Baum der Erkenntnis / Baum des Lebens
(erstellt: März 2015)
Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/14696/
→ Adam und Eva
1. Terminologie und alttestamentlicher Befund
Einen „Baum der Erkenntnis“ (עֵץ הַדַּעַת ‘eṣ hadda‘at), immer ergänzt durch „von Gut und Böse“ (טוֹב וָרָע ṭôv wārā‘), kennt die Bibel nur in Gen 2,9.17
Bezogen auf die biblische Urgeschichte in Gen 2-3 präsentiert die Frau nach den Bäumen von Erkenntnis und Leben jedoch nur einen „Baum in der Mitte des Gartens“ (Gen 3,3
2. Mythologischer Hintergrund
2.1. Baum der Erkenntnis
Die sprachliche Komplexität des Ausdrucks wie auch die Verteilung der Belege zeigen, dass der „Baum der Erkenntnis von Gut und Böse“ nicht auf einer älteren, vielleicht außerbiblischen Tradition beruht, sondern aus der Erzählung heraus entwickelt ist (so z.B. Witte 81). Entsprechend gibt es für einen Erkenntnisbaum auch keine wirklich überzeugenden altorientalischen Parallelen. Traditionsgeschichtlich gesehen ist – gottgleich machende (Gen 3,5.22
2.2. Baum des Lebens
Andererseits finden sich unter der Leitidee „Leben“ seit frühester Zeit altorientalische Texte, die vermisstes bzw. ersehntes „Leben / ewiges Leben“ thematisieren. Ganz besonders intensiv tut dies das → Gilgameschepos
Man vgl. dazu die Gilgamesch-Sage nach dem 12-Tafel-Epos. Zum Kontext: Zur Erlangung ewigen Lebens ist der Held Gilgamesch an verschiedenen Prüfungen gescheitert. Was Gilgamesch durch das Bestehen von Prüfungen nicht zu erlangen vermochte, bekommt er dann ganz unvermittelt angeboten und verpasst es tragisch: Utnapischtim, der Sintflutmensch mit dem ewigen Leben, hat Erbarmen und tut Gilgamesch das Geheimnis des Lebenskrautes kund.
Als Gilgamesch dies hörte, / öffnete er einen [großen] Gr[aben], / band schwere Steine [an seine Füße], / die zogen ihn auf [den Grund des] Apsu hinab. / Er nahm das Kraut, obwohl es [ihm in die Hand] st[ach], / schnitt die schweren Steine [von seinen Füßen], / (und) die Flut trieb ihn ans Ufer. / Gilgamesch sprach zu ihm, zu Urschanabi, dem Fährmann:
„Urschanabi, dies Kraut ist das Kraut gegen (meine) Verzweiflung, / durch das der Mensch sein Leben erlangt. / Ich will es nach Uruk... bringen, um das Kraut zu essen zu geben und zu erproben. / Sein Name ist ‚Als Greis wird der Mensch jung’. Ich werde es essen und so meine Jugendhaftigkeit zurückerlangen!“
Nach 20 Meilen brachen sie etwas Brot, / nach 30 Meilen legten sie ein Nachtlager an. / Dann sah Gilgamesch einen Brunnen, dessen Wasser kühl war. / Er stieg in ihn hinab, um sich mit dem Wasser zu waschen. / Eine Schlange roch den Duft des Krautes, / kam [unbemerkt] herauf und trug das Kraut weg; / bei ihrer Rückkehr warf sie die Haut ab. / [An] dem Tag setzte Gilgamesch sich weinend, / über sein Antlitz laufen seine Tränen.
(Tafel XI Z. 270ff; zitiert nach TUAT III,4, 672ff)
Tatsächlich erlangt der Heros also nicht ewiges Leben, wird aber gleichwohl durch seine Erfahrungen zum herausragenden Weisen schlechthin, zudem hat das Gilgamesch-Epos einen kräftigen Einschlag zum positiv besetzten Thema → Sexualität
3. Sind beide Bäume in Gen 2-3 ursprünglich?
Trotz mancher neuerer Bestreitungen spricht nichts dagegen, dass Gen 2-3 im Prinzip einer (spät)vorexilischen Quelle entstammt, vielfach → Jahwist
Möglicherweise ist der jetzt vorliegende Text in Gen 2-3 nicht einheitlich. Das liegt allerdings nicht daran, dass der auffällig lange Satzzusammenhang in Gen 2,9
Dieses dreifache Problem lässt sich u.a. dadurch auflösen, dass man das singularische hebräische „Baum“ (עֵץ ‘eṣ) in Gen 3,3
Dass die Sperrung nur der Mitte des Paradieses auch so hätte ausgedrückt werden müssen, erwartet von den Formulierungen des Textes vielleicht doch zu viel Präzision. Außerdem ist das Erzählziel die völlige „Vertreibung aus dem Paradies“, denn sonst würde der Übergang zur soziokulturellen Realität der vorderen Levante und würden damit die → Ätiologien
Man könnte schließlich bei Gen 2,17
Im Blick auf alle diese Gesichtspunkte ist eine literarhistorische Erklärung also nicht unbedingt notwendig. Andere Spannungen in den beiden Kapiteln machen es aber doch möglich, dass hinter den Inkonsistenzen ein Wachstum des Textes Gen 2-3 steckt, ausgehend von einem Grundtext mit ursprünglich nur einem Baum, wobei der Einbau traditioneller Motive bzw. literarische Überarbeitungen Uneindeutigkeiten erzeugt haben. Die diesbezüglichen Theorien gehen so weit, dass der eine Baum womöglich sogar weder der Erkenntnisbaum noch der eigentliche Lebensbaum gewesen sei, sondern ein nicht näher bezeichneter Baum „in der Mitte“, der ggf. auch der vom Lebensbaum zu unterscheidende Weltenbaum gewesen sein könnte (Pfeiffer 2001, 14-15), doch bleibt das eine schwierige Hypothese. Ansonsten gibt es für die jeweilige Priorität von Lebensbaum (die seltenere Annahme) oder Erkenntnisbaum (die häufigere Annahme) Argumente, die auch davon abhängen, ob Gen 3,1-6
4. Weitere Gesichtspunkte zum Verständnis der beiden Bäume in Gen 2-3
Ganz offenkundig überlagern sich in Gen 2-3 im Zusammenhang der Bäume mindestens drei Themenkreise: Das Thema Leben und Unsterblichkeit, das Thema Erkenntnis in einem kognitiv-ethischen Sinne und auch das Thema Erkenntnis in einem sexuellen Sinn (anders z.B. Witte 80).
Dass das Thema Leben / Unsterblichkeit gerade mit Bäumen, noch dazu mit Fruchtbäumen verbunden ist, ist angesichts der Erfahrung levantinischer Menschen mit ihren Bäumen überhaupt nicht erstaunlich: Bäume, besonders Olivenbäume, aber z.B. auch Dattelpalmen, werden deutlich älter, als der Mensch es je erreichen kann (vgl. Jes 65,22
Dass der „Baum der Erkenntnis von Gut und Böse“ auf umfassendes Wissen und angesichts der Erweiterung „Gut und Böse“ speziell auf ein ethisches Unterscheidungsvermögen zielt, ist mit Blick auf Stellen wie Dtn 1,39
Beim Stichwort „Erkenntnis“, „Erkennen“ ist im Kontext von Gen 2-4 (vgl. Gen 4,1
Das Motiv „üppiger Baum“, verbunden mit sexuellen Ausschweifungen ist im Übrigen auch ein rekurrentes Motiv besonders in den Prophetenbüchern (Jes 57,5
5. Neues Testament
Literaturverzeichnis
1. Lexikonartikel
- Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Stuttgart u.a. 1973ff
- Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1977-2004
- Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, 5. Aufl., München / Zürich 1994-1995
- Neues Bibel-Lexikon, Zürich u.a. 1991-2001
- The Anchor Bible Dictionary, New York 1992
- Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Freiburg i.Br. 1993-2001
- Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2007
- Calwer Bibellexikon, Stuttgart 2003
- Herders Neues Bibellexikon, Freiburg 2008
- Wörterbuch alttestamentlicher Motive, Darmstadt 2013
2. Weitere Literatur
- Bauks, M., 2011, Text- and Reception-Historical Reflections on Transmissional and Hermeneutical Techniques in Genesis 2-3, in: Th.B. Dozeman / K. Schmid / B.J. Schwartz (Hgg.), The Pentateuch. International Perspectives on Current Research (FAT 78), Tübingen, 139-168.
- Baumann, G., 1996, Die Weisheitsgestalt in Proverbien 1-9. Traditionsgeschichtliche und theologische Studien (FAT 16), Tübingen.
- Blum, E., 2004, Von Gottunmittelbarkeit zur Gottesähnlichkeit. Überlegungen zur theologischen Anthropologie der Paradieserzählung, in: G. Eberhardt / K. Liess (Hgg.), Gottes Nähe im Alten Testament (SBS 202), Stuttgart, 9-29.
- Bührer, W., 2014, Am Anfang... Untersuchungen zur Textgenese und zur relativ-chronologischen Einordnung von Gen 1-3 (FRLANT 256), Göttingen 2014.
- Crüsemann, F., 2009, Essen und Erkennen (Gen 2f.). Essen als Akt der Verinnerlichung von Normen und Fähigkeiten in der hebräischen Bibel, in: M. Geiger / Chr. Maier / U. Schmidt (Hgg.), Essen und Trinken in der Bibel. Ein literarisches Festmahl (FS R. Kessler), Gütersloh, 85-100.
- Forti, T., 2011, The Polarity of Wisdom and Fear of God in the Eden Narrative and in the Book of Proverbs, BN NF 149, 45-57.
- Gerhards, M., 2013, Conditio humana. Studien zum Gilgameschepos und zu Texten der biblischen Urgeschichte am Beispiel von Gen 2-3 und 11,1-9 (WMANT 137), Neukirchen-Vluyn, 246-259 zu „Erkenntnis von Gut und Böse“.
- Hartenstein, F., 2009, „Und weit war seine Einsicht“ (Gilgamesch I,202). Menschwerdung im Gilgamesch-Epos und in der Paradieserzählung Genesis 2-3, in: M. Geiger / Chr. Maier / U. Schmidt (Hgg.), Essen und Trinken in der Bibel. Ein literarisches Festmahl (FS R. Kessler), Gütersloh, 101-115.
- Krispenz, J., 2004, Wie viele Bäume braucht das Paradies? Erwägungen zu Gen II 4B – III 24, VT 54, 301-318.
- Levin, Chr., 1993, Der Jahwist (FRLANT 157), Göttingen.
- Michel, A., 1997, Theologie aus der Peripherie. Die gespaltene Koordination im Biblischen Hebräisch (BZAW 257), Berlin / New York.
- Pfeiffer, H., 2000, Der Baum in der Mitte des Gartens. Zum überlieferungsgeschichtlichen Ursprung der Paradieserzählung (Gen 2,4b-3,24). Teil I, ZAW 112, 487-500.
- Pfeiffer, H., 2001, Der Baum in der Mitte des Gartens. Zum überlieferungsgeschichtlichen Ursprung der Paradieserzählung (Gen 2,4b-3,24). Teil II, ZAW 113, 2-16.
- Rottzoll, D.U., 1997, Die Schöpfungs- und Fallerzählung in Gen 2f. Teil 1: Die Fallerzählung (Gen 3), ZAW 109, 481-499.
- Rottzoll, D.U., 1998, Die Schöpfungs- und Fallerzählung in Gen 2f. Teil 2: Die Schöpfungserzählung, ZAW 110, 1-15.
- Sæbø, M., 2012, Sprüche (ATD 16,1), Göttingen.
- Schellenberg, A., 2011, Der Mensch, das Bild Gottes? Zum Gedanken einer Sonderstellung des Menschen im Alten Testament und in weiteren altorientalischen Quellen (AThANT 101), Zürich.
- Schüle, A., 2006, Der Prolog der hebräischen Bibel. Der literar- und theologiegeschichtliche Diskurs der Urgeschichte (Genesis 1-11) (AThANT 86), Zürich.
- Wagner-Tsukamoto, S., 2012, The Tree of Life. Banned or not Banned? A Rational Choice Interpretation, SJOT 26, 102-122.
- Witte, M., 1998, Die biblische Urgeschichte. Redaktions- und theologiegeschichtliche Beobachtungen zu Genesis 1,2-11,26 (BZAW 265), Berlin / New York.
Abbildungsverzeichnis
- Eine Schlange, die vor ihrer Verfluchung noch Beine hatte, verführt Adam und Eva, vom Baum der Erkenntnis zu essen (Hugo van der Goes, ca. 1470 n. Chr.).
- Von Capriden flankierter Baum als Symbol von Fruchtbarkeit und Leben (Rollsiegel aus Megiddo; 14. Jh. v. Chr.). Aus: O. Keel / S. Schroer, Schöpfung. Biblische Theologien im Kontext altorientalischer Religionen, Freiburg / Göttingen 2002, Abb. 30; © Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz
PDF-Archiv
Alle Fassungen dieses Artikels ab Oktober 2017 als PDF-Archiv zum Download:
Abbildungen
Unser besonderer Dank gilt allen Personen und Institutionen, die für WiBiLex Abbildungen zur Verfügung gestellt bzw. deren Verwendung in WiBiLex gestattet haben, insbesondere der Stiftung BIBEL+ORIENT (Freiburg/Schweiz)