berlin / Leipzig 2. Aufl. 1927, Abb. 265
- Abrahams Gastmahl und Opferung Isaaks (Mosaik in San Vitale in Ravenna; 6. Jh.).
- Der Turmbau zu Babel (Peter Bruegel d. Ä.; 1563).
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