Akrostichon
(erstellt: Januar 2007; letzte Änderung: Mai 2013)
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Akrostichon (ἄκρον „Spitze“ und στίχος „Vers“) bedeutet „Versspitze / Versanfang“. Der Begriff bezeichnet ein Gedicht, in dem die Anfangsbuchstaben bzw. -zeichen der einzelnen Zeilen senkrecht gelesen ein Wort, einen Satz oder auch nur eine bestimmte Regelmäßigkeit ergeben. Eine besondere Form des Akrostichons bilden Alphabetgedichte. In ihnen ergeben die Anfangsbuchstaben der einzelnen Zeilen das → Alphabet
1. In der akkadischen Literatur
Aus Mesopotamien sind uns mehrere, zum Teil allerdings nur fragmentarisch erhaltene Akrosticha bekannt. Das älteste sicher datierbare Akrostichon stammt aus dem 7. Jh. Die Anfangszeichen ergeben den Satz: „Ich bin Assurbanipal, der dich rief! [Verleih mir Le]ben, Marduk, und ich will dein Lobpreis singen“ (TUAT II, 765-768). Wie bei diesem Hymnus, so handelt es sich bei den meisten mesopotamischen Akrosticha um Gebete. Das gilt jedoch nicht für den bekanntesten akrostichischen Text, die sog. „Babylonische Theodizee“ (7. Jh.), in der die 11 Verse aller 27 Strophen jeweils mit demselben Zeichen beginnen und die Zeichen der Strophen eine Selbstvorstellung ergeben: „Ich, Sangil-kinam-ubbib, der Beschwörer, der den Gott und den König segnend grüßt“ (TUAT III, 143-157; zu weiteren Beispielen, auch aus Ägypten s. Brug, 293-304). Die Besonderheit der mesopotamischen Akrosticha liegt darin, dass die syllabischen Keilschriftzeichen, die häufig mehrere Lautwerte darstellen können, senkrecht und waagerecht gelesen oft unterschiedliche Silben bezeichnen. Das zeigt, dass die Akrostichie akustisch nicht wahrnehmbar war. Sie ist für das Auge geschaffen.
2. Im Alten Testament
2.1. Texte mit Alphabet-Akrostichie
Das Alte Testament enthält vierzehn Alphabetgedichte, die verschiedenen literarischen Gattungen angehören, und zwar keineswegs nur weisheitlichen. In Ps 37
▪ Klgl 2
▪ Nah 1,2-8
▪ Ps 9f bietet eine Fülle von Problemen, z.B. fehlen Zeilen mit den Anfangsbuchstaben ד, מ, נ, ס, צ, zudem steht פ vor ע.
▪ In dem individuellen Klagelied Ps 25 beginnen die ו- und die ק-Zeile mit anderen Buchstaben und am Ende findet sich eine zusätzliche פ-Zeile.
▪ In dem Loblied Ps 34
▪ In Ps 145
Ansonsten sind noch zu nennen: Sir 51,13-30
Besonders häufig steht פ vor ע: Klgl 2
Was es mit dieser abweichenden Reihenfolge auf sich hat, lässt sich kaum sagen. Eine Absicht ist jedoch nicht zu erkennen. Um ein Versehen der Dichter oder früher Abschreiber handelt es sich kaum, da die Akrostichie nur Sinn macht, wenn sie konsequent durchgeführt wird. Nach einer rabbinischen Tradition (Midrasch zu Klgl 2,16
2.2. Der Sinn der Alphabet-Akrostichie
In der älteren Forschung wurde die Akrostichie oft als „Künstelei“ geschmäht. So schreibt Hedwig Jahnow 1923 im Blick auf die → Klagelieder Jeremias
Doch welche Funktion hat die Akrostichie? Diese Frage stellt sich insbesondere bei den Klageliedern Jeremias, da hier ein auffallender Widerspruch besteht zwischen der spontanen Ergriffenheit der Dichter in der Situation der Not (vgl. z.B. Klgl 2,11f
Verschiedene Erklärungen stehen zur Diskussion:
1) Allegorische Auslegung sah hinter den einzelnen Buchstaben wie hinter ihrer Reihenfolge eine mystische Bedeutung, die eine tiefere himmlische Wahrheit offenbart. So schreibt → Hieronymus
2) Die Kunstform hat eine ästhetische Funktion (Westermann, 91). Sie dient der Ausschmückung. Mit ihr wollte der Dichter seine Gelehrtheit und sein poetisches Talent unter Beweis stellen oder zur Ehre Gottes ein möglichst vollkommenes Gedicht schaffen (vgl. Westermann, 91; Salters, 20f; Diller, 216f). Aufmerksamen Lesern bietet er in der Akrostichie zudem eine Gelegenheit zur stolzen Entdeckerfreude.
3) Nachdem der Altphilologe Albrecht Dietrich (ABC-Denkmäler 86f.95.104f.) 1901 für viele Alphabet-Schriften der antiken Welt eine magisch-apotropäische Funktion hatte aufzeigen wollen, erwog die ältere religionsgeschichtliche Forschung eine solche auch für die entsprechenden biblischen Texte (Löhr, 195f).
4) P.A. Munch plädiert für eine pädagogische Funktion. Die alphabetischen Akrosticha seien – jedenfalls zunächst – für einen ganz praktischen Zweck geschrieben worden. Sie sollten im Schreibunterricht an Schulen als Mustertexte dienen. Belegen lässt sich diese These jedoch nicht, ja es scheint sehr unwahrscheinlich, dass man für den Schulunterricht ausgerechnet Klagelieder gedichtet haben soll.
5) Vielfach hat man der Akrostichie eine mnemotechnische Funktion zugeschrieben. Die Abfolge der Buchstaben soll beim Auswendiglernen eine Gedächtnisstütze bieten. Carr (125) betrachtet die Alphabet-Akrostichie als Indiz dafür, dass die Texte lange Zeit auswendig gelernt mündlich tradiert worden sind. Dagegen sprechen jedoch die vielen oben genannten Abweichungen vom Alphabet, z.B. die Unsicherheit in der Reihenfolge von ע und פ, und die mehrfachen Wiederholungen desselben Buchstabens in Ps 119
6) Nach Renkema hat die Akrostichie im Buch der Klagelieder Jeremias eine strukturelle Funktion (→ Klagelieder Jeremias
7) Nach Emmendörffer (Gott 63) soll die Akrostichie den Sprecher zum Weiterreden bewegen, ja sie erzwingt das Sprechen, „wo das Stummbleiben näherliegt, aber keine theologische Option ist“ (vgl. Bail, 59-61).
8) Vermutlich zielt die alphabetische Akrostichie auf eine inhaltliche Aussage. Die Frage ist jedoch: Welche?
a) Nach Assis (715-721) soll die Akrostichie signalisieren, dass es sich bei den Klageliedern Jeremias nicht um spontane Herzensergüsse handelt, sondern um reflektierte Texte mit einer Botschaft.
b) Das Alphabet soll – wie vielfach erkannt wurde – als Symbol von Totalität dem Gedanken der Vollständigkeit Ausdruck geben. Der Verfasser will andeuten, dass er sein Thema vollständig behandelt und alles von A-Z bzw. – wie die rabbinische Tradition sagt (z.B. Talmud Traktat Shabbat 55a; Text Talmud
c) Im Zentrum steht wohl ein anderer Aspekt: Die Klagelieder Jeremias beklagen größte Not, den Zusammenbruch all dessen, was der Gesellschaft wie dem Einzelnen Ordnung, Halt und Zuversicht schenkt. Die Alphabet-Akrostichie soll in dieser Situation andeuten: Es gibt noch Ordnung! Diese Ordnung fällt beim Hören nicht auf, ist vielleicht sogar beim Lesen je nach Schriftbild nicht auf den ersten Blick evident, aber sie ist vorhanden und bestimmt alles. Der Leser muss – wie bei dem Fenster von Gerhard Richter im Kölner Dom – nur genau hinschauen, dann wird er sie entdecken. Die Form transportiert insofern zumindest in den Klageliedern Jeremias – auf Spr 31 etc. lässt sich dieser Aspekt nicht übertragen – eine heilvolle Aussage, vielleicht sogar eine Zusage und bietet damit Lebenshilfe. In allem Chaos gibt es durchaus Ordnung, und insofern will man „das scheinbar grenzenlose Chaos poetisch … bannen“ (Albertz, 128). Gerade nach der Zerstörung Jerusalems konnten und mussten – wie nach Auschwitz – wieder Gedichte geschrieben werden.
Literaturverzeichnis
1. Lexikonartikel
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- Calwer Bibellexikon, Stuttgart 2003
2. Weitere Literatur
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