Deutsche Bibelgesellschaft

Annalen (AT)

(erstellt: Juli 2017)

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Als Annalen, abgeleitet von lateinisch annus „Jahr“, bezeichnet man nach Jahren gegliederte Geschichtsaufzeichnungen. Das annalistische Darstellungsprinzip ist vor allem für einen Teil der römischen Geschichtsschreibung (Annalistik) charakteristisch und seit dem Mittelalter als Form verschiedener Chroniken (z.B. Klosterchroniken) weit verbreitet. Allerdings lässt sich das vor allem in den mittelalterlichen Annalen zum Ausdruck kommende primär archivarische Interesse nicht ohne Weiteres auf antike Geschichtsdarstellungen übertragen. Wenn auch gelegentlich nach Jahreseinheiten strukturiert, sind sie doch zumeist kein Archivmaterial, sondern z.B. Königsinschriften, Weihetexte, Bauinschriften o.ä. mit je eigener Pragmatik. Im Alten Orient, in Ägypten oder auch im Blick auf mögliche israelitische oder judäische „Annalen“ im Hintergrund der Geschichtsdarstellung im Alten Testament kann der Begriff also nur in einem formalen Sinne, d.h. bezogen auf nach Jahreseinheiten gegliederte Darstellungen, und nicht im qualifizierten Sinne der späteren Annalenliteratur verwendet werden.

1. „Annalen“ in der Umwelt des Alten Testaments

1.1. Sogenannte Annalen und Tagebücher in Ägypten

Annalen 1
Das üblicherweise mit „Annalen“ wiedergegebene ägyptische gnwt bezeichnet jahresmäßig geordnete Aufzeichnungen von Ereignissen (z.B. Angaben zur Höhe der Nilflut, religiöse Feste, Götterstiftungen, seltener auch historische Notizen). Gebräuchlich waren derartige Aufzeichnungen vor allem im Alten Reich, womöglich dienten sie auch zur Festlegung von Jahresnamen, die in Ermangelung einer übergreifenden Jahreszählung u.a. für administrative Zwecke notwendig waren. Als ein Beispiel derartiger gnwt gilt der sog. Palermostein, der – soweit rekonstruierbar – für die Könige der ersten fünf Dynastien (bis ca. 2350 v. Chr.) Ereignisse, vor allem Tempelstiftungen, für jedes Jahr ihrer Herrschaft festhielt. Obwohl sich auch in späteren Texten Verweise auf gnwt finden, scheint die im Palermostein greifbare Aufzeichnungspraxis später nicht fortgeführt worden zu sein (Redford, 1986).

Annalen 2
Im Mittleren Reich sind dann für administrative Zwecke sog. Tagebücher (hrwjt) belegt, die an Institutionen wie Königshof, Tempel, Nekropolenverwaltung u.ä. oder von privaten Individuen geführt wurden und zur tagesgenauen Aufzeichnung wirtschaftlicher und administrativer Vorgänge oder auch politischer Ereignisse (Feldzüge, Eroberungen u.ä.) dienten. Auf derartigen Aufzeichnungen beruhen z.B. die sog. Annalen → Thutmoses III. (1479-1425 v. Chr.), eine umfängliche Inschrift im Annalensaal des Amun-Tempels in Karnak, die detailliert über 16 Feldzüge des Pharao nach Asien berichtet (teilweise übersetzt in TUAT NF 2, 212-220). Die Darstellung folgt einem chronologischen Gerüst, wobei nicht nur das jeweilige Regierungsjahr, sondern auch Monat und Tag eines Ereignisses genannt werden. Die Form einer Monumentalinschrift im Tempel und die wiederkehrenden Auflistungen von Amun gewidmeter Kriegsbeute weisen auch diese „Annalen“ als nicht im engeren Sinne historiographisch aus; sie zielen in ihrer Pragmatik vielmehr auf die Verherrlichung von Erfolg und Frömmigkeit des Pharao.

1.2. Hethitische Annalenwerke

Unter den hethitischen historischen Texten können einige im oben genannten weiteren Sinne als Annalen gelten. Darunter sind „Annalen Hattuschilis I.“ (ca. 1580-1550 v. Chr.), von denen Fassungen in hethitischer und akkadischer Sprache in Tontafelabschriften aus dem 13. Jh. v. Chr. belegt sind (übersetzt in TUAT I, 455-463). Ursprünglich handelte es sich wohl um eine Weihinschrift, in der von den Eroberungen des Königs und der Übergabe der gewonnenen Beute an verschiedene Tempel berichtet wird. Als gliederndes Element fungiert die wiederkehrende Phrase „im folgenden Jahr“, die dem Text sein annalistisches Gepräge verleiht. Strukturell vergleichbar, wenn auch deutlich detaillierter, sind die „Ausführlichen Annalen“ Murschilis II. (ca. 1349-1320 v. Chr.), bzw. die Darstellung der ersten Dekade seiner Herrschaft in den „Zehn-Jahr-Annalen“ (TUAT I, 471-480) oder der ebenfalls aus der Perspektive Murschilis verfasste „Tatenbericht des Schuppiluliuma“ (TUAT NF 2, 147-150). Inhaltlich konzentrieren sich auch diese Texte auf Feldzüge und Eroberungen. Die Zehnjahresannalen sind ausweislich von Prolog und Epilog als Rechenschaftsbericht gegenüber der Sonnengöttin Arinna bzw. als Dank für ihre Unterstützung gestaltet, so dass auch hier eher die Legitimation der Königs und der Ausweis seiner Frömmigkeit als archivarische Interessen im Vordergrund stehen.

1.3. Assyrische und Babylonische Königsinschriften

Annalen 3
Auch assyrische Kommemorativinschriften weisen gelegentlich eine nach Jahren geordnete Darstellungsweise auf, d.h. sie sind entweder nach Jahresnamen / Eponymaten, bei denen ein Jahr nach einem wichtigen Staatsmann benannt wurde (limmu, für Eponymenlisten vgl. TUAT NF 2, 31-34), oder – ab Salmanasser III. (858-824 v. Chr.) – nach der Zählung der Regierungsjahre des Königs (palû) strukturiert. Die Bezeichnung Annalen, obgleich gelegentlich verwandt, ist jedoch auch in diesem Fall missverständlich, da das chronologische Raster mehr literarisches Mittel als grundlegendes Strukturprinzip ist und als solches auch kein allgemeines Charakteristikum von Kommemorativinschriften darstellt. Es wurde wohl vor allem dann angewandt, wenn es dem jeweiligen Darstellungsinteresse diente – etwa dem für die Königsideologie und Herrscherlegitimation bedeutsamen Nachweis, dass der betreffende König in jedem Jahr einen erfolgreichen Feldzug absolviert hat – und konnte zu diesem Zwecke auch angepasst werden. So weicht etwa die Zuordnung von Feldzügen und Regierungsjahren Salmanassers III. auf dem Schwarzen Obelisken (in Auszügen übersetzt in TUAT I, 362-363) gelegentlich von den Angaben der Eponymenchronik ab und kaschiert so, dass es auch Jahre ohne Feldzüge gab (Yamada, 2000). Zudem bleibt die Darstellung zumeist auf Feldzüge beschränkt, weitere Ereignisse des betreffenden Jahres werden nicht genannt. Neben den Inschriften Salmanassers III. sind jahrweise strukturierte Darstellungen u.a. bei Tiglat-Pileser I (vgl. TUAT NF 2, 53-61) oder im neubabylonischen Bereich mit der Nabonid-Chronik belegt. Letztere ist nicht auf Feldzüge focussiert, sondern die jahrweise Struktur ergibt sich aus der Feststellung der Teilnahme oder Nicht-Teilnahme des Königs am Neujahrsfest in Babylon (vgl. TUAT NF 2, 40-41).

2. Die „Annalen“ der Könige von Israel bzw. Juda

In den → Königsbüchern wird im Abschlussformular des Königsrahmens immer wieder auf das „Tagebuch“ (סֵפֶר דִּבְרֵי הַיָּמִים sefær divrê hajjāmȋm) der Könige von Israel bzw. Juda (vgl. 1Kön 14,19; 1Kön 15,7 u.a.) als Quelle verwiesen, in der sich weitere Nachrichten über die betreffenden Könige finden würden. Traditionell vermutete man hinter diesen Verweisen an den Königshöfen in Jerusalem bzw. Samaria geführte amtliche bzw. Hof-Annalen, die der Verfasser der Königsbücher direkt oder vermittelt über andere Werke benutzt habe und auf die ein Großteil der für einzelne Könige überlieferten historischen Notizen sowie Teile der chronologischen Daten im Königsrahmen zurückgehen (Noth, 1967, 73; Fohrer, 1979, 107; neuerdings wieder Knauf, 2016, 90-91; vgl. Hardmeier, 1990; Levin, 2011). Mit der Feststellung, dass sich die Annahme von mit historisch-archivarischem Interesse geführten Annalen im Alten Orient kaum belegen lässt (vgl. Van Seters, 1984, 299f.; Na’aman, 2006, 129-134), ist diese klare Identifikation fraglich geworden. Gegenwärtig stehen daher (sofern die Verweise tatsächlich als referentiell und nicht primär als rhetorisches Mittel verstanden werden, so etwa Stott, 2008; vgl. Leuchter, 2010), was den Charakter und Gehalt dieser Quellen betrifft, vorwiegend andere Textgattungen wie Königslisten oder Königschroniken und ihre altorientalischen Analogien zur Diskussion (grundlegend Bin-Nun, 1968; für aktuelle Debatten vgl. Thomas, 2014).

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Paulys Realencyclopädie, Stuttgart 1893-1978
  • Reallexikon der Assyriologie und vorderasiatischen Archäologie, Berlin 1928ff
  • Biblisch-historisches Handwörterbuch, Göttingen 1962-1979
  • Der Kleine Pauly, Stuttgart 1964-1975 (Taschenbuchausgabe, München 1979)
  • Lexikon der Ägyptologie, Wiesbaden 1975-1992
  • Der Neue Pauly, Stuttgart / Weimar 1996-2003

2. Weitere Literatur

  • Adam, K.-P., 2010, Warfare and Treaty Formulas in the Background of Kings, in: K.-P. Adam / M. Leuchter (Hgg.), Soundings in Kings. Perspectives and Methods in Contemporary Scholarship, Minneapolis, 35-68
  • Bin-Nun, S., 1968, Formulas from Royal Records of Israel and of Judah, VT 18, 414-432
  • Cancik, H., 1976, Grundzüge der hethitischen und alttestamentlichen Geschichtsschreibung (ADPV), Wiesbaden
  • Fohrer, G., 12. Aufl. 1979, Einleitung in das Alte Testament, Heidelberg
  • Grayson, A.K., 1987, Assyrian Rulers of the Third and Second Millennia BC (to 1115 BC) (The Royal Inscriptions of Mesopotamia, Assyrian Periods I), Toronto
  • Grayson, A.K., 1991.1996, Assyrian Rulers of the Early First Millenium BC (The Royal Inscriptions of Mesopotamia, Assyrian Periods I), Toronto
  • Grayson, A.K., 1975, Assyrian and Babylonian Chronicles (TCS V), Locust Valley
  • Güterbock, H.G., 1983, Hittite Historiography. A Survey, in: H. Tadmor / M. Weinfeld (Hgg.), History, Historiography and Interpretation (Studies in Biblical and Cuneiform Literatures), Jerusalem, 21-35
  • Hardmeier, C., 1990, Umrisse eines vordeuteronomistischen Annalenwerks der Zidkijazeit. Zu den Möglichkeiten computergestützter Textanalyse, VT 40, 165-184
  • Hoffner, H.A., 1980, Histories and Historians of the Ancient Near East. The Hittites, OrNS 40, 283-332
  • Leuchter, M., 2010, The Sociolinguistics and Rhetorical Implications of the Source Citations in Kings, in: K.-P. Adam / M. Leuchter (Hgg.), Soundings in Kings. Perspectives and Methods in Contemporary Scholarship, Minneapolis, 119-134
  • Levin, C., 2011, Das synchronistische Exzerpt aus den Annalen der Könige von Israel und Juda, VT 61, 616-628
  • Knauf, E.A., 2016, 1 Könige 1-14 (HThK.AT), Freiburg / Basel / Wien
  • Na’aman, N., 2006, The Temple Library of Jerusalem and the Composition of the Book of Kings, in: A. Lemaire (Hg.), Congress Volume Leiden 2004 (VTS 109), Leiden / Boston, 129-152
  • Noth, M., 3. Aufl. 1967, Überlieferungsgeschichtliche Studien. Die sammelnden und bearbeitenden Geschichtswerke im Alten Testament, Darmstadt
  • Redford, D.B., 1986, Pharaonic King-Lists, Annals and Day-Books. A Contribution to the Study of the Egyptian Sense of History, Mississauga
  • Redford, R., 2003, The Wars in Syria and Palestine of Thutmose III, Leiden
  • Stott, K.M., 2008, Why Did They Write This Way? Reflections on References to Written Documents in the Hebrew Bible and Ancient Literature (Library of Hebrew – Old Testament Studies 492), London
  • Tadmor, H., 1977, Observations on Assyrian Historiography, in: M.D. Ellis (Hg.), Essays on the Ancient Near East in Memory of J.J. Finkelstein, Hamden, 209-213
  • Thomas, B.D., 2014, Hezekiah and the Compositional History of the Book of Kings (FAT II 63), Tübingen
  • Van Seters, John, 1984, In Search of History. Historiography in the Ancient World and the Origins of Biblical History, New Haven / London
  • Veenhof, K.R., 2001, Geschichte des Alten Orients bis zur Zeit Alexander des Großen (GAT), Göttingen
  • Wilkinson, T.A.H., 2000, Royal Annals of Ancient Egypt. The Palermo Stone and Its Associated Fragments, London u.a.
  • Yamada, S., 2000, The Construction of the Assyrian Empire. A Historical Study of the Inscriptions of Shalmanesar III (859-824 B.C.) Relating to His Campaigns to the West (CHANE 3), Leiden / Boston / Köln

Abbildungsverzeichnis

  • Der sog. Palermostein. Aus: Wikimedia Commons; © public domain; Zugriff 11.10.2017
  • Annalensaal Thutmoses’ III. (Nordwand). Aus: Wikimedia Commons; © public domain; Zugriff 11.10.2017
  • Schwarzer Obelisk Salamanassers III. Mit Dank an © The Trustees of the British Museum; BM 118885

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