Deutsche Bibelgesellschaft

Antijudaismus (AT)

in der alttestamentlichen Wissenschaft

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(erstellt: Januar 2007; letzte Änderung: Juni 2009)

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1. Einleitung

1.1. Eingrenzung des Themas

Das Thema „Antijudaismus in der alttestamentlichen Wissenschaft“ ist so umfassend, dass hier nur eine Schneise geschlagen werden kann. Dies soll an Hand der deutschen primär protestantischen Psalmenkommentare des 19. und 20. Jahrhunderts geschehen. Überblicksartikel zum Thema gibt es meines Wissens bisher keine (s. jedoch Bauer, 2009).

1.2. Die Begriffe „Antijudaismus“ und „Antisemitismus“

Unter Antijudaismus verstehe ich im Folgenden eine primär religiös, genauer christlich-theologisch begründete Judenfeindschaft im Gegensatz zu Antisemitismus als einer primär nationalistisch-rassistisch begründeten. Eine strikte Trennung zwischen Antijudaismus und Antisemitismus ist jedoch nicht möglich, weil beides sich für Juden in der Praxis negativ auswirkte und auswirkt (vgl. von Braun, 8f). Deshalb können die Adjektive antijudaistisch und antisemitisch nur akzentuell verwendet werden, mit antijüdisch als Oberbegriff.

1.3. Antijudaistische Modelle

In Kommentaren zum Alten Testament begegnen klassische Modelle des christlichen Antijudaismus, die Israel oder das Judentum negativ bewerten (Klappert, 12):

a) das Substitutionsmodell (die Kirche ersetzt Israel, s. 4.),

b) das Typologiemodell (Israel als Vorabbildung der Kirche, s. 4.),

c) das Illustrationsmodell (Israel als Negativfolie der Kirche, vgl. Abramowski, II, 136),

d) das Subsumtionsmodell (Israel löst sich in der Menschheit auf),

e) ein religionsgeschichtliches Modell (vgl. de Wette, 1813-16, s. 3.1.), das zwischen vorexilischem Hebraismus oder Israel (positiv) und nachexilischem Judaismus oder Judentum (negativ) unterscheidet und Ersterem natürliche Religiosität, Spiritualität und lebendige prophetische Wortfrömmigkeit zuerkennt (hieran knüpft die Kirche an), Letzterem jedoch nur noch verholzte Gesetzlichkeit und tote Buchstabenfrömmigkeit, und

f) die Ahasveruslegende (s. 6.).

2. Die Sprache des Antijudaismus

In den Kommentaren finden sich antijüdische Sprach- und Stilmittel, wie sie N. Hortzitz im Deutschen von der Frühen Neuzeit bis in die NS-Periode analysiert hat. Gemeint sind primär einzelne Wörter und Phrasen mit ihren Konnotationen, Gefühlswerten, impliziten Appellen und Assoziationsfeldern, die die suggestive Kraft der Polarisierung (Fremd-Eigen-Zeichnung) besitzen und den Leser / Hörer oft unbewusst wertend beeinflussen (Hortzitz, 19ff). Im Folgenden nenne ich für jedes Stilmittel mindestens ein Beispiel, zum Teil für spezifisch antijudaistische Begriffe, Bezeichnungen oder häufig vorkommende Wortfelder, wie „Gesetzlichkeit“ (Juden vertrauen auf ihre Werke), Begriffe mit „-sucht / -süchtig“ als zweiter Wortkomponente (Assoziation Krankheit), „Weltherrschaft“ (traditioneller Mythos der Judenfeindschaft), „Rache / Vergeltungslehre“ (negative Assoziation), „Partikularismus“ (Judentum nur als Nationalreligion), „Spätjudentum“ (nachexilisches Judentum als Auslaufmodell) und Sonstige:

Ironie: „mit ihm [dem Psalm] könnte man einen Ketzer eher mürbe machen als mit sämtlichen sieben Bußpsalmen [Ps 119]“ (Duhm, 2. Aufl., 427; → Duhm).

Affektive Wort(neu)bildungen: „nomistische Diesseitsreligion“ (Duhm, XXIX), „Lohnsucht“ (Duhm, XXVIII), „Selbstsucht [Ps 26,1]“ (König, 618), „unterchristlich [Ps 32]“ (Duhm, 95), „Judas Rachedurst [Ps 137,7-9]“ (Kittel, 467).

Hyperbeln: a) steigernde Adjektive: „peinliche Gesetzesbefolgung [Ps 19,14]“ (Duhm, 63), „schauerliche Wildheit [Ps 149]“ (Schmidt, 257), „mechanische Vergeltungslehre“ (Duhm, XXVIII); b) affektive Wortreihen: „Ein Erdenrest der Zeit bleibt das ausgesprochen herrschsüchtige Ideal einer gewaltsamen, ganze Völker mit eiserner Keule zerschlagenden Weltmacht. [Ps 2]“ (Bertholet, 121); „die Gegner in leidenschaftlichen, von Zorn und unsäglicher Geringschätzung durchzuckten Worten … beschrieben [Ps 17,14]“ (Kittel, 58), „stark äußerlich-nationale Denkweise [Ps 68]“ (Kittel, 251), „der blinden Wut grausamer Rachegefühle [Ps 69,23-30]“ (Weiser, 337), „von wildem Feindeshaß durchglüht [Ps 109]“ (Bertholet, 241), „noch nicht jene Entartung und Erstarrung zur Buchstabenreligion aufweist, der sie im Spätjudentum erlegen ist [Ps 119]“ (Weiser, 510); c) Zahlenhyperbel: „glücklich über ein Gesetz, ein System von tausend Regeln [Ps 19,13]“ (Duhm, 63); d) Superlative: „die peinlichste Gesetzestreue [Ps 44,18]“ (Baethgen, 127), „wildester Rachlust [Ps 109,6-20]“ (Kittel, 396), „die Pharisäer und Schriftgelehrten, die Verfechter der extremsten Vergeltungslehre [Ps 73]“ (Duhm, 193).

Synekdochen: „wie der Spott der Völker ringsum dem stolzen Juden am Herzen frißt [Ps 79,12]“ (Gunkel, 349).

(Pflanzen-)Metaphern: „religiöse[n] und nationale[n] Treibhauspflanze [= das nachexilische Judentum]“ (Abramowski, I, 204).

Sonstige: „Es wird ja jetzt wieder rabbinischer Aberwitz für geistreich gehalten, und das Gegentheil des Geschmackes und der gesunden Vernunft darf sich spreizen als Wissenschaft.“ (Hitzig, I, IV).

3. Antijudaistisch interpretierte Psalmengattungen

3.1. Torapsalmen

Die drei klassischen Torapsalmen sind Ps 1, Ps 19B und Ps 119. Antijudaismen finden sich vor allem in den Kommentierungen des 1. Psalms, der gleich im V. 2 die Gelegenheit bietet, das Thema „Gesetz“ zu behandeln. Die Kommentare lassen sich zwei verschiedenen antijudaistischen Interpretationsmodellen zuordnen. Nach dem ersten Modell (Minderheit) wird Ps 1 selbst positiv verstanden, d.h. dem Hebraismus zugerechnet. Der Psalm ist daher offen für eine christliche Vereinnahmung und wird tatsächlich vereinnahmt. Juden hingegen wird abgesprochen, dem theologischen Niveau des Psalms in Theorie und Praxis gerecht werden zu können, weil sie sich in der „religio des Nomismus“ (Duhm, 3) verharrend der christlichen Wahrheit versperren. Nach dem zweiten Modell (Mehrheit) wird Ps 1 negativ als ein Produkt des nachprophetischen Judaismus verstanden. In logischer Konsequenz verbiete sich daher „die vorbehaltlose Aneignung des Inhalts von Ps 1“ (Duhm, 5). Wie im ersten Modell wird gegenüber dem als sittlich und äußerlich charakterisierten jüdischen Entwicklungsstand der Religion der christliche, geistigere und innerlichere als der qualitativ höherwertige angesehen.

3.2. Königspsalmen

Die drei klassischen Königspsalmen sind Ps 2, Ps 72 und Ps 110. Antijüdisch ist ein Perspektivwechsel von der „Weltherrschaft“ JHWHs hin zur jüdischen „Weltherrschaft“, die zu den traditionellen Vorurteilen und Mythen der Judenfeindschaft zählt (s. Piper). Das Problem zeigt sich exemplarisch an Duhms Argumentation zu Ps 2, der den Psalm zunächst zu Recht theokratisch interpretiert: „Die Vorstellung ist völlig theokratisch. Israels eigentlicher König ist der Himmelsherr, Israels Reich das Reich Gottes oder des Himmels, der König Jahwes Stellvertreter auf Erden, dem alle Welt unterthan sein sollte.“ (Duhm, 6). Dann jedoch in seinem Resümee verschiebt sich die Perspektive überraschend: „Das Reich Gottes, das zwar durch das nahe bevorstehende Gericht erst völlig realisiert werden wird, ist doch nur die Steigerung der gegenwärtigen Zustände und der bisherigen Erfolge über die Nachbarvölker, es besteht wesentlich in der Herrschaft der Juden über die ganze Welt. Mehr ist jedenfalls nicht gesagt; höchstens kann man zwischen den Zeilen lesen, dass Jahwe in mehr oder weniger direkter Weise die Regierung der Welt vom Zion aus leiten wird: doch macht das Gedicht mehr noch einen politisch-weltlichen, als einen eigentlich theokratischen Eindruck.“ (Duhm, 10f). Die Herrschaft der Juden über die ganze Welt ist nun aber gerade nicht die Vorstellung des Psalms, wie Duhm zuvor selbst geschrieben hat.

3.3. Feindpsalmen

Die drei klassischen Feindpsalmen sind Ps 69, Ps 109 und Ps 137 (weitere kommen hinzu). Die meisten Antijudaismen finden sich in deren Auslegung und ranken sich um den Begriff „Rache“ sowie weitere teils affektiv mit Rache kombinierte Begriffe wie „Rachepsalmen“, „Rachegebet“, „Racheakt“, „Rachegefühle“, „Racheruf“, „rachefordernd“, „Racheverlangen“, „Rachewunsch“, „Rächer“, „Racheschrei“, „Rachelust“, „Rachsucht“, „Rachedurst“, „rachedurstig“, „Rachgier“, „rachgierig“, „Rachbegierde“, „Rachevollstreckung“ und „racheglühend“. Diese Begriffe werden in Bezug auf menschliche Wünsche und Befindlichkeiten sowie in Bezug auf eine Handlungsweise, die von Gott erbeten oder die Gott zugeschrieben wird, gebraucht. Rache hat im Deutschen einen negativen Klang, der die Bedeutung der hebräischen Wörter נקם nqm und נקמה nəqāmāh (7-mal im Psalter) nur ungenügend wiedergibt (besser wäre „Vergeltung / Ahndung“). „Rache“ steht in einem antijudaistischen Kontext, der seinen Ursprung bereits bei Markion (2. Jh.) hat (→ Bibelauslegung, christliche). Er „schied aufs schärfste zwischen dem Gott des NT, der die Liebe und das Erbarmen ist, und dem Gott des AT, dem Weltschöpfer (Δημιουργóς) und Judengott, der gerecht ist nach dem Worte ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn‘.“ (Heussi, 51). Markions implizite Charakterisierung des „Gottes des Alten Testaments “ als eines Gottes der Rache fiel mit der Zeit wie ein Schatten auch auf die Juden, die in Analogie zu ihrem Gott als rachsüchtig charakterisiert wurden. Ein Beispiel von vielen ist das Verständnis von Ps 79,12: „Und auf unsere Nachbarn lass siebenfach zurückfallen die Schmach, mit der sie dich schmähten, Herr.“ Der Wunsch basiert auf einem Rechtsprinzip. Das Prinzip wird in einem „staatsübergreifenden, völkerrechtlichen Zusammenhang von der klagenden Gemeinde von ihrem Gott eingefordert bzw. ihm anheimgestellt als dem für Recht verantwortlichen ‚König der Völker‘.“ (Seybold, 315). Der Kontext des Psalms ist somit im weitesten Sinn das Recht und seine Durchsetzung. → De Wette jedoch erkennt einen „rachgierige[n] Rückblick auf die Nachbarn“ (465), Duhm „fürchterliche Rachgier“ (Duhm, 2. Aufl., 311), die „menschlich begreiflich“ (Duhm, 2. Aufl., 311) sei, und Bertholet stellt fest: „Die Ethik des Psalmes ist uneingeschränkte Rachelust.“ (Bertholet, 208). Drei weitere Beispiele zeigen, dass Juden auch etwas „Wildes“, „Ungezähmtes“, „Tierhaftes“ unterstellt wird – eine Strategie der Entmenschlichung. So heißt es bei Weiser zu Ps 54,8f.: „Menschlicher Eigenwille und seine [sc. des Beters] niedrigen Instinkte der Rachsucht und Schadenfreude behalten die Macht über seine Gedanken“ (282). Betholet meint im Blick auf Ps 109, der Beter sei „von wildem Feindeshass durchglüht“ (241), und Kittel spricht zu Ps 137,7-9 von „grimmiger und blutdürstiger Rachgier“ (467).

3.4. Weisheitspsalmen

„Rache“ vergleichbar kommen die Begriffe „Vergeltungslehre“, „-glauben“, „-dogma“, „-schema“, „-theorie“, „-anschauung“ und „-auffassung“ in den Kommentaren häufig vor. Die grundsätzlichsten Argumente dazu begegnen im Kontext der Weisheitspsalmen 37 (49) und 73. Bereits 1955 hat K. Koch jedoch gezeigt, dass es im Alten Testament keine Vergeltungslehre gibt (→ Vergeltung). Wo üblicherweise von der Vergeltung JHWHs gesprochen werde, handle es sich in Wirklichkeit um einen immanenten → Tun-Ergehen-Zusammenhang, genauer um eine schicksalswirkende Tatsphäre, in der JHWH allenfalls als eine Art Katalysator wirke (Janowski). Eine Vergeltungslehre habe sich entwickeln können, weil in der LXX hebräische Wörter, die die schicksalswirkende Tatsphäre beschreiben, mit griechischen übersetzt wurden, die dem Wortfeld „vergelten“ angehören (שׁוב šwb Hif. und שׁלם šlm Pi. => ἀντιδίδωμι antidídōmi und ἀποδίδωμι apodídōmi). Dadurch sei der Zusammenhang zwischen Gottes Verhalten gegenüber dem Menschen und dem menschlichen Tun und Ergehen juristisch verstanden worden. Die „Vergeltungslehre“ bietet sich denjenigen Exegeten als ideale Ergänzung an, die die „Gesetzlichkeit“, „Selbstgerechtigkeit“, „Äußerlichkeit“, „Beschränktheit“ usw. des (nachexilischen) Judentums behaupten. Duhm bringt diese Verbindung auf den Punkt, wenn er von der „Lohnsucht“ spricht, „die durch die mechanische Vergeltungslehre groß gezogen wird“ (XXVIII). Vielleicht noch deutlicher heißt es bei Bertholet: Es ist „geradezu ein Charakterzug jüdischer Frömmigkeit: man rechnet Gott das eigene Verhalten vor, um ihn zur Gegenleistung zu veranlassen.“ (148). Die Rede von der mechanischen Vergeltungslehre mit ihren „grausame[n] und abstoßende[n] Konsequenzen“ (Kittel, 49) offenbart das Gottesbild ihrer Vertreter: Gott ist der „Vergelter“ (Kittel, 70), eine Vorstellung, die wiederum gut dazu passt, dass Gott auch als der „allmächtige Rächer“ (Hitzig, II, 130) gesehen wird. So schließt sich der Kreis: Gott ist ein Gott der Rache und der Vergeltung, entsprechend wird sein Volk, die Juden, als rachgierig (3.3.) und lohnsüchtig charakterisiert.

4. Das Typologiemodell

Das gattungsübergreifende Typologiemodell arbeitet mit heilsgeschichtlichen Analogien zwischen Altem und Neuem Testament und enthält als konstitutives Element die Steigerung. Psalmen, die häufig typologisch interpretiert werden, sind die Königspsalmen Ps 2, Ps 45, Ps 72, Ps 110, die Feindpsalmen Ps 69, Ps 109 sowie Ps 22. Die Königspsalmen Ps 2, Ps 72, Ps 110 werden in der Regel so gedeutet, als bezögen sie sich auf die geistliche Herrschaft des Messias Jesus über die Welt als barmherziger König und gerechter Richter. Ps 45 wird allegorisch auf Jesus als messianischen König bezogen, der sich mit der Königstochter (= Israel) und den Jungfrauen (= Völker) vermählt. Die Feindpsalmen Ps 69, Ps 109 und der Klagepsalm Ps 22 werden so interpretiert, als antizipierten die in der Bedrängnis Klagenden Jesus, den leidenden Gerechten. Das Typologiemodell funktioniert dann antijudaistisch, wenn bestimmte alttestamentliche Fakten, Personen, Handlungen, Ereignisse usw. exklusiv auf entsprechende neutestamentliche hin interpretiert werden, z.B. wenn es bei Hengstenberg zu Ps 24 heißt: „Daraus folgt auch, dass die in der älteren Zeit sehr verbreitete messianische Deutung des Psalmes ein bedeutendes Element der Wahrheit in sich hatte. Das Kommen Gottes zu seinem Reiche geschah ja bei der Erscheinung Christi unendlich reeller, als wie da die Bundeslade einzog. Jene niedere Begebenheit war nur der Schatten, der Leib aber war in Christo.“ (Hengstenberg, II, 78). Eine solche heilsgeschichtlich-typologische Zuordnung von Altem und Neuem Testament steht in der Gefahr, Israel theologisch zu ersetzen (Substitutionsmodell) und damit praktischer Judenfeindschaft Vorschub zu leisten.

Psalmengattungsübergreifend finden sich indirekte Antijudaismen auch in einigen Kommentaren zu Psalmen, in denen die Völker eine Rolle spielen (Ps 24 / Ps 25, Ps 87, Ps 100, Ps 117). Die traditionelle antijüdische Vorstellung ist die, dass das Judentum eine partikulare Nationalreligion sei, das Christentum dagegen eine universalistische Menschheitsreligion (Subsumtionsmodell). Diese Sicht verschließt sich von vornherein wichtigen Aussagen vieler Psalmen, nämlich der positiven Rolle, die die Völker haben, weil jüdische Autoren sie ihnen zuweisen.

5. Katholische und jüdische Psalmenkommentare im Vergleich zu protestantischen

Antijudaismus 1

Im Vergleich zu den 24 in der Tabelle aufgelisteten protestantischen Kommentaren finden sich in den 9 im Literaturverzeichnis genannten katholischen Kommentaren bei oberflächlicher Betrachtung quantitativ wesentlich weniger Antijudaismen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass diese Kommentare, die alle in heilsgeschichtlich-typologischer Tradition stehen, weniger antijudaistisch wären. Einige Ausführungen von Wiesmann / Zenner zur Bedeutung des Psalters sind entlarvend: „Das Ideal eines kirchlichen Gesangbuches hat er gewiß nicht erreicht, aber wenn man diese Liedersammlung mit den Leistungen der christlichen Kirche vergleicht, muß man sie als ein für jene Zeit ganz bewunderungswürdiges Werk anerkennen. Endlich ist der Psalter in den Dienst der christlichen Gemeinde übergegangen. … So ist er denn ein Trost- und Erbauungsbuch für die Christen aller Zeiten und aller Zonen geworden.“ (I, 10). Mit anderen Worten, seit und neben der Kirche kann es eigentlich keine jüdische Gemeinschaft mehr geben, in der der Psalter eine Rolle spielt. Die Kirche hat Israel so selbstverständlich substituiert, dass darüber kein Wort mehr verloren zu werden braucht. Antijudaismen, die zumindest noch von einer Auseinandersetzung zeugen, sind gar nicht mehr notwendig, weil das Judentum eine prinzipiell vergangene Größe ist.

In den drei jüdischen Kommentaren finden sich erwartungsgemäß keine Antijudaismen. Ehrlich lässt an wenigen Stellen jedoch erkennen, dass er einem negativen Pharisäerklischee verhaftet ist (9, 378).

6. Die Ahasveruslegende

In je einem protestantischen und einem katholischen Kommentar findet sich die Ahasveruslegende. In ihr geht es um einen Juden namens Ahasverus, der Jesus in der Stunde seiner Not zurückgewiesen haben soll. Zur Strafe sei diesem Juden, der als Verkörperung aller Juden anzusehen ist, ewige Wanderschaft auferlegt worden, die schon sehr früh mit dem unsteten Wandern in Verbindung gebracht wurde, zu dem Gott Kain in Gen 4,12 verurteilt (vgl. Pfister, 11). Bei Abramowski heißt es so: „Was wir aus der nachexilischen Zeit noch hören, ist eben nur dies, daß hier keine Geschichte Gottes mit seinem auserwählten Volk mehr vorliegt; … Die Geschichte des Volkes im Alten Testament ist nichts an sich Gültiges. … Mit seinem Fall ist das Volk des Alten Testaments nicht beseitigt, sondern gewandelt. Es zieht nun unter der Last seiner Vergangenheit als ein ausgestoßenes Volk durch die Welt. Über ihm liegt eine tiefe Melancholie.“ (I, 240f). Noch massiver schreibt Kalt: „Das Volk muß auch für die Schuld seiner Väter büßen, die es in einem Geist erzogen hatten, der zur Ablehnung des wahren Messias führen mußte; es muß büßen für die Schuld jener, die beim Tode Jesu den Fluch des unschuldig vergossenen Bluts auf sich und ihre Kinder herabgerufen haben. Die Schuld des Messiasmordes lastet auf dem ganzen Volk, wie die Schuld Adams auf allen Menschen liegt; darum wird sie nicht getilgt, sondern erbt sich fort von Geschlecht zu Geschlecht, und mit der Schuld vererbt sich auch der Fluch, bis auch für Israel die Stunde der Gnade geschlagen hat.“ (Kalt, 403f). Mit diesen antijudaistischen und antisemitischen Klischees der Juden als der ewig unsteten Fremdlinge und der Messiasmörder sowie dem Diktum der Bestrafung aller Generationen der Juden und der Substitution Israels durch die Kirche übertrifft der Kommentar Kalts noch den von Abramowski, und es ist sicher kein Zufall, dass die beiden Kommentare 1935 bzw. 1938/39 erschienen sind.

Literaturverzeichnis

1. Protestantische Psalmenkommentare

Zitiert ist immer nach der Auflage, die nicht in Klammern steht; Ausnahmen sind im Text signalisiert.

  • Abramowski, R., 1938/39, Das Buch des betenden Volkes, Psalmen I, Das Buch des betenden Gottesknechts, Psalmen II (BAT XIV/XV), Stuttgart
  • Baethgen, F., 1892 (2. Aufl. 1897 [bearb.], 3. Aufl. 1904 [nochmals bearb.]), Die Psalmen (HK), Göttingen
  • Bertholet, A., 4. Aufl. 1923, Das Buch der Psalmen, in: E. Kautzsch, Die Heilige Schrift des Alten Testaments, II, Tübingen, 113-276
  • Delitzsch, F., 4. bearb. Aufl. 1883 (1. Aufl. 1859/60 [2 Bd.], 2. Aufl. 1867 [2 Bd., neue Ausarbeitung], 3. Aufl. 1873 [2 Bd.], 5. Aufl. 1894), Biblischer Commentar über die Psalmen, Leipzig
  • Duhm, B., 1899 (2. Aufl. 1922 [bearb.]), Die Psalmen (KHC XIV), Tübingen
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  • Schultz, F.W. / Strack, H., 1888, Die Psalmen und die Sprüche Salomos (KK.AT VI), Nördlingen
  • Seybold, K., 1996, Die Psalmen (HAT I/15), Tübingen
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2. Katholische Psalmenkommentare

  • Bonkamp, B, 1949, Die Psalmen nach dem hebräischen Grundtext, Freiburg
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  • Groß, H. / Reinelt, H., 1978/80, Das Buch der Psalmen, I-II (GSL.AT 9/1-2), Düsseldorf
  • Herkenne, H., 1936, Das Buch der Psalmen (HSAT V/2), Bonn
  • Kalt, E., 1935, Die Psalmen (HBK VI), Freiburg
  • Leimbach, K. A., 3./4. Aufl. 1921/22, Biblische Volksbücher. Ausgewählte Teile des alten Testaments. Die Psalmen, I-II, Fulda
  • Nötscher, F., 1. Aufl. 1947 (6. Aufl. 1962), Die Psalmen (EB I), Würzburg
  • Peters, N., 1930, Das Buch der Psalmen, Paderborn
  • Wiesmann, H. / Zenner, J. K., 1906/07, Die Psalmen nach dem Urtext, I: Übersetzung und Erklärung, II: Sprachlicher Kommentar, Münster

3. Jüdische Psalmenkommentare

  • Ehrlich, A. B., 1905, Die Psalmen, Berlin
  • Hirsch, S. R., 1. Aufl. 1883 (2. Aufl. 1898, 3. Aufl. 1934), Die Psalmen, I-II, Frankfurt/M.
  • Graetz, H., 1882/83, Kritischer Commentar zu den Psalmen, I-II, Breslau

4. Sekundärliteratur

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  • Pfister, R., 1985, Von A bis Z. Quellen zu Fragen um Juden und Christen, 2. Aufl., Neukirchen-Vluyn
  • Piper, E., 1999, „Die jüdische Weltverschwörung“, in: J. Schoeps / J. Schlör (Hgg.), Bilder der Judenfeindschaft. Antisemitismus, Vorurteile und Mythen, Augsburg, 127-135
  • Schreckenberg, H., 4. Aufl. 1999, Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte und ihr literarisches und historisches Umfeld (1.-11. Jh.), Frankfurt/M. / Berlin
  • von Braun, Ch. / Heid, L. (Hgg.), 1990, Der ewige Judenhass. Christlicher Antijudaismus. Deutschnationale Judenfeindlichkeit. Rassistischer Antisemitismus, Stuttgart / Bonn
  • Wette, W.M.L. de, 1813-16, Biblische Dogmatik Alten und Neuen Testaments, oder kritische Darstellung der Religionslehre des Hebraismus, des Judenthums und Urchristentums, I-II, Berlin

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