Bibelauslegung, Epochen der christlichen
(erstellt: Januar 2006)
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Die Geschichte der christlichen Bibelauslegung setzt den aus Altem und Neuem Testament gebildeten Doppelkanon der Heiligen Schrift voraus (→ Bibel
Der Prozess der Kanonisierung der biblischen Schriften als Vorgeschichte der christlichen Auslegung der Bibel hat seinerseits eine Vorgeschichte, die bis in die Entstehung der alttestamentlichen Überlieferungen selbst zurückreicht. Neben die Glaubensaussage tritt naturgemäß die Reflexion über sie; die Auslegung des als heilig und maßgebend (kanonisch) erfahrenen Wortes beginnt früh; nicht erst bei der Weitergabe an andere; und auch nicht erst dann, wenn ein heiliges Wort in zeitlicher Distanz und womöglich sachlicher Fremdheit einen Brückenschlag nötig macht. Mit einem bloßen Zitat war es nie gemacht. Die Deutungsvorgänge innerhalb der biblischen Überlieferungen selbst sind Gegenstand der sog. Einleitungen ins Alte und Neue Testament wie der Darstellungen ihrer Theologien (→ Einleitungswissenschaft
1. Auslegung biblischer Überlieferungen im Alten und Neuen Testament
Alttestamentliche Texte wurden schon in vorkanonischer Zeit übersetzt, redigiert, paraphrasiert und erklärt. Ihre historisch-kritische Analyse hat gezeigt: Gesetzesstoffe wurden in ältere Bestände eingefügt, prophetische Bücher wurden ergänzt und neu akzentuiert; man denke etwa an den Schluss des → Amosbuches
Für die neutestamentlichen Schriften ist der Rückbezug auf die heiligen Schriften des damaligen Judentums – der Text ist meist der der → Septuaginta
Nicht nur die alttestamentlichen Schriften erfahren im Neuen Testament Rezeption und Deutung, sondern wie jene einen deutenden Traditionsprozess umfassen, so auch diese: Auch im Neuen Testament findet sich der Rückgriff auf mündliche Überlieferungen (vgl. Paulus), findet sich zum Beispiel im Nebeneinander der vier Evangelien ein wiederholendes und neu akzentuierendes Erzählen der Überlieferungen und findet sich innertestamentliche Interpretation wie etwa in der Modifikation theologischer Gedanken des Johannesevangeliums in den Johannesbriefen oder in der kritischen Bezugnahme des Jakobusbriefes auf Aussagen des Apostels Paulus (vgl. Röm 3,28
2. Die antike jüdische Schriftauslegung
Mit der Kanonisierung war der Konsonantentext der Bibel fixiert und der Umfang der biblischen Schriften festgelegt. Die Aufgabe der Auslegung für die jeweilige Gegenwart war nun unbegrenzt.
Die antike jüdische Schriftauslegung spiegelt sich in den erst im 20. Jh. aufgefundenen Texten von Qumran (→ Qumrantexte
Die rabbinische Bibelauslegung findet ihre Form in Palästina und in Babylonien in den → Targumim
Die exegetischen Regeln, die sich in dieser frühen Phase jüdischer Bibelerklärung ergeben haben, wurden von Rabbi Hillel, einem Zeitgenossen Jesu, systematisiert, von Späteren erweitert. Hillel kannte sieben Regeln (Middot); die bekanntesten, auch im Neuen Testament angewandten, sind der Schluss vom Leichteren auf das Schwerere (vgl. Röm 5,12ff
Dem hellenistischen Diasporajudentum Alexandriens verdanken wir die Übersetzung des Alten Testaments ins Griechische, die Septuaginta (LXX), mit einem Überschuss über den hebräischen Kanon hinausgehender Schriften, den sog. → Apokryphen
Auf der Grundlage der LXX vermittelte Philo von Alexandrien (vermutlich ca. 20/10 v. Chr. - 45 n. Chr.; → Philo
3. Die Exegese der griechischen Kirchenväter und die hermeneutische Differenz zwischen Alexandrinern und Antiochenern
Der altkirchlichen Deutung des Alten Testaments musste angesichts häretischer Abwertungen seiner Texte und Glaubensgehalte (zum Beispiel durch Marcion, ca. 85-160) daran gelegen sein, die im Neuen Testament grundlegend behauptete Verbindung zwischen alt- und neutestamentlicher Heilsgeschichte wie zwischen alt- und neutestamentlichen Texten argumentativ zu entfalten. Dem ersten diente das Aufweisen von Vorabbildungen des neutestamentlichen Heilsgeschehens in der Geschichte des alten Israel: Die Typologese lehrt, alttestamentliche Ereignisse als Figuren oder Typen des neutestamentlichen Heilsgeschehens zu verstehen.
So wendet sich Irenäus von Lyon (ca. 140-202) gegen die Ketzer, die das Alte Testament verachten, und legt in einem von der Schöpfung bis zur endzeitlichen Vollendung reichenden Entwurf der Heilsgeschichte die Harmonie zwischen den Testamenten dar: Durch „Typen“ rief Gott schon Israel zur Wahrheit; durch das Zeitliche führt er zum Ewigen, durch das Fleischliche zum Geistigen (Adversus haereses; Bibliothek der Kirchenväter
Das spezifische Anliegen, den Zusammenhang zwischen Altem und Neuem Testament darzutun, gehört in den Zusammenhang der Bemühungen, die Übereinstimmung zwischen der Heiligen Schrift und dem Glauben der Kirche aufzuweisen und auch die Harmonie zwischen der Bibel und den Ansprüchen der Moral und der Vernunft zu erweisen. Typologese und Allegorese ergänzen sich hierbei; jene setzt die Mehrschichtigkeit der Geschichte voraus, diese die Mehrschichtigkeit der Schrift, in der Handhabung verwischen die Unterschiede.
Seit Clemens von Alexandrien (ca. 150-215) und namentlich seit Origenes (ca. 185-254; → Origenes
Von der exegetischen Autorität des Origenes haben sich in den folgenden Jahrhunderten viele leiten lassen, so beispielsweise im 4. Jh. der bedeutende Didymus der Blinde (ca. 313-398), ja aus der Hermeneutik des Origenes hat sich das dominierende Schriftverständnis des lateinischen Mittelalters entwickelt.
Gegen Ende des 3. Jh.s kam in der syrisch-mesopotamischen Kirche eine exegetische Richtung auf, die die Allegorese der Alexandriner und der Lateiner abgelehnt hat und als die Antiochenische Schule in die Geschichte eingegangen ist. Von ihren Vertretern ist besonders Theodor von Mopsuestia (ca. 352-428) zu nennen. Er hat mehrere Bücher des Alten Testaments ausgelegt, einige seiner Kommentare sind leider verschollen. Theodor ist nachdrücklich am Wortsinn gelegen; zu seiner Ermittlung stützt er sich allerdings vornehmlich auf die Septuaginta. Des Hebräischen war er nicht mächtig; trotzdem kann Ludwig Diestel urteilen, dass ihn „an Strenge der grammatischen, mehr noch der historischen Auslegung, sowie an Originalität der Anschauung des A.T.“ niemand unter den Kirchenvätern erreicht habe. Die christologische Bedeutung des Alten Testaments ist selbstverständlich auch den Antiochenern gewiss. Sie darzutun, erlaubt ihnen besonders die Typologese. Sie knüpft anders als die an das Schriftwort als solches sich anschließende Allegorese an die alttestamentliche Geschichte und findet in ihr („schaut“, nämlich in der Theoria) Vorabbildungen des neutestamentlichen Heilsgeschehens.
Die griechische und die syrische Bibelerklärung der folgenden Jahrhunderte folgt im Wesentlichen der antiochenischen Tradition, und zwar in der Gestalt der sog. Katenen, das ist der losen Aneinanderreihung der älteren Auslegungen zu einer den Bibeltext begleitenden Kette des exegetischen Erbes. Neben Theodors Kommentaren sind besonders die seines Schülers Theodoret von Cyrus (ca. 393-460; → Theodoret von Cyrus
4. Geist und Buchstabe in der Exegese der lateinischen Kirchenväter
Ambrosius von Mailand (ca. 339-397) ist einer der Vermittler der alexandrinischen Tradition an die abendländische Kirche. Er unterscheidet einen dreifachen Schriftsinn: historicus (literalis), mysticus und moralis. Die hieraus in den nächsten Jahrhunderten herangereifte Theorie unterscheidet schließlich einen vierfachen Schriftsinn.
Auf dem Wege dorthin muss insbesondere der Kirchenvater Hieronymus (ca. 347-419; → Hieronymus
Neben Hieronymus ist besonders der Kirchenvater Augustinus (354-430; → Augustinus
5. Der Wortsinn und der vierfache Schriftsinn in der mittelalterlichen Exegese
War die monastische Bibelauslegung des Mittelalters auch überwiegend an der allegorischen und tropologischen Deutung orientiert, so verband sich in der lectio divina der Viktoriner (Paris) dieses Anliegen mit der nachdrücklichen Bemühung um den Wortsinn (sensus litteralis) der Schrift. Als hervorragender Vertreter dieser Richtung ist Andreas von St. Viktor (gest. 1175) zu nennen; er war seit Hieronymus der erste gründliche Kenner des Hebräischen im Abendland. Waren die antiochenischen Exegeten der Alten Kirche im Mittelalter weithin in Vergessenheit geraten, so haben die Viktoriner in der Bemühung um den Wortsinn der Schrift geradezu von vorne begonnen; es geschah dies in nachdrücklicher Anknüpfung an die jüdische Exegese. Andreas’ Werke sind ausschließlich exegetischer Natur, mehr noch: Sie gelten ausschließlich dem Alten Testament.
Das hohe Mittelalter war die Glanzzeit der selbstständigen jüdischen Exegese und die Periode ihres größten Einflusses auf die christliche Bibelauslegung. Schon im 8. Jh. hatten gegenüber der beherrschenden Stellung der talmudischen Traditionen die Karäer für eine Rückbesinnung auf die Heilige Schrift gekämpft und damit die „Periode des Peschat“ (W. Bacher) vorbereitet, die nach Saadia ben Joseph (Saadia hagaon; ca. 892-942) mit den Namen großer jüdischer Exegeten verbunden ist, die die christliche Bibelauslegung des Mittelalters befruchtet haben.
Raschi (Rabbi Salomo ben Isaak, 1040-1105; → Raschi
Im 12. und 13. Jh. sind für das Bibelstudium die in Spanien bzw. der Provence beheimateten Abraham Ibn Esra (ca. 1089-1167; → Ibn Esra
Dieser Rationalismus kennzeichnet auch das religionsphilosophisch-exegetische Werk „Führer der Verirrten“ (ursprünglich arabisch, zwischen 1190 und 1200 verfasst) des Spaniers Maimonides (Rabbi Moses ben Maimon, 1138-1204; Maimonides
Mit Isaak Abrabanel (ca. 1437-1508), dessen Kommentare mitunter einen rückblickenden, kompilatorischen Charakter haben, erlosch die große produktive Epoche der jüdischen Exegese, in der sie der christlichen Exegese vielfach voraus war. Die weitere wesentliche Förderung der Exegese fiel der bald nach Abrabanels Tode in die Geschichte eintretenden protestantischen Theologie zu. Erst durch die Berührung mit ihr sollte die jüdische Exegese sehr viel später wieder befruchtet werden.
Der Standardkommentar des christlichen Mittelalters war die Glossa Ordinaria, die seit der Mitte des 12. Jh.s dem Schulbetrieb zugrunde gelegt wurde; sie wird in den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts entstanden sein. Das Werk, später oft zusammen mit der Postille des Nikolaus von Lyra gedruckt, überliefert die altkirchliche Exegese, namentlich die der lateinischen Kirchenväter und hier besonders die des Hieronymus. Es bietet in knappen Interlinearglossen und auch in ausführlichen Marginalglossen die Auslegungen „secundum historiam“, „secundum tropologiam“ und „secundum allegoriam“ schematisch und harmonisch nebeneinander als durch die „materia triplex“ der Heiligen Schrift gefordert. Der Gedanke an deren mögliche Konkurrenz schien ausgeschlossen. Grundlegend blieb die Unterscheidung zwischen dem Wortsinn und einem über sie hinausgehenden geistlichen Sinn, wie sie in unterschiedlicher Ausgestaltung bereits die altkirchliche Auslegung bestimmt hatte. War die von Sprachkenntnis und historischen Vergleichen geleitete wörtliche Auslegung die Grundlage, so strebte die Deutung doch über das Antiquarische hinaus zur Gegenwart, die der tiefere Schriftsinn unmittelbar betreffe. Das Gotteswort erlaube und fordere, so war man überzeugt, die vielfache Bibelauslegung. Freilich war sie begleitet von der altkirchlichen Überzeugung, dass das Schriftverständnis von der Richtschnur des Glaubens geleitet sein müsse; ohne diese, so sagte man im 12. Jh., werde der heilige Text „eine wächserne Nase“, die sich drehen lasse, wohin man wolle. Auch dem Stoff nach bleibt das Mittelalter eng gebunden an die altkirchliche Exegese. Es geht nun vor allem um die Weitergabe der Autoritäten, auch wenn sich Hinweise auf unterschiedliche Auslegungsmöglichkeiten und hin und wieder auch Stellungnahmen zu ihnen finden. Die Glossa wurde früher zu Unrecht dem Walahfrid Strabo zugeschrieben; tatsächlich dürfte sie der Schule von Laon entstammen.
Auch im 13. Jh. geschah die christliche Bibelauslegung in der von den Kirchenvätern vorgegebenen hermeneutischen Bahn. Die Voraussetzung der Exegese blieb die Annahme eines mehrfachen Schriftsinnes. Neben den buchstäblichen, den moralischen und den allegorischen Sinn trat nun häufig noch die anagogische Deutung. Ein berühmt gewordener, Ende des 13. Jh.s geprägter, Merkvers kennzeichnet den vierfachen Schriftsinn mit folgenden Worten:
Littera gesta docet, / quid credas allegoria, / moralis quid agas, / quo tendas (oder: quid speres) anagogia.
(Der Buchstabe lehrt das, was geschehen ist; / die Allegorie das, was man glauben soll; / der moralische Sinn das, was zu tun ist; / die Anagogie zeigt, wohin es mit dir hinaus will [oder: was man hoffen soll]).
Die berühmte, oft abgeschriebene und später oft gedruckte Postille des Nikolaus von Lyra (ca. 1270-1349; Postilla literalis et moralis in Vetus et Novum Testamentum) bot die Exegese nach dem vierfachen Schriftsinn angeordnet, berücksichtigte aber in der Darlegung des Wortsinns neben dem christlichen Traditionsgut regelmäßig auch jüdische Exegetica, namentlich die Auslegungen Raschis.
Neben die nach Bibelversen und vierfachem Schriftsinn geordneten Auslegungen traten im hohen Mittelalter die Erörterungen in dogmatischen quaestiones. Die Scholastik suchte in einer filigranen Differenzierung den Stoff logisch zu entfalten und der Einsicht aufzubereiten. In dieser Weise wurden exegetische Erörterungen in die Summen aufgenommen, wie umgekehrt derartige Exkurse auch Eingang in die biblischen Kommentare selbst fanden. So gebührt den Summen des deutschen Dominikaners Albertus Magnus (ca. 1200-1280) und des Süditalieners Thomas von Aquin (ca. 1225-1274) auch in der Geschichte der Exegese ein ihrer dogmatischen Bedeutung entsprechender Platz.
6. Quellenstudium, reformatorische Konzentration und spätere Stagnation im 16. Jh.
Neue Wege wurden der Bibelwissenschaft erst vom Humanismus des 16. Jh.s gewiesen. Er brachte eine energische Rückwendung zu den biblischen Quellen in ihrer Ursprache und dabei eine kritische Beschäftigung mit der Textüberlieferung mit sich. Johannes Reuchlin (1455-1522) erschloss das hebräische Alte Testament durch seine „Rudimenta Hebraica“ (1506), Erasmus von Rotterdam (1469-1536) veröffentlichte 1516 in Basel eine kritische Ausgabe des Neuen Testaments (Novum Instrumentum).
Intensives Bibelstudium war die Grundlage des reformatorischen Wirkens Martin Luthers (1483-1546; → Luther
Neben Luthers exegetischen Arbeiten sind die seines jüngeren Mitreformators Johannes Calvin (1509-1560; → Calvin
In Heidelberg und Basel, hier auch als Lehrer Calvins, hatte der durch seine Kosmographey (1550) berühmte Sebastian Münster (1488-1552) in diesem Sinne gewirkt (Edition des hebräischen Alten Testaments mit lateinischer Übersetzung, 1534/1535). Unter den Jüngeren, die dieses Erbe bewahrt haben, sind Johannes Mercer (Mercier; gestorben 1570), der als Professor der hebräischen Sprache in Paris wirkte und mehrere Bücher des Alten Testaments in Auseinandersetzung mit der christlichen wie der jüdischen exegetischen Tradition kommentierte, und der einflussreiche Immanuel Tremellius (1510-1580) zu nennen, ein vom Judentum zum Calvinismus konvertierter Italiener, der als alttestamentlicher Exeget, beschützt durch den Pfalzgrafen bei Rhein, den Kurfürsten Friedrich III. von der Pfalz, eben in jener Zeit in Heidelberg wirkte, da hier der Heidelberger Katechismus und die Kirchenordnung der Kurpfalz entstanden, und der 1575 bis 1579 zusammen mit seinem Schwiegersohn Franz Junius (1545-1602) eine verbreitete lateinische Übersetzung und Kommentierung des Alten Testaments vorlegte.
Im Luthertum trat die reformatorische Kraft und Freiheit, in der Luther theologisch-kritisch die Mitte der Heiligen Schrift erschloss, in einer mehr epigonalen Folgezeit zurück hinter einer philologia sacra, deren Arbeit auf einer strengen Inspirationslehre beruhte (vgl. Matthias Flacius [1520-1575]: Clavis Scripturae Sacrae, 1567). Den konfessionellen Streittheologen des ausgehenden 16. Jh.s war die Bibel ein Beweisbuch für die dogmatischen Lehren; die „dicta probantia“ waren Gegenstand leidenschaftlicher Polemik. Im übrigen war die Zeit der Orthodoxie wieder eine Periode großer Sammelgelehrsamkeit.
Die katholische Exegese wurde durch das Konzil von Trient (Sessio IV, 1546) auf die Verbindlichkeit der Vulgata und der Tradition verpflichtet. Die Zeit der Gegenreformation war auch auf katholischer Seite durch sammelnde Gelehrsamkeit gekennzeichnet, wie die Kommentare des in Rom lehrenden Cornelius a Lapide (1567-1637) zeigen oder wie etwa die achtbändige, den Bibeltext in fünf Sprachen bietende, Antwerpener Polyglotte (1568-1572) belegt, die Benito Arias Montanus (1527-1598) in den Jahren des niederländischen Freiheitskampfes für Philipp II. von Spanien herausgab. In ihrer kirchenamtlichen Bindung trat die Bedeutung der katholischen Exegese in den folgenden Jahrhunderten deutlich hinter der der protestantischen Bibelauslegung zurück. Erst im 20. Jh., besonders durch das II. Vatikanische Konzil (1962-1965; Konstitution Dei Verbum 1965) eröffnete sich den katholischen Exegeten die Freiheit, sich der Methode und den Erkenntnissen der historisch-kritisch arbeitenden protestantischen Bibelauslegung anzuschließen und sodann zu eigenständiger Arbeit zu gelangen.
7. Kritische Aufbrüche im 17. und frühen 18. Jh.
In der protestantischen Bibelauslegung führte das 17. Jh. wieder zu einer freieren Auffassung der Schriftautorität und zu fruchtbarerem Bibelstudium. Es öffnete einer Hermeneutik die Tore, die die biblischen Schriften historisch und philologisch nach den allgemeinen Maßgaben der Erschließung antiker Quellen zu traktieren unternahm. Unter den Vätern dieser Entwicklung sind besonders die reformierten Theologen Hugo Grotius (1583-1645; Annotationes ad Vetus et Novum Testamentum, 1644) und Johannes Clericus (1657-1736) zu nennen. Grotius hat in der Erklärung des Alten Testaments in so hohem Maße die jüdischen Exegese berücksichtigt, dass man ihn spottend „Grotius judaicans“ nannte. Clericus befürwortete in seiner Ars critica (1697) für die Bibel wie für die Profanliterartur die Anwendung der grammatisch-philologischen Methode; in diesem Sinne hat er zahlreiche Kommentare zum Alten Testament verfasst und ein kommentiertes Neues Testament (1703) herausgegeben.
Bemerkenswert ist, dass unter den Vätern der modernen Bibelauslegung auch der französische Oratorianer Richard Simon (1638-1712) zu nennen ist. Gegen das protestantische Schriftprinzip gewandt zeigte er in seinem Buch Histoire critique du Vieux Testament (1678) auf, dass Tradition nicht erst jenseits der Schrift beginnt und nicht mir ihr konkurriert, sondern dass das Alte Testament seinerseits bereits als das Ergebnis eines Traditionsprozesses zu verstehen ist. Trotz dieser spezifisch katholischen Zielsetzung musste Simon die mit dieser Sicht verbundenen kritischen Einsichten mit dem Ausschluss aus seinem Orden bezahlen.
Wichtiger noch waren die Anstöße, die der Exegese aus der Religionskritik eines jüdischen Emigranten erwuchsen, nämlich aus dem von Baruch de Spinoza (1632-1677) anonym veröffentlichten Tractatus theologico-politicus (Hamburg, 1670). Das Buch enthält eine Fülle kritischer Einsichten und Hypothesen, die zum teil ihre Vorgeschichte in der früheren jüdischen Exegese, besonders in den von Maimonides vertretenen Auffassungen haben. So fand Spinoza für die Wunder natürliche Erklärungen, verstand die prophetische Offenbarung aus der Einbildungskraft begabter Beobachter der Zeit heraus und leitet die kanonische Gestalt der erzählenden Bücher des Alten Testaments aus einer nachexilischen Redaktion durch Esra her. Die Wirkung seines Werks blieb zunächst unter kirchlichem Druck weithin apokryph.
Der vom lutherischen Pietismus her kommende, Philipp Jakob Spener nahestehende Hermann von der Hardt (1660-1746) besaß die Freiheit, sich von Spinoza anregen zu lassen und veröffentlichte eine Reihe von historisch-kritischen Schriftauslegungen, die – zum Beispiel bei der Kommentierung der prophetischen Schriften – exegetische Erkenntnisse einer sehr viel späteren Zeit vorwegnahmen; er verlor deshalb in Helmstedt das Recht zu theologischen Vorlesungen und war schließlich nur noch – als ein früher Vorgänger Lessings – als herzoglicher Bibliothekar tätig.
Auch sonst konnte sich aus dem Pietismus ein besonderes exegetisches Engagement ergeben. So hat der Pietismus des 17. und 18. Jh.s mit den Arbeiten von Philipp Jakob Spener (1635-1705), August Hermann Francke (1663-1727), Johann Heinrich Michaelis, (1668-1738) und Johann Albrecht Bengel (1687-1752), der neu aufblühenden (auch textkritischen) Erschließung der alt- und neutestamentlichen Überlieferungen wesentliche Dienste erwiesen. Johann Heinrich Michaelis verdankte die Theologie eine kritische Ausgabe des Alten Testaments (Biblia Hebraica, 1720) und Johann Albrecht Bengel den Gnomon Novi Testamenti (1742), eine streng philologische Auslegung des Neuen Testaments.
8. Kritische Exegese im Zeitalter der Aufklärung
Eine andere Quelle kritischen Bibelstudiums war die Anwendung allgemeiner Vernunfteinsichten auf den Umgang mit der Heiligen Schrift, die zunächst vom englischen Deismus und dann in Deutschland im Zeitalter der Aufklärung geübt wurde. Als einen namhaften Vertreter aufgeklärter Bibelkritik nennen wir den Hamburger Gymnasialprofessor Hermann Samuel Reimarus (1694-1768; → Reimarus
9. Geschichtliches Verstehen der Heiligen Schrift in der Goethezeit
Hatte Immanuel Kant (1724-1804) den Sinn der biblischen Schriften allein darin suchen wollen, dass sie als bloß partikulare, statuarische Vehikel dem reinen, moralischen Vernunftglauben dienen könnten (Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 1793), so lenkten besonders Johann Gottfried Herder (1744-1803) und Johann Gottfried Eichhorn (Einleitung in das Alte Testament, zuerst 1780-1783; → Eichhorn
Das 19. Jh. ist durch die Durchsetzung der historisch-kritischen Exegese gekennzeichnet. Die Pentateuchforschung blieb das klassische Feld der alttestamentlichen Wissenschaft. Es galt, die literarische und vorliterarische Entstehung des mächtigen Überlieferungskomplexes genauer zu beleuchten und ihren Zusammenhang mit der Geschichte Israels zu verstehen. Die moderne historische und literarische Kritik ist vor allem durch Wilhelm Martin Leberecht de Wette (1780-1849; → de Wette
Auch die neutestamentliche Forschung hat, gegenüber der alttestamentlichen ein wenig zeitversetzt, im 19. Jh. Umstürzendes und für die weitere exegetische Arbeit Grundlegendes geleistet. Aus der ersten Hälfte des 19. Jh.s sind vor allem die beiden Hegel-Schüler Ferdinand Christian Baur und David Friedrich Strauß zu nennen. Ferdinand Christian Baur (1792-1860; → Baur
10. Historisch-kritische Bibelexegese in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s
Auf alttestamentlichem Gebiet zeichnete in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s Julius Wellhausen (1844-1918; → Wellhausen
Der Siegeszug der historisch-kritischen Exegese war im 19. Jh. einerseits gar nicht aufzuhalten, auf der anderen Seite war er mit schweren Kämpfen und persönlichen Opfern verbunden. Strauß’ Leben Jesu beispielsweise hatte nicht nur literarische Turbulenzen ausgelöst, sondern auch dazu geführt, dass dem hochbegabten Autor ein akademisches Amt verschlossen war.
Viele exegetische Lehrstühle waren von konservativen Theologen besetzt, die den besonderen Charakter der Heiligen Schrift auf dem Felde historischer Glaubwürdigkeit verteidigen zu müssen glaubten. Als erbitterter Kämpfer gegen jede Erweichung der Autorität der Heiligen Schrift und damit gegen jeden Zweifel an der Authentizität auch ihrer historischen Nachrichten ist der Herausgeber der Evangelischen Kirchenzeitung Ernst Wilhelm Hengstenberg (1802-1869) zu nennen (Christologie des Alten Testaments und Commentar über die Messianischen Weissagungen, 3 Bände, 1829-1835). Grundgelehrte Exegeten wie Johann Heinrich Kurtz (1809-1890) oder Franz Delitzsch (1813-1890) standen ihm prinzipiell nicht fern, öffneten sich aber in ihren Bibelkommentaren und Einzelstudien zögernd den kritischen Einsichten und steuerten auch zur hermeneutischen Debatte Bedenkenswertes bei.
Das Jahrhundert endet mit den weitreichenden Einsichten und Protesten des Nietzsche-Freundes Franz Overbeck und der Vermittlungstheologie Adolf von Harnacks. Franz Overbeck (1837-1905) kam nicht zuletzt aufgrund formgeschichtlicher Beobachtungen (Über die Anfänge der patristischen Literatur, zuerst 1882, mit dem Programm der Formgeschichte: „Ihre Geschichte hat eine Literatur in ihren Formen“) an der „Urliteratur“ zu der Auffassung eines völligen Bruches zwischen dem Urchristentum und der ihm sich anschließenden Kirchengeschichte. Lukas habe mit seiner Verbindung von „Urgeschichte“ und Geschichte etwas Unmögliches getan, von dem aber das weitere Christentum gelebt habe. Der „garstige breite Graben“ zwischen Bibel und Gegenwart war erneut aufgerissen. Overbecks wie dieser historisch-kritisch arbeitende Fachkollege Adolf von Harnack (1851-1930) meinte gleichwohl, den Abstand zwischen Neuem Testament und Gegenwart mit der Unterscheidung des Kerns der neutestamentlichen Botschaft (Jesus „verkündete den lebendigen Gott und den Adel der Seele“; das Evangelium ist „Gotteskindschaft, ausgedehnt über das ganze Leben“) von der zeitgebundenen bloß historischen Schale (zur Schale gehöre auch „die ganze jüdische Bedingtheit der Predigt Jesu“) überwinden zu können (Das Wesen des Christentums, 1900).
11. Formgeschichte und Redaktionsgeschichte im 20. Jh.
An der Schwelle zum 20. Jh. hat auf alttestamentlichem Gebiet Hermann Gunkel (1862-1932; → Gunkel
Im Neuen Testament hat die Rückfrage nach der mündlichen Vorgeschichte der Evangelien in den Arbeiten von Martin Dibelius (1883-1947; Formgeschichte des Evangeliums, 1919) und Rudolf Bultmann (1884-1976; Die Geschichte der synoptischen Tradition, 1921) die Fruchtbarkeit der formgeschichtlichen Methode sichtbar gemacht. In der Pentateuchforschung hat Martin Noth (1902-1968; → Noth
Im Alten wie im Neuen Testament hat das weitere 20. Jh. eine immer differenziertere Scheidung (etwa im → deuteronomistischen Geschichtswerk
12. Theologische Bibelauslegung im 20. Jh.
Bei unverkürzter historischer Kritik hat Rudolf Bultmann mit ihr eine „existentiale Interpretation“ des überlieferten Kerygmas (s. Das Evangelium des Johannes, 1941) als von diesem gefordert zu erweisen versucht. Spreche das Neue Testament mythologisch von dem Heilsgeschehen in Jesus Christus, so sei diese Rede ein Ausdruck der „Bedeutsamkeit“ des historischen Ereignisses, das „eine neue geschichtliche Situation“ geschaffen habe (Neues Testament und Mythologie, 1941). In diesem Sinne hat Gerhard Ebeling (1912-2001) als ein bedeutendes Ergebnis gerade der zunächst „als ein auflösendes Moment in der Theologie“ empfundenen historisch-kritischen Forschung „die Hinwendung zur Geschichtlichkeit der Offenbarung in Jesus Christus“ bezeichnet und die theologische Bedeutung der Auslegungsgeschichte darin gesehen, dass sie „die Geschichte der Gegenwärtigkeit des unter Pontius Pilatus gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus“ sei (Kirchengeschichte als Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift, 1947).
Im Alten Testament hat Gerhard von Rad (→ von Rad
In seinem theologischen Aufbruch nach dem 1. Weltkrieg hatte Karl Barth (1886-1968) der historisch-kritischen Methode eine nicht überflüssige, aber doch nur vorbereitende Bedeutung für die notwendige theologischen Exegese zugebilligt (Der Römerbrief, 1919), sich wenige Jahre danach im übrigen aber ausdrücklich gegenüber Harnack in einem berühmten Briefwechsel (Ein Briefwechsel mit Adolf von Harnack, in: K. Barth: Theologische Fragen und Antworten, 1957) gegen den Vorwurf der Verachtung der Wissenschaft verteidigt. Bei den exegetischen Fachleuten hat Barth viel Kritik erfahren, doch hat man sich auch gefragt, ob man seine Exegese nicht als eine „nachkritische Schriftauslegung“ verstehen könne (R. Smend, 1966).
Heute wird wieder die Frage nach den Grenzen der historisch-kritisch arbeitenden Exegese gestellt (→ christliche Bibelauslegung
Literaturverzeichnis
1. Lexikonartikel
- Wetzer und Welte’s Kirchenlexikon, 2. Aufl., Freiburg i.Br. 1882-1903
- Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, 3. Aufl., Leipzig 1896-1913
- Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl., Tübingen 1957-1965
- Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1977-2004
- Neues Bibel-Lexikon, Zürich u.a. 1991-2001
- Encyclopedia of the Early Church, Cambridge 1992
- Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Freiburg i.Br. 1993-2001
- Dictionary of Judaism in the Biblical Period. 450 B.C.E. to 600 C.E., New York 1996
- Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998ff.
- Calwer Bibellexikon, Stuttgart 2003
- Lexikon der theologischen Werke, Stuttgart 2003
- Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (im Internet: http://www.bautz.de/bbkl/
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2. Weitere Literatur
- Bacher, W., Die Bibelexegese der jüdischen Religionsphilosophen des Mittelalters vor Maimuni, Budapest 1892 (Nachdruck 1972)
- Bacher, W., Die Bibelexegese Moses Maimuni’s, Budapest 1896 (Nachdruck 1972)
- Bitter, St., Die Ehe des Propheten Hosea. Eine auslegungsgeschichtliche Untersuchung (GTA 3), Göttingen 1975
- Bitter, St., Göttlicher Wink oder menschliche Ahnung. Hermann von der Hardts Hoseakommentar und die Anfänge der historisch-kritischen Prophetenexegese, in: Ulrich Schoenborn / Stephan H. Pfürtner (Hgg.), Der bezwingende Vorsprung des Guten. Exegetische und theologische Werkstattberichte (FS W. Harnisch), Münster 1994, 47-63
- Borst, A., Der Turmbau zu Babel. Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker, 6 Bände, Stuttgart 1957-1963
- Campenhausen, H. Freiherr von, Die Entstehung der christlichen Bibel, Tübingen 1968
- Diestel, L., Geschichte des Alten Testamentes in der christlichen Kirche, Jena 1869
- Dobschütz, E. von, Die Bibel im Leben der Völker (zuerst 1934). In neuer Bearbeitung hrsg. von Alfred Adam, Berlin 1954
- Dobschütz, E. von, Vom vierfachen Schriftsinn. Die Geschichte einer Theorie, in: Harnack-Ehrung. Beiträge zur Kirchengeschichte, ihrem Lehrer Adolf von Harnack zu seinem 70. Geburtstage (7. Mai 1921) dargebracht von einer Reihe seiner Schüler, Leipzig 1921, 1-13
- Ebeling, G., Evangelische Evangelienauslegung. Eine Untersuchung zu Luthers Hermeneutik, München 1942 (Nachdruck Darmstadt 1962)
- Ewald, H. / Dukes, L., Beiträge zur Geschichte der ältesten Auslegung und Spracherklärung des Alten Testamentes. 3 Bände, Stuttgart 1844 (Nachdruck Hildesheim 1976)
- Genthe, H.J., Kleine Geschichte der neutestamentlichen Wissenschaft, Göttingen 1977
- Haustein, J., Beobachtungen zum Schriftverständnis ökumenischer Dokumente, in: G. Bader u.a. (Hgg.), Im Labyrinth der Ethik (FS M. Honecker), Rheinbach 2004, 79-92
- Karpp, H., Schrift, Geist und Wort Gottes. Geltung und Wirkung der Bibel in der Geschichte der Kirche. Von der Alten Kirche bis zum Ausgang der Reformationszeit, Darmstadt 1992
- Kraus, H.-J., Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments von der Reformation bis zur Gegenwart, 3. Aufl., Neukirchen-Vluyn 1982
- Kümmel, W.G., Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme, Freiburg / München 1958
- Lubac, H. de, Exégèse médievale. Les quatre sens de l’ Écriture, 4 Bände, Paris 1959-1964
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