Deutsche Bibelgesellschaft

Bull Site

(erstellt: Januar 2015)

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Im Jahr 1975 fand ein israelischer Soldat in den seit 1967 besetzten Gebieten Palästinas ungefähr 20 km nördlich von Nablus und 6 km südlich von Jenin am Hang der flachen Anhöhe Ḍahret eṭ-Ṭawīle eine Stierstatuette aus Bronze (Koordinaten: 1807.2016; N 32° 24' 30'', E 35° 19' 26''; 410 m ü. N.N.; Gipfel 455 m ü. N.N.). Der Fundort wurde 1978 und 1981 unter Leitung von Amihai Mazar ausgegraben und ist seitdem – auch in der deutschsprachigen Wissenschaft – als „Bull Site“ bekannt. Datiert wird sie und mit ihr die Stierstatuette in die → Eisenzeit I.

1. Die Anlage

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Mazar rekonstruiert die Anlage – obwohl sie „almost completely destroyed“ ist (Mazar, 1982a, 33) – als Rundbau, der einen Durchmesser von über 20 m hat und in dem im Osten ein hufeisenförmiger Raum als Nische abgegrenzt ist. Er interpretiert die Anlage als → Kulthöhe, d.h. offene Kultstätte, mit einer Kultnische. Einen großen Stein (0,55 x 0,97 x 1,30 m) im Bereich der Kultnische hält er für eine → Mazzebe (Mettinger, 1995, 153-155) oder einen Altar. Drei nördlich vorgelagerte flache Steine sollen zum Pflaster eines Fußbodens gehört haben. Eine Tonscherbe von einem eckigen Gegenstand wird aufgrund ihrer Form als Teil eines Räucherständers oder Kultschreins angesehen.

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Die damit skizzierte kultische Deutung der Anlage ist jedoch nicht zwingend (vgl. Coogan, 1987, 1). Zum Ersten wissen wir über das Aussehen sog. Kulthöhen sehr wenig, können also einen Rundbau nicht als ein solches Heiligtum identifizieren. Zum Zweiten ist es schon fraglich, ob es sich wirklich um einen Rundbau und eine Kultnische handelt. Ein Blick in die Abbildungen der Erstpublikation zeigt nämlich einen von kleinen und großen Steinen, ja Felsbrocken überzogenen Hügel. Vor allem findet sich in der Erstpublikation eine genaue Zeichnung, die deutlich macht, dass die spärlichen Mauerreste nicht nur zu einem Rundbau, sondern im Grunde zu allem Möglichen rekonstruiert werden können. Am besten erhalten ist ein ca. 6 m langer Abschnitt der West-Mauer, die aus großen Steinen gesetzt ist und in zwei Lagen noch 0,80-1,00 m hoch vorgefunden wurde. Dieser Abschnitt verläuft relativ gerade und lässt kaum an einen Rundbau denken. Ob der große, in der felsigen Landschaft jedoch keineswegs auffällige Stein im Bereich der Nische eine kultische Funktion hatte, sei es als Mazzebe oder als Altar, lässt sich kaum sagen (vgl. Zwickel, 1994, 212). Gegen die Deutung als Altar spricht jedenfalls, dass die Oberfläche des Steins nicht flach ist, sondern nach rechts und links abfällt. Auch die Deutung der Scherbe eines eckigen Gegenstands ist völlig offen. Der archäologische Befund der Anlage ist also insgesamt nicht sehr aussagekräftig, so dass sich über die Funktion der Anlage im Grunde nichts sagen lässt.

Datiert wird die Anlage aufgrund der Keramik in die → Eisenzeit I (zu einer Datierung in die Mittelbronzezeit s. Finkelstein, 1998, und dagegen Mazar, 1999; vgl. Zevit, 2000, 178; Zertal, 2004, 179).

2. Die Stierstatuette

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Der wichtigste Fund, der der Anlage die Bezeichnung „Bull Site“ eingebracht hat, ist eine Stierstatuette, die im Wachsausschmelzverfahren hergestellt worden ist und mit 12,4 x 17,5 cm die bei weitem größte darstellt, die bislang in der Levante gefunden wurde. Neben der Größe fallen die Feinheit der Bearbeitung und die aufwendige Gestaltung der (allerdings verlorenen) Augen durch Einlegearbeiten auf. Es handelt sich also um eine außergewöhnlich wertvolle Statuette.

Die Kostbarkeit spricht für eine exponierte Funktion und eine solche ist am ehesten im Bereich des Kultes zu vermuten (vgl. Mazar, 1982a, 32), und zwar nicht innerhalb eines kleinen Privatkultes im eigenen Haus (gegen Coogan, 1987, 2), sondern im Rahmen des öffentlichen Kultes. Für die Zuweisung zum Kult sprechen Analogien, nämlich Stierstatuetten aus Bronze und Ton, die in kultischen Kontexten gefunden wurden, z.B. im Tempelbereich (Byblos) oder in Hortfunden zusammen mit eindeutig kultischen Geräten (Jerusalem; → Stierbilder).

Innerhalb des Kultes dürfte die Statuette kaum eine Votivgabe gewesen sein – dafür ist sie zu wertvoll –, sondern eher ein zentrales Kultbild. Unwahrscheinlich ist, dass die Statuette dabei das Tragtier einer Gottheit sein sollte, denn dann müssten sich auf dem Rücken Spuren des Gottesbildes oder zumindest einer Halterung finden. Vermutlich sollte das Stierbild vielmehr eine Gottheit darstellen. Welche Gottheit es repräsentieren sollte, lässt sich jedoch nicht sagen. Außer → Baal kommt → El in Frage, der in den Texten von → Ugarit häufig als Stier bezeichnet wird, aber auch Jahwe, der in → Bethel und → Dan im Bild eines Stiers vergegenwärtigt wurde (1Kön 12,28ff; vgl. Koenen, 2003, 99-132; → Stierbilder).

Datiert wird die Stierstatuette normalerweise in die Eisenzeit I, jedoch allein aufgrund der Keramik des Fundkontexts. Die Datierung wird fraglich, sobald die Identität von ursprünglichem Aufstellungs- und tatsächlichem Fundort nicht selbstverständlich vorausgesetzt wird. Für sich genommen ist das Stierbild nämlich schwer zu datieren. Man hat zwar in der Levante eine ganze Reihe von Stierstatuetten aus Bronze gefunden (→ Stierbilder), aber die Zahl ist zu gering und die geographische Streuung zu groß, um eine Typologie zu entwickeln, die die Datierung solcher Stierbilder auf eine sichere Basis stellen könnte. Die Statuette von Ḍahret eṭ-Ṭawīle stammt am ehesten aus der Bronzezeit, für die Eisenzeit I ist sie jedenfalls untypisch (→ Stierbilder). Im Übrigen kann auch die Kontextkeramik, selbst wenn der Fundort der Aufstellungsort gewesen sein sollte, nichts über den Zeitpunkt der Herstellung sagen, sondern allenfalls etwas über den Zeitpunkt der letzten Verwendung. Die Statuette kann also in jedem Fall wesentlich älter sein und aus der Bronzezeit stammen.

3. Deutung als Kulthöhe?

Nach Mazar handelt es sich bei der „Bull Site“ um ein Heiligtum mit einem Stier als zentralem Kultgegenstand. Die Kultteilnehmer seien, weil es in der Nähe keine Stadt gab, aus den umliegenden Dörfern der Eisenzeit I gekommen, die man bei Surveys entdeckt hat (Kochavi, 1972, 210-213, Nr. 21; 34; 36; 37; 44; vgl. Zertal, 2004, 55 Abb. 13 mit einer Übersicht über die Ortslagen der Eisenzeit I im Umfeld von Ḍahret eṭ-Ṭawīle = Nr. 61). Da in diesen Dörfern Israeliten siedelten, habe es sich um eine Kultstätte von Israeliten gehandelt (Mazar, 1982a, 37f; Wenning / Zenger, 1986, 77-81). Weil diese jedoch nicht über die handwerklichen Kenntnisse zur Herstellung einer Bronzestatuette verfügten, sollen sie diese von Kanaanäern erworben haben, die noch in der Tradition der Späten Bronzezeit lebten (Mazar, 1982a, 32). Zwickel (1994, 214) kommt, da der Stier ein Symbol des Fruchtbarkeitsgottes Baal gewesen ist, zu der Auffassung, an der Kultstätte sei wahrscheinlich → Baal verehrt worden. Wenning / Zenger (1986, 81ff) schreiben diese Baal-Verehrung Israeliten zu, die Jahwe noch nicht kannten.

Weil das Stierbild ein Buckelrind darstelle, das nicht in Israel, sondern weiter nördlich beheimatet sei, meint Ahlström (1990, 77-81), es sei von nicht-kanaanäischen Bevölkerungsgruppen (Hethiter, Aramäer), die von Norden nach Palästina eingedrungen seien, mitgebracht worden. Die Deutung des Stierbilds als Darstellung eines Buckelrinds ist jedoch zweifelhaft. Der Wulst, der sich von den Vorderbeinen ausgehend am Anfang des Rückens befindet und zu der Deutung als Buckelrind führt, hat am Ende des Rückens über den Hinterbeinen eine Parallele, die nicht als Darstellung eines in der Natur tatsächlich belegten Buckels gelten kann und damit zeigt, dass auch der vordere Wulst keineswegs einen Buckel darstellen muss, es sich also nicht unbedingt um ein Buckelrind handelt.

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Da manche Praktiken der sog. Kulthöhen nach einer häufig belegten biblischen Formulierung „unter jedem grünen Baum“ geschahen, vermutet Mazar, dass im Zentrum der Anlage ein heiliger Baum gestanden haben könnte (1982a, 35). Dies führt schließlich zu einer Zeichnung, die unter deutlicher Aufnahme von Ḍahret eṭ-Ṭawīle die Aktivitäten an einer Kulthöhe darstellt und dabei sogar so weit geht, neben dem Heiligtum mit dem Stier der „Bull Site“ Frauen zu zeigen, die nach der beigefügten, auf Bar 6,42f verweisenden Erklärung auf einen Freier warten, da sie erst nach der Hingabe an einen fremden Mann heiraten dürften (Zwickel, 1997, 210f).

Derart weitreichende Deutungen lässt der Befund jedoch nicht zu. Selbst wenn das Stierbild, wie oben angenommen, ein Gottesbild war, spricht das noch nicht für den kultischen Charakter der Anlage, da der Fundort der Statuette nicht ihr Aufstellungsort gewesen sein muss. Sie kann vielmehr auf verschiedene Weisen dorthin gelangt sein. Da man in den Allerheiligsten von Tempelanlagen häufig keine Kultbilder gefunden hat, ist zu vermuten, dass diese – sofern sie nicht von Eroberern verschleppt worden sind – schon beim Anrücken von Feinden ausgelagert worden sind. So mag auch die Stierstatuette von Ḍahret eṭ-Ṭawīle, um sie vor Feinden zu schützen, in einem abgelegenen Gehöft oder dem Unterstand einer Schafkoppel versteckt worden sein.

Mit der These, dass die Stierstatuette ein Kultbild war, ist also die äußerste Grenze dessen erreicht, was mit einer gewissen Sicherheit festgestellt werden kann. Wie der Kult aussah, wo er stattfand, wer die Verehrer waren und welchem Gott die Verehrung galt, lässt sich nicht ausmachen.

Literaturverzeichnis

Literaturverzeichnis

  • Ahlström, G.W., 1990, The Bull Figurine from Dhahrat et-Tawileh, BASOR 280, 77-82
  • Coogan, M.D., 1987, Of Cults and Cultures: Reflections on the Interpretation of Archaeological Evidence, PEQ 119, 1-8
  • Finkelstein, I., 1998, Two Notes on Northern Samaria: The „‘Einun Pottery“ and the Date of the „Bull Site“, PEQ 130, 94-98
  • Kochavi, M. (Hg.), 1972, Judaea, Samaria and the Golan. Archaeological Survey 1967-1968, Jerusalem (hebr.)
  • Koenen, K., 2003, Bethel. Geschichte, Kult und Theologie (OBO 192), Freiburg (Schweiz) / Göttingen
  • Koenen, K., 2004, Zum Stierbild von Ḍahret eṭ-Ṭawīle und zum Schlangenbild des Hör­neraltars von Tell es-Seba‘, BN 121, 39-52
  • Mazar, A., 1982a, The „Bull Site“ – An Iron Age I Open Cult Place, BASOR 247, 27-42
  • Mazar, A., 1982b, A Cultic Site from the Period of the Judges in the Northern Samaria Hills, EI 16, 135-145 (hebr.).256*f
  • Mazar, A., 1982c, The Site of the Bull – An Ancient Cultic Site in the Samaria Hills, Qad. 15, 61-63 (hebr.)
  • Mazar, A., 1983, Bronze Bull Found in Israelite „High Place“ from the Time of the Judges, BAR 9/5, 34-40
  • Mazar, A., 1988, On Cult Places and Early Israelites: A Response to Michael Coogan, BAR 14/4, 45
  • Mazar, A., 1999, The „Bull Site“ and the „Einun Pottery“ Reconsidered, PEQ 131, 144-148
  • Mettinger, T.N.D., 1995, No Graven Image? Israelite Aniconism in Its Ancient Near Eastern Context (CB.OT 42), Stockholm
  • Wenning, R. / Zenger, E., 1986, Ein bäuerliches Baal-Heiligtum im samarischen Gebirge aus der Zeit der Anfänge Israels. Erwägungen zu dem von A. Mazar zwischen Dotan und Tirza entdeckten „Bull Site“, ZDPV 102, 75-86
  • Zertal, A., 2004 / 2007, The Manasseh Hill Country Survey (Culture and History of the Ancient Near East 21), 2 Bd.e, Leiden / Boston
  • Zevit, Z., 2000, The Religions of Ancient Israel, London / New York
  • Zwickel, W., 1984, Eine zyprische Parallele zur kürzlich in Israel gefundenen Kulthöhe, BN 24, 24-29
  • Zwickel, W., 1994, Der Tempelkult in Kanaan und Israel (FAT 10), Tübingen
  • Zwickel, W., 1997, Die Welt des Alten und Neuen Testaments. Ein Sach- und Arbeitsbuch, Stuttgart

Abbildungsverzeichnis

  • Rekonstruierter Grundriss der sog. „Bull Site“. Aus: W. Zwickel, Eine zyprische Parallele zur kürzlich in Israel gefundenen Kulthöhe, BN 24 (1984), 24-29, 25.
  • Detaillierter Grundriss der sog. „Bull Site“. Aus: A. Mazar, The „Bull Site“ – An Iron Age I Open Cult Place, BASOR 247 (1982), 27-42, 34.
  • Die Stierstatuette der sog. Bull Site (offenes Heiligtum östlich von Tell Dōṭān; Eisenzeit I; BIBEL+ORIENT Datenbank Online). © Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz
  • Phantasievolle Rekonstruktion der sog. „Bull Site“ als Kultstätte. Aus: W. Zwickel, Der salomonische Tempel, Taf. 3b; Zeichnung: Cora Fischer nach Entwurf von Wolfgang Zwickel; © Calwer Verlag, Stuttgart.

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