Diaspora (AT)
(erstellt: Februar 2017)
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1. Begriffsklärung
Der Begriff „Diaspora“ steht im Kontext historischer Theologie für die Ausbreitung und Niederlassung von Israeliten, Judäern bzw. Juden in Ländern außerhalb Israel-Palästinas. Davon abgeleitet ist der soziologische Terminus, der die Existenzweise einer Minderheit in einer anders geprägten Gesellschaft bezeichnet. Für die Definition des Begriffs sind drei Ebenen zu unterscheiden.
1.1. Das griechische Nomen diaspora (διασπορά) bedeutet „Zerstreuung“ im resultativen Sinn, bezeichnet also den Zustand des Zerstreutseins. Das zusammengesetzte Substantiv, von dem es in antiken Texten außerhalb der Bibel nur eine Handvoll Belege gibt (van Unnik, 74-76.169-191; Kiefer, 219 mit Anm. 11), hat sich genau wie das dazugehörige Verb διασπείρω diaspeirō bereits im antiken Sprachgebrauch von der agrarischen Bedeutung des zugrunde liegenden Verbs σπείρω speirō „säen“ gelöst und bezieht sich regelmäßig auf kleinteilige Gegenstände („verstreuen“) oder im übertragenen Sinne auf ideelle Größen („ausbreiten“) oder Gruppen (z.B. ein Heer „zerstreuen“; vgl. van Unnik, 85-88). Die Belege der → Septuaginta
1.2. Das biblische Motiv „Zerstreuung“: Mit Ausnahme der Stelle Dan 12,2
1.3. Der demografische Begriff „Diaspora“: Im Zusammenhang mit dieser konkreten Geschichtsdeutung nimmt das Zustandsabstraktum διασπορά diaspora „Zerstreuung“ teilweise eine kollektive Bedeutung an: „die Zerstreuten“ (2Makk 1,27
2. Das Motiv „Zerstreuung“
In der Septuaginta ist διασπορά diaspora noch vorwiegend Metapher für ein Gerichtshandeln Gottes, das Israels Vertreibung aus seiner Heimat bewirkt. Dieses Motiv der Zerstreuung Israels wird sowohl in der griechischen als auch in der hebräischen Bibel mit ganz verschiedenen Vokabeln beschrieben.
2.1. „Zerstreuung“ in der Septuaginta
2.1.1. διασπορά diaspora. Mit dem Nomen διασπορά diaspora werden Formen der hebräischen Verben נדח ndḥ Nif. (Dtn 30,4
Das mit διασπορά diaspora korrespondierende hebräische Abstraktnomen תְּפוּצָה təfuṣāh ist erst im 9.-10. Jh. belegt (vgl. The Historical Dictionary Project
2.1.2. σκορπίζω skorpizō und λικμάω likmaō. Zum Wortfeld „zerstreuen“ in der Septuaginta gehören weiterhin σκορπίζω skorpizō / διασκορπίζω diaskorpizō „wegschleudern / zerstreuen“ bzw. διασκορπισμός diaskorpismos „Zerstreuung“ und λικμάω likmaō „worfeln“. Während διασπείρω diaspeirō / διασπορά diaspora vor allem als Übersetzung von פוץ pwṣ und זרה zrh belegt sind, werden mit διασκορπίζω diaskorpizō / διασκορπισμός diaskorpismos am häufigsten נפץ npṣ und פוץ pwṣ wiedergegeben. λικμάω likmaō „worfeln“ ist Äquivalent zu זרה zrh, steht aber auch für פוץ pwṣ.
2.1.3. διασπορά diaspora – Wurzel גלה glh. Bemerkenswert ist, dass διασπορά diaspora im Alten Testament nie als Übersetzung für die Wurzel גלה glh „wegziehen“ dient, aus der sich ja mit גּוֹלָה gôlāh „Exilantenschar“ und גָּלוּת gālût „Wegzug ins Exil / Exilantenschar“ feste hebräische Begriffe für außerhalb des Israel-Landes lebende Jüdinnen und Juden gebildet haben. Diese Eigentümlichkeit deutet auf einen Unterschied in der Semantik: Während „Zerstreuung“ die Bewegung von einem Zentrum zu verschiedensten Punkten der Peripherie beschreibt und damit zum passenden Ausdruck für die Summe der Migrationsbewegungen ins Ausland wird, ist der mit גלה glh ausgedrückte „Wegzug“ eine konkrete unidirektionale Ortsveränderung und wird in der Hebräischen Bibel deshalb auch am häufigsten im Zusammenhang der Deportationen ins assyrische oder das babylonische Exil benutzt.
Deutlich ist, dass διασπορά diaspora zur Zeit der Septuaginta-Übersetzung noch kein allgemein verbreiteter Begriff für die demografische Situation des jüdischen Volkes war. Dazu sind die Belege in der frühjüdischen und urchristlichen Literatur viel zu spärlich.
Das spricht gegen die Annahme, διασπορά diaspora sei aus polemischen Gründen in die griechische Bibelübersetzung eingeführt worden. διασπορά diaspora ist weder Euphemismus, mit dem sich Diaspora-Juden gegen eine Exilstheologie, die sie als von Gott Verstoßene abstempelte, gewehrt haben (so im Anschluss an K.L. Schmidt: Stuiber, 973; Ruppert, 2f; Schnackenburg, 324f), noch ein ausdrücklich negativer Begriff, der als Protest gegen die hellenistische Neigung, sich mit der Situation in der Zerstreuung abzufinden, eingeführt worden sei (so im Anschluss an van Unnik, 69-107: Bohlen; Baumann; Mélèze Modrzejewski 1993, 68‑71; zur Kritik an van Unnik vgl. auch Scott 1997, 178‑184). Die Besonderheiten in der Septuaginta-Übersetzung lassen sich jedenfalls durchaus im Rahmen eines neutralen Begriffsverständnisses erklären: Im Allgemeinen stehen διασπείρω diaspeirō und διασπορά diaspora für die gängigen hebräischen Zerstreuungsvokabeln. In Dtn 28,25
Das Vokabular der „Zerstreuung“ bringt ein wesentliches Motiv in die biblische Deutung der Geschichte Israels ein. Die Interpretation des Exils als ein Gericht Gottes wird um eine Reihe wichtiger Aspekte erweitert.
a) Das Motiv „Zerstreuung“ betont die Vielfalt der Migrationsbewegungen: Die Rede vom Wegzug ins Exil (Wurzel גלה glh) und von der Deportation in Kriegsgefangenschaft (Wurzel שׁבה šbh) erfasst nur einen Ausschnitt der Exilserfahrungen des israelitisch-jüdischen Volkes. Das Motiv der Zerstreuung ist besser geeignet, die vielfältigen Erfahrungen von Krieg, Flucht, Vertreibung und Deportation, die über Israel hereingebrochen sind, wenn nicht zu erklären, so doch in Worte und Bilder zu fassen.
b) Das Motiv „Zerstreuung“ betont die Initiative Gottes: Massendeportationen werden von Menschen organisiert. Die Ansiedlung von Kriegsgefangenen in assyrischen und babylonischen Provinzen war im Interesse der imperialen Machthaber. Aber die Zerstreuung in alle Welt konnte nur Gottes Werk sein. Und nur er kann deshalb die Zerstreuten wieder sammeln.
c) Das Motiv „Zerstreuung“ betont den bleibenden Bezug zum Zentrum: In der Semantik von Zerstreuung als polydirektionaler Ortsveränderung von einem Zentrum zur Peripherie liegt begründet, dass der Ausgangspunkt der Zerstreuung immer Gegenstand der Reflexion bleibt. Die Frage nach dem Verhältnis von Zentrum und Peripherie gehört wesenhaft zu diesem Motiv. Der Hinweis auf das Woher, auf das ursprüngliche Zentrum klingt unwillkürlich mit, wo von Zerstreuung die Rede ist.
2.2. „Zerstreuung“ in der Hebräischen Bibel
Neben vielen Überschneidungen sind auch einige charakteristische Eigenheiten der hebräischen Wurzeln im Wortfeld „Zerstreuung“ auszumachen.
2.2.1. Die Wurzeln נדח ndḥ und דחה dḥh „wegstoßen / versprengen“
Die verwandten Wurzeln נדח ndḥ und דחה dḥh „wegstoßen / versprengen“ bringen die Vehemenz des strafenden → Zorns
Das Hirt-Herde-Motiv (→ Hirt
2.2.2. Die Wurzeln פוץ pwṣ und נפץ npṣ „zerstreuen / ausbreiten“
Die Wurzeln פוץ pwṣ und נפץ npṣ „zerstreuen / ausbreiten“ bringen einen weiteren Aspekt in das Zerstreuungsmotiv ein: Das Strafgericht Gottes führt nicht zur Vernichtung, sondern zur Ausbreitung Israels. Es bringt Israel der Menschheit näher, die sich ja auch über die Fläche der Erde zerstreut hat (Gen 9,19
Ist die Zerstreuung ein göttlicher Akt, dann ist das Sein in der Zerstreuung gottgewollt. Wer könnte wider diese gewaltige zentrifugale Kraft, mit der Gott sein Volk „in alle Länder“ zerstreut, bei nächstbester Gelegenheit zurückkehren? Vielmehr weiß sich Israel in der Zerstreuung darauf angewiesen, dass Gott es sammelt und zurückbringt (Dtn 30,3
Nur in seltenen Fälle ist das mit פוץ pwṣ und נפץ npṣ ausgedrückte Gericht an Israel als vernichtendes „Zerschmettern“ vorgestellt (Jer 13,24
Das Hirt-Herde-Motiv, das auch mit den Wurzeln פוץ pwṣ und נפץ npṣ formuliert wird, rückt die Frage nach der Verantwortung der Hirten für die Zerstreuung ihrer Herde in den Fokus (1Kön 22,17
2.2.3. Die Wurzel זרה zrh „worfeln / zerstreuen“
Wo זרה zrh „worfeln“ sich auf die Zerstreuung Israels bezieht, steht es fast immer im resultativen Piel. Als solches bezeichnet es eine impulsive, ihr Objekt mit Gewalt zerstreuende Aktion, die aber dennoch nicht sinnlose Gewalt, sondern eine zielgerichtete Tätigkeit Gottes ist.
Die Metapher vom Worfeln (→ Dreschen und worfeln
Von Ezechiel wird oft betont, dass das Worfeln „vor den Augen der Völker“ geschieht (Ez 20,41
2.2.4. Die Wurzel פזר pzr „zerstreuen“
Die Wurzel פזר pzr „zerstreuen“ wird Joel 4,2
3. „Diaspora“ als demografischer Begriff
3.1. Exil und Diaspora
In verschiedenen theologischen Lexika wird – in Anlehnung an das Konzept der Encyclopaedia Judaica (Ben-Sasson; Stern 2007) – versucht, zwischen „Exil“ und „Diaspora“ zu differenzieren (Rosenblüth; Dan). Während „Diaspora“ hier als neutraler Begriff gilt, behandelt man → „Exil
Auch eine chronologische Differenzierung will nicht recht gelingen: Wo endet „Exil“, wo beginnt „Diaspora“? Die verbreitete lexikografische Einteilung in (assyrisches bzw. babylonisches) „Exil“ und (persische bzw. hellenistisch-römische) „Diaspora“ beruht auf keiner einsichtigen historischen Trennlinie. Mit den babylonischen Deportationen entstand vielmehr die babylonische Diaspora etc.
Schließlich kann auch Freiwilligkeit oder Unfreiwilligkeit der Emigration kein Kriterium für die Abgrenzung von „Exil“ und „Diaspora“ sein. Die Gründe für das Verlassen des Kernlandes waren vielfältig (s.u. 3.2.). Auch Flüchtlinge gehen nicht „freiwillig“ ins Exil. Auf der anderen Seite können ehemals Deportierte durchaus aus freien Stücken in der Diaspora wohnen bleiben.
Letztlich kann nur das Wortpaar „Exil und Diaspora“ das Phänomen jüdischen Lebens außerhalb Israel-Palästinas angemessen umreißen (Kiefer, 42-46).
3.2. Die Anfänge der jüdischen Diaspora
Vielfältige Gründe haben zur Entstehung und Ausbreitung der jüdischen Diaspora geführt. Ein auch zahlenmäßig entscheidender Faktor waren sicherlich die Massendeportationen in neuassyrischer und neubabylonischer Zeit (→ Assyrien
3.2.1. Mesopotamien
3.2.1.1. Assyrische Deportationen: Laut assyrischen Annalen ließ → Tiglat-Pileser III.
Israeliten, die in neuassyrischen Texten an ihren Namen (TUAT I, 411f; Oded; Zadok 1988) und in Darstellungen an ihrer Tracht (Wäfler) identifizierbar sind, lassen erkennen, dass die Deportierten in relativer Freiheit lebten, überwiegend keinen Sklaven-Status hatten, Geschäftsaktivitäten ausüben konnten, vor Gericht als Zeugen anerkannt waren und zum Teil in höhere Positionen im Heer und in der Verwaltung aufsteigen konnten (→ Exil
Über das weitere Geschick der Israeliten lässt sich kaum noch etwas sagen. Vielleicht hat der Zustrom von Judäern 701 v. Chr. unter → Sanherib
Auch ein Anschluss späterer Generationen an die judäischen Exilsgemeinden in Babylonien ist nicht ausgeschlossen. Im frommen Judentum ist die Hoffnung auf ein Überleben der „zehn verlorenen Stämme“ lebendig geblieben (Rabinowitz; Parfitt).
3.2.1.2. Babylonische Deportionen: Unter → Nebukadnezzar II.
Neben der Verpflegungsliste für → Jojachin
Besonders eindrücklich sind die erst nach und nach veröffentlichten Texte aus Āl-Yāḫūdu, Bīt-Našar und Bīt-Abīrām aus den Jahren 572-477 v. Chr. (Joannès / Lemaire; Pearce / Wunsch; Horowitz / Greenberg / Zilberg; online: CTIJ
3.2.1.3. Babylonien in persischer Zeit: In den Dokumenten aus dem Muraschu-Archiv in Nippur, die zwischen 455 und 403 v. Chr. datiert sind, deuten zahlreiche Namen auf Exilanten (TUAT I, 412-419; Zadok 1979, 44‑78; 1980, 13‑21; Coogan, 119‑126; Bickerman, 344‑348; Stolper; Zadok 1988, 305‑312; → Exil
Wie die Keilschrift-Dokumente bezeugen auch die finanziellen Zuwendungen von Exilsjudäern für den Tempelbau (Esr 1,6
Das berühmte → Weinen
Auch in seiner bleibenden Verbindung zur alten Heimat erweist sich bereits das frühe babylonische „Exil“ als „Diaspora“: Die Exilanten blieben auf ihr Zentrum bezogen. Jer 29,1ff
3.2.1.4. Babyloniens Entwicklung zum Zentrum des rabbinischen Judentums (Neusner; Herman): Die Quellen für die seleukidische und frühe parthische Epoche sind spärlich (2Makk 8,20
3.2.2. Ägypten und Kyrenaika
Ägypten war für Israeliten und Judäer ein traditionelles Einwanderungsland in Krisenzeiten (vgl. Gen 42,14
Auch der Ursprung der judäischen Militärkolonie in → Elephantine
Die Elephantine-Papyri bezeugen, dass Beziehungen zu Jerusalem gepflegt wurden. Der Jahu-Tempel auf der Nilinsel und die Verehrung weiterer Gottheiten sind zwar Ausdruck einer abweichenden Kult-Theologie, aber kaum als bewusste Konkurrenz zu Jerusalem verstanden worden (Frey, 173‑180.196f). Vielleicht weist die Nordost-Orientierung des Tempels auf die Bindung an Jerusalem, sie entspricht allerdings auch dem allgemeinen Bebauungsschema (von Pilgrim).
In hellenistischer Zeit gab es weitere Einwanderungswellen. Arist 11-37 berichtet von der, sicher übertriebenen, aber doch die Dimensionen umreißenden Zahl von 100.000 jüdischen Deportierten unter Ptolemaios I., die als Militärsiedler an den Grenzen eingesetzt worden und unter seinem Nachfolger freigekommen seien. Papyri und Inschriften aus hellenistischer Zeit (Honigman 1993) bezeugen jüdisches Leben in → Edfu
Die jüdische Gemeinde von Leontopolis (Tell el-Jehūdīje), die wohl von politischen Emigranten in der Zeit der seleukidischen Bedrohung Judäas gegründet wurde, ist vor allem wegen des ca. 160 v. Chr.-73 n. Chr. dort existierenden Tempels bekannt (Frey, 186-194). Inschriften lassen auf eine etablierte und selbstbewusste jüdische Gemeinde schließen.
In römischer Zeit erlebte das ägyptische Judentum einen Niedergang. Antijüdische Stimmung entlud sich in den Pogromen in Alexandria unter Flaccus (38 n. Chr.). Die brutale Niederschlagung des Diaspora-Aufstands 117 n. Chr. bedeutete das Ende einer der größten jüdischen Diaspora-Gemeinde der Antike (Kasher 1985, 26‑28; Mélèze Modrzejewski, 198‑225; Pucci Ben Zeev, 167-190).
Auch in der Kyrenaika ist jüdisches Leben seit ptolemäischer Zeit belegt (1Makk 15,23
3.2.3. Syrien und Phönikien
Als Nachbarregionen waren Phönikien und Syrien schon früh das Ziel israelitisch-judäischer Exilanten. → Josephus
In Antiochia hatten sich schon im 2. Jh. zahlreiche Juden niedergelassen. Josephus (Contra Apionem 2,39) behauptet, Seleukos I. Nikator habe den Juden in Antiochia Bürgerrechte verliehen. Die prunkvolle Synagoge und die religiösen Zeremonien der großen antiochenischen Gemeinde waren zu ihrer Zeit berühmt (De bello Judaico 7,45). Unter dem hasmonäischen Hohenpriester Jonatan (→ Jonatan
3.2.4. Kleinasien
In Kleinasien gab es schon in vorhellenistischer Zeit jüdische Exilanten. In Jes 66,19
In Sardis wurden die Reste einer Synagoge ausgegraben, die vom 2.-7. Jh. n. Chr. in Funktion war und bis zu 1000 Personen Platz bot (van der Horst 43-52; www.sardisexpedition.org
3.2.5. Zypern
Auch Zypern wird 1Makk 15,23
3.2.6. Makedonien, Griechenland und Ägäische Inseln
Spätestens für das 3. Jh. v. Chr. sind Juden und Samaritaner in Griechenland belegt (zu Jes 66,19
3.2.7. Rom
Eine feste jüdische Gemeinde ist spätestens im ersten Drittel des 1. Jh.s v. Chr. vorauszusetzen. Als nach der Eroberung Jerusalems 63 v. Chr. Kriegsgefangene in Scharen nach Rom deportiert und später freigelassen oder freigekauft wurden, wuchs die Zahl jüdischer Einwohner beträchtlich (Philo, Legatio ad Gaium 155).
Die Deportationen nach der Niederschlagung des ersten jüdischen Aufstandes gegen Rom 66‑70 n. Chr. führten wiederum jüdische Kriegsgefangene nach Rom. Die Schätzungen, die sich an Nachrichten von Josephus und Tacitus orientieren, sprechen von 20.000‑40.000 jüdischen Einwohnern vom 1.-3. Jh. (Baron 2007, 385; Leon, 15.135; Barclay, 295). Archäologische Daten lassen eher niedrigere Zahlen vermuten (Rutgers 2006: 6000 Juden, das sind 1,3% der Bevölkerung). Trotz des in der Kaiserzeit aufflammenden Antisemitismus und der Ausweisungen von Juden unter Tiberius und Claudius kann eine Kontinuität der jüdischen Gemeinde in Rom bis heute vorausgesetzt werden (vgl. insgesamt: Leon, 1‑45; Smallwood 1976, 72‑177; Rutgers 1995; Levinskaja, 167‑193; Barclay, 282‑319).
3.2.8. Weitere Ausbreitung
Von Rom aus gelangten Juden auch in die westlichen Teile des römischen Reiches (Solin), später auch über Nordafrika nach Spanien. In byzantinischer Zeit ist dann jüdische Präsenz auch in Italien, Gallien und auf der arabischen Halbinsel bezeugt (Stemberger; zur weiteren demografischen Entwicklung: DellaPergola).
4. Das Selbstverständnis der antiken jüdischen Diaspora
Schon in der Hebräischen Bibel gehört die Diaspora zu den selbstverständlichen Gegebenheiten (vgl. die Bücher → Esra und Nehemia
Trotz der theologischen Deutung der Zerstreuung als Gottesstrafe, bedeutet Leben in der Diaspora nicht Gottverlassenheit. Schon → Ezechiel
Wer im Exil lebt, ist keineswegs der schlechtere Jude (Jer 24). Ohne die Initiative und finanzielle Unterstützung der Diaspora, hätte der Zweite Tempel nicht errichtet werden können (Esr 7,16-20
Das Ausland ist also kein Ort der Gottesferne. Man kann auch in der Diaspora Gott finden (Dtn 4,27
Auffälligerweise haben viele Texte, die von den Zerstreuten Israels und ihrer Sammlung reden, eine universalistische Komponente (z.B. Jes 11
Hatten schon Jes 66,18-21
Die große Ausbreitung des Judentums ist in hellenistisch-römischer Zeit ein gängiger Topos bei Philo, Josephus, aber auch bei nichtjüdischen Autoren (Philo, De vita Mosis 2,232; In Flaccum 45f; Legatio ad Gaium 214‑216; 281‑283; Josephus, Antiquitates Judaicae 4,115f; 11,133; 14,114f; De bello Judaico 2,398; 6,442; 7,43; Contra Apionem 2,284; außerdem Sib 3,271; Apg 2,9‑11; Seneca bei Augustinus, De civitate Dei 6,11).
Über die Einwohnerzahlen der Diaspora-Gemeinden gibt es keine verlässlichen Informationen.
Ein Historiograf des 12. Jh.s, der syrische Jude Gregorius bar Hebraeus, berichtet von einem Zensus durch Claudius 48 n. Chr., der 6.944.000 Juden im römischen Imperium ergeben habe. Demnach käme man zuzüglich der jüdischen Bevölkerung, die außerhalb der Reichsgrenzen lebte, auf ca. acht Millionen, davon über zwei Millionen in Israel-Palästina, je über eine Million in Ägypten, Kleinasien und Syrien, im Durchschnitt etwa 7‑10% der Gesamtbevölkerung (Baron 1952, 167-171.370-372; 2007, 384f; Smallwood 1976, 374; Kasher 1981, 711; Feldman 1993, 555f; van Unnik, 54; Meeks 34). Andere Berechnungen stützen sich auf die kaum glaubwürdigen Angaben von Philo, In Flaccum 43 (1 Million Juden in Alexandria), und Josephus, De bello Judaico 2,61; 6,425; 7,368 (dazu Stern 1974, 119.122; Smallwood 1976, 222; Delia; Feldman 1993, 23.468f.555f; Barclay, 4, Anm. 1; Meeks, 206; Hegermann, 149; Mélèze-Modrzejewski 1995, 73-75). Vorsichtigere Schätzungen kommen auf den Höchststand von 4,5 Millionen Juden im 1. Jh. n. Chr. (DellaPergola, 4f). Archäologische Daten nach prosopografischen Gesichtspunkten und Berechnungen der „carrying capacity“ einer Region (Broshi 1997; 2001, 80-120; zur Diskussion: Goodblatt, 102-121) führen zu bedeutend niedrigeren Zahlen, sowohl für Israel-Palästina (nach Broshi: Höchststand 1,1 Millionen im 6. Jh. n. Chr.) als auch für die Diaspora (Stemberger 9f), z.B. für Rom im 1. Jh. n. Chr. zu 6000 Juden, d.h. 1,3% der Bevölkerung (Rutgers 2006).
Bei Philo und Josephus hat die Betonung des Bevölkerungsreichtums apologetischen Charakter: Sie begründen damit die Notwendigkeit jüdischer Siedlungen im Ausland. So werden dann auch in der Septuaginta, bei Philo und Josephus die Diaspora-Gemeinden als „Kolonien“ (ἀποικίαι apoikiai) des Mutterlandes Israel bezeichnet, sozusagen als Außenposten des Judentums (Gafni 1997, 27-30; Gruen, 24-28; Kiefer, 217f.399-407.421f; de Vos, 92f).
In hellenistisch-römischer Zeit versteht man Israel-Land und Diaspora also längst als die zwei Pole des jüdischen Lebens, die sie bis heute geblieben sind. In eindrücklicher Weise beschreibt Philo, In Flaccum 45f (ähnlich Legatio ad Gaium 276-329) ihr Verhältnis: Den Diaspora-Juden gilt ihr Gastland als Vaterland (πατρίς patris), Jerusalem aber als Mittelpunkt (oder: Mutterstadt μητρόπολις mētropolis; dazu Pearce 2004).
Die Verbundenheit der Diaspora mit Jerusalem (nicht unbedingt mit dem heiligen Land; vgl. de Vos) fand ihren praktischen Ausdruck in den am Jerusalemer Tempeldienst ausgerichteten und auf ihn bezogenen Gebetszeiten (vgl. schon Dan 6,11
Sib 1,196‑198.261f ist ein anschauliches Beispiel für jüdischen Lokalpatriotismus in der Diaspora. Phrygien, aus dem der Verfasser offensichtlich stammt, wird hier als das Land bezeichnet, das nach der Sintflut zuerst aus dem Wasser auftauchte (1,196), auch der Ararat wird hier verortet (1,262) – eine Lokaltradition, die zeitgenössische Münzen, auf denen Noah und die Arche abgebildet sind, bestätigen (Trebilco, 86‑88) – und als „Ernährerin für alle“ gepriesen (1,198).
Der → Aristeasbrief
Im Rahmen seiner Apologie des Judentums stellt Josephus (Contra Apionem 2,38f) die Juden nicht nur als gleichberechtigte, sondern auch als lokalpatriotische Bürger ihrer Heimatstädte dar: Wie die Juden in Alexandria Alexandriner genannt werden, so die in Antiochia Antiochener und die in Ephesus Epheser. Darin sei nichts Verwunderliches, schließlich seien sie alle „zur Gründung einer Kolonie (ἀποικία apoikia) herbeigerufen worden“ und würden sich folglich mit ihr identifizieren.
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Abbildungsverzeichnis
- Die Anfänge der israelitisch-jüdischen Diaspora (Überblick). Von: J. Kiefer, basierend auf Kartenmaterial von Natural Earth public domain (http://www.shadedrelief.com
) - Judäer im Deportationszug aus Lachisch nach der Eroberung durch Sanherib (Reliefdetail, Palast Sanheribs in Ninive, nach 700 v. Chr.). Aus: A.H. Layard, A Second Series of Monuments of Nineveh, London 1853, Pl. 22
- Judäer im assyrischen Heer (Ninive, Rampe zum Ischtartempel). Aus: R.D. Barnett, The Siege of Lachish, IEJ 8, 1958, 161-164, Plate 32B (Relief BM 124901)
- In Babylon gefundene Verpflegungsliste (Öl, Gerste) für Menschen, die am Hof leben; unter ihnen wird der ehemalig König Jojachin genannt. © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
- Brief Jedonjas, Priester im Jahu-Tempel von Elephantine, an Bagohi, Gouverneur in Jerusalem (Duplikat aus dem Elephantine-Archiv). Aus: E. Sachau: Drei aramäische Papyrusurkunden aus Elephantine (aus den Abhandlungen der Königl. Preuss. Akademie der Wissenschaften vom Jahre 1907), Neudruck, Berlin 1908, Tafel I (P. 13495, Staatliche Museen zu Berlin)
- Synagoge von Sardis mit zwei Tora-Schreinen (Blick nach Osten). Aus: Flickr (http://www.flickr.com
); © Chris Stroup, lizenziert unter CreativeCommons-Lizenz Attribution-NonCommercial-NoDerivs 2.0 Generic (CC BY-NC-ND 2.0); Zugriff 9.3.2017 - Synagoge von Sardis mit Tora-Lesepult und Löwenfiguren (Blick nach Westen). Aus: Wikimedia Commons; © Carole Raddato, Wikimedia Commons, lizenziert unter CreativeCommons-Lizenz cc-by-sa 2.0; Zugriff 9.3.2017
- Titusbogen in Rom: Jüdische Kriegsgefangene und Tempelschatz im Triumphzug zu Ehren von Titus nach der Eroberung Jerusalems 70 n. Chr. (Nachzeichnung). Aus: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 2., Leipzig 1905, Tafel Bildhauerkunst VI, Abb. 7 (http://www.zeno.org
)
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