Deutsche Bibelgesellschaft

Credo, kleines geschichtliches

(erstellt: März 2011)

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1. Name und Inhalt

Das Bekenntnis Dtn 26,5-9 bzw. eigentlich Dtn 26,5-10 ist in der Forschung seit der Mitte des 20. Jh.s als „kleines geschichtliches Credo“ (von Rad) bzw. „heilsgeschichtliches Credo“ bezeichnet worden. Es ist in der Folge als „Kurzformel des Glaubens Israels“ bzw. als „locus classicus für das Nachdenken über die Heilsgeschichte“ wahrgenommen worden. Das als Geschichtssummarium gestaltete Bekenntnis steht im Kontext einer jährlichen Erntedankfeier und des zugehörigen Darbringungsritus (Dtn 26,1-5.11). Es bietet nacheinander folgende vier geschichtlich gearteten Themenblöcke: erstens den Auszug des aramäischen Stammvaters nach Ägypten mit der Fremdlingschaft und der Vermehrung zu einem Volk daselbst (V. 5), zweitens die Ausbeutung und Unterdrückung in Ägypten (V. 6), drittens die Erhörung des Hilfeschreis durch JHWH (V. 7) und viertens die Herausführung aus Ägypten (→ Exodustradition) mit Verweisen sowohl auf die ägyptischen → Plagen wie die → Meerwundererzählung und die Landgabe (V. 8-9). In V. 10 wird dann dankbar anerkannt, dass JHWH der Geber des Landes und des landwirtschaftlichen → Segens ist (V. 10). Die vier genannten Themen sind aus der vorausgehenden pentateuchischen Darstellung und dem Geschichtssummarium in Num 20,14-16 bekannt und vergleichsweise formelhaft formuliert. Außerdem wird beim vierten Abschnitt über die Herausführung und Landgabe das im Dtn so wichtige Stichwort der (kultischen) „Stätte“ eingebracht (vgl. insbesondere Dtn 12,13-18). Die Nennung der „Stätte“ verweist auf die Samuel- und Königsbücher und so auf den Tempelbau vor (vgl. insbesondere 1Kön 8,29-35). Diskussionsbedürftig war jedoch immer die außergewöhnliche Bezeichnung des Stammvaters als eines dem Umkommen nahen Aramäers, das Fehlen einer Erinnerung an die Sinai- wie die Wüstenereignisse und das Fehlen des Mose-Namens im Bekenntnis.

2. Alter

Das Credo erfuhr in der überlieferungsgeschichtlichen Forschung Mitte des letzten Jahrhunderts bei → Gerhard von Rad und → Martin Noth besondere Aufmerksamkeit, weil man es im Kern für recht alt, gar vorstaatlich, und insofern für einen zuverlässigen Indikator alter Überlieferungskomplexe hielt. Dass es den → Sinai und die dortigen Ereignisse nicht enthält, galt als wichtiger Hinweis auf das überlieferungsgeschichtlich junge Alter gerade dieser Tradition. Ebenfalls als spät galten damals die Verbindung des Mosenamens (→ Mose) mit dem Exodus und die Wüstentradition.

Seit den 1960er Jahren (Rost 1965; Richter 1967) hat sich jedoch die Erkenntnis durchgesetzt, dass derartige komplexe Summarien erst einer vergleichsweise späten Zeit der Bekenntnisentwicklung entstammen. Konkret denken heute viele an eine Entstehung frühestens in der exilischen Zeit des 6. Jh.s v. Chr. Das Credo wird auch wegen seiner terminologischen Eigenheiten als Paradebeispiel exilisch-deuteronomistischer Theologie identifiziert. Dass der → Sinai / Horeb, Mose und die Wüstenereignisse nicht auftauchen, liegt am ehesten am Charakter dieses Erntedankbekenntnisses, das sich auf die dafür relevanten Themen Umherirren bei Landbesitzlosigkeit, Unterdrückung in Ägypten, Exodus, Landnahme beschränkt und außer dem Gottesnamen keine weiteren Namen nennt. Außerdem zeigt ein Vergleich, dass Dtn 26,5-9 auf verschiedenen Texten aufbaut, diese Texte also literargeschichtlich voraussetzt und daher selbst nicht uralt sein kann: auf Bestimmungen des Bundesbuches in Ex 22,20.22 zu den Fremden, auf dem kürzeren Geschichtssummarium Num 20,15-16 (anders Oswald 2000) und wohl sogar auf der selbst frühestens spätexilischen priesterschriftlichen Darstellung der Unterdrückung in Ägypten in Ex 1-6 (vgl. Michel 2005). Mit dieser Abhängigkeit von anderen Texten und der vergleichsweisen Spätdatierung ist das kleine geschichtliche Credo prinzipiell kein besonders geeigneter Text, um historisch die zu vermutende Vorgeschichte Israels vor der sog. Landnahme zu rekonstruieren. Historisch ist das Credo eher Zeuge einer (erfüllten?) Hoffnung auf einen neuen Exodus und eine erneute Landnahme bzw. Landgabe in der ausgehenden Exilszeit des 6. Jh.s, verdichtet in den Farben der vorstaatlichen Anfangszeit Israels.

3. Der umkommende Aramäer

Lediglich der Aufhänger vom – je nach Übersetzung – „umkommenden“, „umherirrenden“ oder „heimatlosen“ → Aramäer passt nicht so recht in die deuteronomistische Szenerie des 6. Jh.s v. Chr. Er könnte ein älteres Überlieferungsstadium bezeugen, zumal „flüchtige Aramäer“ auch in den assyrischen Königsinschriften des 8./7. Jh.s v. Chr. immer wieder vorkommen (Tigay). Freilich müsste diese Selbstbezeichnung eher sogar vor das 9.Jh. v. Chr. zurückreichen: Denn unmittelbar nach den israelitisch-aramäischen Kämpfen des 9. Jh.s, bei denen es für Israel um Sein oder Nichtsein gegangen sein muss, ist eine solche Auskunft über die Abstammung doch schlecht vorstellbar.

Im Hebräischen besteht der erste Satz des Credo als verbloser Nominalsatz nur aus drei kurzen alliterierenden Worten ’ăramî ’ôved ’avî: „(Ein) Aramäer, (ein) umkommender, (war) (mein) Vater“. Auch wegen dieser geradezu poetischen Form halten viele diesen Satz für einen älteren, vordeuteronomistischen Kern, zu dem ggf. auch der Bekenntnissatz von V. 10a gehören soll. Bei der Identifikation des Aramäers ist am ehesten an → Jakob (vgl. Hos 12,13) zu denken, vielleicht auch an → Abraham. Allerdings waren beide ethnisch gesehen keine Aramäer, trotz verwandtschaftlicher bzw. Heiratsverbindungen nach → Haran in Aram (Jakob) bzw. des zwischenzeitlichen Aufenthalts dort (Abraham, vgl. Gen 11,31-12,5). Antike Übersetzungen und die Wiedergabe in der Pessach-Haggada lesen mit anderer Vokalisierung des hebräischen Konsonantentextes in „Ein Aramäer vernichtete meinen Vater bzw. wollte meinen Vater vernichten“. Bei dem Aramäer ist dann an → Laban nach Gen 31 gedacht. Allerdings gelten diese Lesungen allesamt als sekundär (anders Norin 1994). Auch der vermittelnde Vorschlag, „Aramäer“ nicht als Volksbezeichnung, sondern als sozialen terminus technicus im Sinne von „heimatlos“ zu lesen, hat nicht wirklich überzeugt. Ebenso wenig tut dies der Vorschlag, statt „Aram“ habe hier ursprünglich „Edom“ gestanden, was sich im Hebräischen stark ähnelt (so Zakovitch 2009).

Vielleicht steckt hinter dem Bekenntnis dazu, von einem „umkommenden Aramäer“ abzustammen, gar keine alte Tradition, allerdings auch kein ganz junger Rahmen um die vermeintlich älteren Verse Dtn 26,6-9 (so Rüterswörden 2006). Vielmehr könnte mit der Behauptung der Abstammung vom umkommenden Aramäer der Ursprung der Identität Israels sehr bewusst außerhalb des eigenen Volkes gesetzt worden sein. Das verweist auf die Funktion des Credo, dem es um Ethos, nicht Ethnos geht.

4. Theologische Aussage

Der Akzent des Credo, das bis V. 9 insgesamt wie der erste Satz des Credo in Dreierrhythmen gegliedert ist, liegt auf der Aussage, dass sich Israel aus Ausländern, Fremden und sozial Deklassierten herleitet und so ein aus Not und Unterdrückung entstandener Verband ist, der sich nun seinerseits solidarisch gegenüber Marginalisierten zeigen soll. Deshalb findet sich die Fremden- und Unterdrückungsthematik in und nach dem Credo so fest verankert. Man vgl. Dtn 26,11. Danach soll die Erntedankfreude auch den Leviten und speziell den „Fremdling, der bei dir lebt“ ergreifen. Mit dieser „Freude“ ist sicher auch an ein solidarisches Teilen gedacht, wie bei den anderen Fällen von kultischer „Freude“ im → Deuteronomium (vgl. Dtn 12,7.12.18; Dtn 14,26; Dtn 16,11.14.15), zumal alle dort genannten Feste ebenso wie das Erntedankfest an der zentralen kultischen „Stätte“ (vgl. Dtn 26,9) gefeiert werden.

Im strengen Sinne ist Dtn 26,5-9.10 zwar schon deshalb kein Glaubensbekenntnis, weil ein einleitendes „ich glaube“ bzw. „wir glauben“ fehlt. Aber für spätere christliche Glaubensbekenntnisse ab 1Kor 15,3-7 maßgeblich ist doch die (heils)geschichtliche Fundierung des Glaubensbekenntnisses, in der allerdings eine schöpfungstheologische Aussage in klassischer Form nicht auftaucht. Zusammen mit V. 10 hat das Credo eher die Form eines Dankliedes, in dem nach dem Schema „Not – Hilferuf – Erhörung – Rettung“ der in der Geschichte für Israel heilvoll wirkende Gott JHWH im Zentrum steht, obwohl er erst in Dtn 26,7 als Akteur benannt und mit dem „Gott der Väter“ identifiziert wird: So wie JHWH Israel ins Land gebracht hat, so bringt Israel bzw. der einzelne Israelit jetzt den Ertrag des göttlichen Segens, die pflanzlichen Erstlingsfrüchte, dankbar vor diesen Gott. All dies sind aber Charakteristika, die die gattungskritisch nicht zu eng ausgelegte Bezeichnung „Glaubensbekenntnis“ bzw. „Credo“ für diesen Text als durchaus gerechtfertigt erscheinen lassen. Das Credo vergegenwärtigt und aktualisiert für Israel grundlegende Heilstaten JHWHs in einem jährlich wiederkehrenden Ritual, auch wenn dabei – kontextbedingt – nicht alle maßgeblichen Heilstaten JHWHs Erwähnung finden; das gilt insbesondere für die Gabe des Gesetzes.

Literaturverzeichnis

  • Braulik, G., 1994, Deuteronomium II (NEB Lfg. 28), Würzburg.
  • Gertz, J.-Chr., 2000, Die Stellung des kleinen geschichtlichen Credos in der Redaktionsgeschichte von Deuteronomium und Pentateuch, in: R.G. Kratz / H. Spieckermann (Hgg.), Liebe und Gebot. Studien zum Deuteronomium (FS L. Perlitt; FRLANT 190), Göttingen, 30-45.
  • Janowski, B., 2009, Das Doppelgesicht der Zeit. Alttestamentliche Variationen zum Thema „Mythos und Geschichte“, in: M. Grohmann / Y. Zakovitch (Hgg.), Jewish and Christian approaches to Psalms (HBS 57), Freiburg u.a., 113-139.
  • Kreuzer, S., 1989, Die Frühgeschichte Israels in Bekenntnis und Verkündigung des Alten Testaments (BZAW 178), Berlin.
  • Lohfink, N., 1971, Zum „kleinen geschichtlichen Credo“ Dtn 26,5-9, ThPh 46, 19-39.
  • Michel, A., 2005, Wem nützen Glaubensbekenntnisse? Eine Reflexion auf das heilsgeschichtliche Credo in Deuteronomium 26, ThQ 185, 38-51.
  • Norin, S., 1994, „Ein Aramäer, dem Umkommen nahe“ – ein Kerntext der Forschung und Tradition, SJOT 8, 87-104.
  • Noth, M., 1948, Überlieferungsgeschichte des Pentateuch, Stuttgart.
  • Oswald, W., 2000, Die Revision des Edombildes in Numeri XX 14-21, VT 50, 218-232.
  • Preuss, H.D., 1982, Deuteronomium (EdF 164), Darmstadt.
  • von Rad, G., 1938, Das formgeschichtliche Problem des Hexateuchs (BWANT IV, 26), Stuttgart.
  • Richter, W., 1967, Beobachtungen zur theologischen Systembildung in der alttestamentlichen Literatur anhand des „kleinen geschichtlichen Credo“, in: L. Scheffczyk / W. Dettloff / R. Heinzmann (Hgg.), Wahrheit und Verkündigung (FS M. Schmaus), Band I, München / Paderborn / Wien, 175-212.
  • Rost, L., 1965, Das kleine geschichtliche Credo und andere Studien, Heidelberg.
  • Rüterswörden, U., 2006, Das Buch Deuteronomium (NSK.AT 4), Stuttgart.
  • Schaper, J., 2009, „Dann sollst du anheben und sagen vor dem HERRN, deinem Gott … “. Heil, Geschichte und Gedächtnis im Deuteronomium, in: J. Frey / St. Krauter / H. Lichtenberger (Hgg.), Heil und Geschichte. Die Geschichtsbezogenheit des Heils und das Problem der Heilsgeschichte in der biblischen Tradition und in der theologischen Deutung (WUNT 248), Tübingen, 63-73.
  • Seebass, H., 2003, Numeri 10,11-22,1 (BK.AT IV/2), Neukirchen-Vluyn.
  • Tigay, J.H., 1996, Deuteronomy (JPS Torah Commentary), Philadelphia / Jerusalem.
  • Zakovitch, Y., 2009, „My father was a wandering Aramean“ (Deuteronomy 26:5) or „Edom served my father“, in: N.S. Fox / D.A. Glatt-Gilad / M.J. Williams (Hgg.), Mishneh Todah. Studies in Deuteronomy and its cultural environment (FS J.H. Tigay), Winona Lake, 133-137.

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