Demut (AT)
(erstellt: Oktober 2015)
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1. Definition
Das deutsche Wort „Demut“ kommt von dem althochdeutschen Wort diemuoti, das sich aus dionōn „dienen“ sowie muoti „Mut“ zusammensetzt und die Grundhaltung eines Dienenden bezeichnet. Anders als im griechisch-antiken Verständnis bezeichnet Demut im nicht-profanen Gebrauch innerhalb des Alten Testaments die positiv konnotierte Grundhaltung einer bewussten und absoluten Anerkennung der Angewiesenheit auf Gott oder Mitmenschen samt der Beugung unter deren Willen.
2. Semantik
Demut wird im Alten Testament durch folgende Verbwurzeln ausgedrückt:
כנע kn‘;
שׁפל špl (samt Derivat: שָׁפֵל šāfel);
ענה ‘nh II (samt Derivaten: wesentlich die Nomen עֳנִי ‘ånî sowie עֲנָוָה ‘ănāwāh bzw. עַנְוָה ‘anwāh, selten: עֱנוּת ‘änût und תַּעֲנִית ta‘ǎnît und die Adjektive עָנִי ‘ānî und עָנָו ‘ānāw);
דלל dll II (samt Derivaten: דַּלָּה dallāh und דַּל dal).
ענה
‘nh II und דלל dll II verursachen die Schwierigkeit, „Demut“ klar von „Armut“ (→ Armut / Arme
2.1. כנע kn‘. Verben der Wurzel כנע kn‘ sind im Alten Testament 36-mal belegt, und zwar nur im Nif. „gedemütigt werden / sich demütigen“ sowie „niedergeworfen werden“ und im Hif. „jemanden demütigen“ (Lev 26,41
2.2. שׁפל špl und Derivate. שׁפל špl tritt im Alten Testament 28-mal als Verbwurzel auf, davon 10-mal im Qal in der Grundbedeutung „niedrig sein“ zum Ausdruck eines Zustandes (Jes 2,9.11.17
2.3. ענה ‘nh II und Derivate. Auch die Verbwurzel ענה ‘nh II und ihre Derivate kommen im Alten Testament wie in seiner Umwelt in religiösen und profanen Kontexten vor. Zu zählen sind 79 Verbformen, die meisten davon im Pi. (Gen 16,5
2.4. דלל dll II und Derivate. Häufiger als die insgesamt nur 7-mal belegte Verbwurzel דלל dll II, die spirantische Ausformung זלל zll und das Derivat דַּלָּה dallāh (5-mal) ist mit 48 Belegen das Adjektiv דַּל dal. Die Mehrheit von insgesamt 39 Belegen findet sich in poetischen Kontexten (1Sam 2,8
2.5. πραΰς praús und ταπεινός tapeinós. πραΰς praús ist in der → Septuaginta
3. Abgrenzung zu „Armut“
Insbesondere bei den Wurzeln ענה
‘nh II und דלל dll II bleibt häufig unklar, ob sie primär materiell-sozial → „Armut
4. Verwendung
4.1. Selbstdemütigung
„Selbstdemütigungen“ treten im Alten Testament in Verbindung mit Enthaltungen, wie etwa →
Fasten
Vornehmlich mit dem Adjektiv עָנִי
‘ānî finden sich z.B. in den Psalmen zahlreiche Selbstcharakterisierungen des Beters, bei denen eine primär materiell-soziale Dimension des Terminus zurücktritt. Auch sie richten sich stets auf die Empathie Gottes (Ps 25,16
4.2. Zwischenmenschliche Demütigung
In zwischenmenschlichem Verhalten vermag ein Mensch andere Menschen zu demütigen (
Gen 16,6.9
4.3. Demut vor Gott
Von besonderer theologischer Bedeutung ist die Demut des Menschen vor Gott. Alle Aussagen der Selbstdemütigung des Menschen (s.o. zu 4.1.) zielen hin auf eine Demut vor Gott; ebendies gilt auch für Aussagen zur Demut innerhalb des weisheitlichen Tun-Ergehen-Zusammenhangs (s.o. zu 4.2.). Demut meint dabei eine Grundhaltung des Menschen vor Gott. Der Mensch bekundet Gott seine unbedingte Angewiesenheit auf ihn und hofft auf seine Empathie in Wort und Handeln. Den Aussagen der Texte zufolge zeigt Gott eine besondere Nähe zu den Demütigen. Diese wird vor allem in den Psalmen (
Ps 22,25
4.4. Gott als Demütigender
Ebenso wie Gott eine besondere Empathie für Demütige aufweist, zeigt er sich als Demütigender gegen die Menschen. Dies kann positiv oder negativ gemeint sein und sich gegen Einzelne (
Dtn 8,2.3.16
5. Demut als Ideal
Weder für Demut, noch für das gedemütigt Werden lassen sich ausschließlich positive oder negative Beispiele finden. Weder das Demütigen von Mitmenschen (s.o. zu 4.2.), noch das Demütigen von Feinden durch Gott ist positiv konnotiert (s.o. zu 4.4.), außer im Kontext von Verheißungen. Hingegen sind Selbstdemütigungen (s.o. zu 4.1.) und Demut vor Gott (s.o. zu 4.3.) positiv konnotiert. Dieses Verständnis von Demut ist von dem Akt des Demütigens abzugrenzen. Wo Demut selbst zum Thema gemacht wird (
Spr 15,33
6. Ausblick auf Entwicklungen im Judentum und Christentum
Die bereits im Alten Testament zu findende positive Konnotation der Demut wird in →
Qumran
Für das Neue Testament wurde auf den Hauptbegriff ταπεινός
tapeinós bereits verwiesen (s.o. zu 2.5.). Wie im Alten Testament hat ταπεινός tapeinós anders als in profaner Literatur fast immer eine positive Bedeutung und gilt als Tugend des Frommen. Die innerhalb des Alten Testaments beobachtete Entwicklung des Demutsbegriffs, die sich in den Qumranschriften und in Talmud und Midrasch fortsetzt, lässt sich auch im Neuen Testament beobachten. Dort wird Demut auf Christus selbst bezogen (Joh 4,34
Literaturverzeichnis
1. Lexikonartikel
- Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Stuttgart 1933-1979
- Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl., Tübingen 1957-1965
- Biblisch-historisches Handwörterbuch, Göttingen 1962-1979
- Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Stuttgart u.a. 1973ff
- Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1977-2004
- Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, 5. Aufl., München / Zürich 1994-1995
- Neues Bibel-Lexikon, Zürich u.a. 1991-2001
- Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Freiburg i.Br. 1993-2001
- Bibeltheologisches Wörterbuch, Graz 1994
- Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2007
- Calwer Bibellexikon, Stuttgart 2003
- Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament, Darmstadt 2006
- Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel, Gütersloh 2009
- Theologisches Wörterbuch zu den Qumrantexten, Stuttgart 2011ff
2. Weitere Literatur
- Berges, U. / Hoppe, R., 2009, Arm und reich (NEB Themen 10), Würzburg
- Birkeland, H., 1933, ʻAni und ʻAnāw in den Psalmen (SNVAO.HF 2), Oslo 1933
- Bremer, J., 2016, Wo Gott sich auf die Armen einlässt. Der sozio-ökonomische Hintergrund der achämenidischen Provinz Yəhūd und seine Implikationen für die Armentheologie des Psalters (BBB 174), Göttingen
- Causse, A., 1922, Les „pauvres“ d’Israël (Prophètes, psalmistes, messianistes) (EHPhR 3), Straßburg / Paris
- Deselaers, P., Art. Demut. I. Biblisch, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Band III, Freiburg i.Br. 1995, 89-90
- Gelin, A., 1953, Les pauvres de Yahvé (TeDi 14), 2. Aufl., Paris
- Jacob, E. , Art. Demut, in: Biblisch-historisches Handwörterbuch, Bd. 1, Göttingen 1962, 335
- Kittel, R., 1929, Die Psalmen (KAT VIII), 6. Aufl., Leipzig (Exkurs „Armut“ 284-288)
- Kraus, H.-J., 1989, Theologie der Psalmen (BK.AT XV/3), 2. Aufl., Neukirchen-Vluyn
- Kraus, H.-J., 2003, Psalmen 1. Teilband. Psalmen 1-59, 7. Aufl., Neukirchen-Vluyn (Exkurs „Armut“ 82-83)
- Kuschke, A., 1939, Arm und reich im Alten Testament mit besonderer Berücksichtigung der nachexilischen Zeit, ZAW 57, 31-57
- Melzer, F., 1973, Entstehung und Wirksamkeit des christozentrischen Wortschatzes im Deutschen, dargelegt an dem Wort Demut, in: Th. Michels / A. Paus (Hgg.), Sprache und Sprachverständnis in religiöser Rede, Salzburg / München, 203-210
- Ploeg, J. van der, 1950, Les pauvres d’Israël et leur piété, OTS 7, 236-270
- Rahlfs, A., 1892, ‘āni und ‘ānāw in den Psalmen, Göttingen
- Wengst, K., 1987, Demut. Solidarität der Gedemütigten, München
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