Drama (AT)
(erstellt: September 2015; letzte Änderung: September 2016)
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1. Dramen im Alten Testament?
Seit der Antike wird vertreten, dass es im Alten Testament Texte gibt, die als „Dramen“ bzw. als „dramatisch“ zu verstehen sind. Ebenso lange dauert die Diskussion darüber an. Wir stellen diese als „dramatisch“ interpretierten Texte zunächst in einer Übersicht zusammen, jeweils ergänzt durch eine Auswahl von Exegeten, die sie so ausgelegt haben (vgl. die ausführlichen, nach biblischen Büchern geordneten Nachweise im Literaturverzeichnis):
Das
Hohelied (→ Origenes
Neuerdings hat man prophetische Redetexte, namentlich des Jesajabuches (Watts 2005, Eaton 1979, Baltzer 1999, Nitsche 2006, Berges 2008) sowie der Bücher Hosea (Wolff 1965, Utzschneider 2002), Micha (Utzschneider 1996, ders. 2005, ders. 2007a), Nahum (Dietrich 2014), Habakuk (Witte 2009, Matthews 2012), Zefanja (House 1988) und Maleachi (Kessler 2009) als Dramen oder dramatische Text interpretiert.
Weitere Textsorten, vor allem die Psalmen (Mowinckel 1922; ders. 1932; ders. 1953, Gunkel 1933, Weiser 1953), die Klagelieder (Berges 2004; Koenen 2015) und die Proverbien (Schmitt 1993) kommen hinzu.
Auch die erzählenden Texte des Alten Testaments verfügen über ein erhebliches „dramatisches“ Potential. Merkwürdigerweise gehen daraus aber erst in nachalttestamentlicher Zeit Bibeldramen hervor. Ein frühes Beispiel ist die „Exagoge“, die die Exoduserzählung dramatisiert (vgl. dazu unten 3). Die Bibelspiele der Reformationszeit dramatisieren fast ausschließlich alttestamentliche Erzählungen und deren herausragende Protagonisten (Wasmuth 2007). Auch der israelische Theaterwissenschaftler Shimon Levi (Levi 2000) konzentriert sich bei seiner Erkundung der „Bibel als Theater“ hauptsächlich auf Figuren und Plots der biblischen Erzähltexte. (Eine Gesamt- oder Überblicksdarstellung der dramatischen Rezeption biblischer Texte und Stoffe fehlt, soweit mir bekannt.)
Die Begriffe „Drama“ bzw. „dramatisch“ werden in der alttestamentlichen Wissenschaft der vergangenen einhundert Jahre – und im Wesentlichen in diesem zeitlichen Rahmen bewegt sich dieser Artikel – von unterschiedlichen Voraussetzungen her und in vielfältigen Differenzierungen gebraucht. Dabei spielen gängige, aber vielleicht nicht immer hinreichend reflektierte Vorverständnisse aus der Theater- und Leseerfahrungen der jeweiligen Exegetinnen oder Exegeten eine Rolle. Vor allem aber wirken sich Anregungen und Erkenntnisse aus Nachbarwissenschaften aus, insbesondere aus der Altphilologie, der Altorientalistik und Ägyptologie, der vergleichenden Religionswissenschaft und neuerdings auch der Literaturwissenschaft sowie der sog. Performanz- oder Theatralitätsforschung (vgl. unten „4. Aufführung / Performanz biblischer Texte“). Die vielerlei Schattierungen, die der Drama-Begriff in der alttestamentlichen Wissenschaft unter diesen Einflüssen angenommen hat, lassen sich zu vier Idealtypen zusammenfassen. Diese idealtypischen Konzepte dienen sowohl dazu, bestimmte alttestamentliche Texte als Dramen bzw. als dramatisch zu charakterisieren, wie bisweilen auch dazu, eine solche Zuschreibung gerade abzulehnen. Meist wird nicht nur eines dieser idealtypischen Konzepte auf jeweils einen bestimmten Text angewandt, sondern in der Regel mehrere in unterschiedlichen Kombinationen. Die vier Idealtypen sind die folgenden: 1. Kultdramen und dramatische Rituale, 2. das griechische Drama, 3. der dramatische Text, 4. die Aufführung / Performanz biblischer Texte.
2. Kultdramen und dramatischen Rituale
Der Idealtypus des „Kultdramas“ wurde zu Beginn des 20. Jh.s entwickelt; er verbindet die Vorstellungen von Ritus, Fest und Liturgie mit dramatischer Darstellung. Anregungen dazu gingen von neu gewonnenen Kenntnissen altorientalischer (vgl. Jacobsen 1975; Pongratz-Leisten 1998) und altägyptischer Festrituale (Duchain 1980; Utzschneider 2007c, 272 Anm. 11 mit Lit.) sowie der vergleichende Religionswissenschaft aus.
In seinen „Psalmenstudien II“ von 1922 postulierte der norwegische Alttestamentler →
Sigmund Mowinckel
Mowinckel verfuhr methodisch in den Bahnen der Gattungskritik seines Lehrers →
Hermann Gunkel
Artur Weiser (1893-1978) hat vor allem mit den
Theophanieschilderungen in den Psalmen (Ps 18
Dennoch wird man die visuelle und akustische Dramatik der Texte, auf der die kultgeschichtlichen Deutungen beruhen, nicht ignorieren können. Dies lassen auch neuere Forschungen erkennen, die freilich deutlich zurückhaltender urteilen. Nach Martin Leuenberger „versteht man“ die Einzelpsalmen, die die Konzeption des →
Königtums Gottes
Im gleichen Sinne urteilt Erhard Gerstenberger über die Sprache der individuellen Bitt- und Klagepsalmen: „... sie ist nicht für den feierlichen monologischen Vortrag, ebenso wenig für die Privatlektüre bestimmt. Vielmehr zeigt sie alle Charakteristiken des liturgischen Gebrauchs, mit wechselnden Stimmen, korrespondierenden und kontrastierenden Formelementen, dramatischer Struktur.“ (Gerstenberger 2003, 78).
Die Idee dramatischer Aufführungen alttestamentlicher Texte in rituellen, liturgischen Kontexten ist nicht auf die Psalmen bzw. Psalmengattungen beschränkt geblieben. Sie wurde auch für dramatische Texte anderer Provenienz vermutet oder postuliert.
Über ein dramatisches Ritual in der altisraelitischen Prophetie berichtet
1Kön 22,10-14
„10 Und der König von Israel und Joschafat, der König von Juda, saßen jeder auf seinem Thron, bekleidet mit königlichen Gewändern, auf einem freien Platz am Toreingang von Samaria. Und alle Propheten weissagten vor ihnen. 11 Und Zedekia, der Sohn des Kenaana, machte sich eiserne Hörner und sagte: So spricht JHWH: Mit denen wirst du die Aramäer niederstoßen, bis du sie vernichtet hast. 12 Ebenso weissagten alle Propheten, indem sie sagten: Zieh hinauf nach Ramot in Gilead und führe [Israel] zum Sieg! JHWH hat es in die Hand des Königs gegeben.“
Die Könige wohnen dem Ritual in ihrem Ornat thronend bei. Ein Prophet tritt in einer Hörnermaske auf und führt eine Symbol- und Analogiehandlung aus; seine Kollegen sprechen den formelhaft-liturgischen Satz „JHWH hat es in die Hand des Königs gegeben!“, der den Königen signalisiert, dass sie losschlagen können. Heute würde man von einer „street - performance“ sprechen.
Literarisch auf einer anderen Ebene (vgl. unter 3. Das griechische Drama) liegt das „Liturgische Drama“, als das Klaus Baltzer den „
Deutero-Jesaja“ (→ Deuterojesaja
Für das
Hiobdrama (→ Hiob
In einen noch weiteren kultgeschichtlichen Rahmen hat, neben anderen, Hartmut Schmökel das
Hohelied (→ Hoheslied
Der keineswegs vollständige Überblick zeigt, dass die „Dramatik“ im Kult vielfältige Gestalten annehmen kann. Literarisch spiegelt sich dies in ganz unterschiedlichen Ausdrucksformen – in kurzen rituellen Formeln, liedhaften Texten oder Liturgien bis hin zu umfangreichen, hochpoetischen Dramentexten. In dieser Vielfalt galt das Interesse vor allem den Großformen, für die man geeignete Erklärungsmodelle suchte. Man fand sie im griechischen Drama.
3. Das griechische Drama
Der für die Kriteriologie der dramatischen Interpretation biblischer Texte und damit auch für die Diskussion des Für und Wider einflussreichste Idealtypus ist das griechische Drama, insbesondere die attische Tragödie. Dazu hat sicher beigetragen, dass die Tragödie sehr klare Konturen der Form und des inneren Ablaufes aufweist – zumal in der systematisierend-lehrhaften Darstellung der Poetik des Aristoteles (Aristoteles 1994) und darauf beruhenden modernen Lehrbüchern (vgl. zum Folgenden Latacz 2003, 65-77).
Zu den „Formkonstituenten“ der Tragödie gehören die Auftritte des Chores und der Einzelschauspieler und die Dialoge zwischen Chor bzw. Chorführer und Einzelschauspielern. Stringent ist die formale Dreiteilung in den Prolog, der vom Einzug des Chores (Parodos) abgeschlossen wird, in die meist fünf Epeisodien sowie in den Schlussteil, den Exodos. Die Epeisodien werden jeweils von Chorstücken abgeschlossen und entsprechen etwa den Akten oder Szenen in moderner Terminologie. Die innere Ablaufsdynamik der Tragödie ist bestimmt durch einen schlüssigen, spannenden Handlungsablauf. Er wird nach einer (meist der Mythologie entnommenen) Fabel („Mythos“ / Plot) inszeniert und läuft in drei Hauptstufen, Desis, Metabasis (Pathos, Peripetie, Anagnoresis), Lysis, die dem Plot die Spannung verleihen.
Die Vorstellung eines solchen schlüssigen Handlungsablaufs steht hinter manchem kritischen Einwand gegenüber der dramatischen Deutung alttestamentlicher Texte. Ein Beispiel dafür ist eine auf die Hoheliedauslegung gemünzte Bemerkung von →
Wilhelm Rudolph
Als weitere Merkmale der griechischen Tragödie nennt Joachim Latacz bestimmte Grundbedingungen, an die ihre Aufführungen gebunden sind. Die Tragödie ist gebunden u.a. an den Ort eines „Theaters“, wörtlich einer „Schaustätte“ („Ortsgebundenheit“, Latacz 2004, 19), sie erfordert bestimmte Mittel der Bühnenarchitektur und des Ensembles („Mittelgebundenheit“, Latacz 2003, 26f). Schließlich ist sie an einen bestimmten Anlass gebunden. Tragödien wurden in Athen nur bei Theaterwettbewerben anlässlich zweier athenischer Dionysosfeste, den „Lenäen“ im Januar und den „Großen Dionysien“ Ende März / Anfang April (Latacz 2003, 22) aufgeführt. Die letztgenannte Grundbedingung rückt die griechische Tragödie zumindest grundsätzlich in die Nähe eines Kultdramas. Theatrale Orte und Mittel, wie sie für die griechische Tragödie unabdingbar sind, oder gar Theaterbauten, lassen sich nun aber im Alten Testament und seiner Lebenswelt bis ins 1. Jh. v. Chr. nicht nachweisen, – dann aber „in großer Zahl“ (Lang 2001, 826). So scheint es nicht wenigen Beobachtern, „dass weder die biblische noch die talmudische Welt Material enthält, das man in irgendeiner Weise als ‚Theater’ oder als ‚Drama’ im griechisch-antiken oder auch modernen Sinn bezeichnen kann.“ (Morgenstern 2009, 67; ähnlich Sowden 1971, 1049; Zakovitch 2004, 38; Wilks 2003).
Solch kritischen Stimmen gegenüber stehen nun allerdings Exegesen, die biblische Redetexte, und zwar vor allem das Buch Hiob (vgl. dazu ausführlichen Forschungsbericht bei Klinger 2007, 18-48) und prophetische Redetexte (Utzschneider 2007a), als Dramen verstehen, die dem griechischen Idealtyp zumindest nahe kommen. Dazu werden Beobachtungen zur Form und zum Plot und zu dessen „Ablaufsdynamik“ angeführt. Auch unmittelbare Kenntnis griechischer Dramen wird bisweilen vermutet.
Die Behauptung einer Affinität des
Hiobbuches (→ Hiob
Auch in neuerer Zeit hat man eine enge inhaltliche, bis in einzelne sprachliche Formulierungen gehende Berührungen mit dem griechischen Drama, namentlich mit der Tragödie „Der gefesselte Prometheus“ des Aischylos beobachten wollen (Slotki 1927/28; Murray 1968; vgl. dazu auch Klinger 2007, 41-45).
In jüngster Zeit hat Bernhard Klinger das Hiobbuch konsequent nach dem Modell einer attischen Tragödie interpretiert. Er findet zahlreiche Formkonstituenten wieder (Klinger 2007, 57-67), so die Redeformen von Rhesis und Monodie; er teilt den Text auf in einen Eingangsteil (Proömium) mit Prolog und Parodos (
Hi 1,1-3,26
Das heißt nun allerdings nicht, dass es als aufgeführtes Stück unvorstellbar wäre. Luis Alonso-Schökel hat eine „imaginative“ Inszenierung des Hiobbuches vorgeschlagen, die den Auftritt Gottes im Prolog und seine bis zur Theophanie der Gottesreden reichende schweigende Präsenz dramaturgisch zur Geltung bringt: „... we can imagine a stage with a second floor ... In the upper realm the prologue in heaven unfolds... here God is seated and continues to observe without being seen or heard by Job until the final act...“ (Alonso- Schökel 1977, 46f). Diese Inszenierung würde nicht nur ein wesentliches Spannungsmoment des Hiobbuches sinnfällig machen, sondern entspräche auch dem Aufbau der attischen Tragödienbühne; auf dem Dach des Kulissenbaues, dem „Theo-logeion“, konnten Götter auftreten und sprechen (Latacz 2003, 27). Auf die Bedeutung der Imagination für dramatische Texte und ihre Performanz wird zurückzukommen sein.
Auch für die prophetischen Redetexte spielt der griechische Idealtypus eine Rolle. Dies gilt besonders für Klaus Baltzers Interpretation Deutero-Jesajas, der für die „Gattungsbestimmung des antiken Dramas das attische Drama als Paradigma ausserhalb des AT“ gewählt hat (Baltzer 1999, 35). Wie schon bei entsprechenden Interpretationen Hiobs ist einer der Gründe dafür, „dass zeitlich gesehen ... Dtjes und die klassische Zeit des griechischen Dramas gar nicht so weit auseinander liegen“ (Baltzer 1999, 35). Literarische Vergleichspunkte zwischen attischem Drama und Deutero-Jesaja sind „der Rahmen mit Prolog und Epilog, sowie die Gliederung in einzelne Akte und Szenen“ (Baltzer 1999, 36). Dabei entsprechen die Chorlieder, die im attischen Drama die Epeisodien trennen, den „Hymnen“, die bei Deutero-Jesaja die ersten fünf der sechs Akte abschließen (Baltzer 1999, 39 und 43 mit Anm. 94).
Einen Chor, der die Einwohnerschaft Zions / Jerusalems repräsentiert, sowie einen Chorführer nimmt auch Stefan A. Nitsche in seiner dramenanalytischen Auslegung der sog. Jesaja-Apokalypse Jes 24-27 an (Nitsche 2006, 131).
Der Jesajakommentar von John D.W. Watts (Watts 2005) versteht das gesamte
Jesajabuch (→ Jesajabuch
Deutlicher und enger am klassischen Muster orientiert sich Paul R. House in seiner
Zefanja-Interpretation (→ Zefanja
Dem griechischen Idealtypus besonders nahe ist ein Text, der außerhalb des Alten Testaments steht, aber wohl noch innerhalb der Grenzen von dessen Entstehung „im Zeitraum von der 2. Hälfte des 3. bis in den Anfang des 1. Jahrhunderts v. Chr.“ (Vogt 1983, 116) verfasst wurde: Die „
Exagoge“ eines gewissen Ezechiel aus Alexandria, genannt „der Tragiker Ezechiel“. Sie setzt die Exoduserzählung von der Einwanderung der Jakobsfamilie (Ex 1) bis zum Beginn der Wüstenwanderung (Ex 15,27
Schließlich ist die „Exagoge“ ein Zeugnis der Kulturbeziehung zwischen der alttestamentlich-jüdischen und der griechisch-hellenistischen Welt. Dafür spricht schon ihr vermuteter Entstehungsort Alexandria, der nicht nur ein großes jüdisches „Politeuma“ beherbergte, sondern auch eine bedeutende Theaterstadt gewesen ist (Pfrommer 1999, 70f) und in dessen Bibliothek die klassische griechische Literatur tradiert und bearbeitet wurde. Auf diesem Hintergrund wird die Vermutung plausibel, Ezechiel habe „in erster Linie für griechisch sprechende Juden [geschrieben], denen er mit der dramatischen Bearbeitung des Buches Exodus eine Alternative zur euripidäischen ... Tragödie schaffen wollte“ (Vogt 1983, 117). Das Stück ist (fast) nur in Zitaten in den Kapiteln 28 und 29 des IX. Buch der „Präparationes Evangelicae“ des Kirchenhistorikers →
Eusebius von Cäsarea
Literarisch gesehen bietet der Idealtyp des griechischen Dramas, wenn auch keine exakten, so doch hinreichend signifikante Vergleichspunkte mit den dramatischen Großtexten im Alten Testament wie Deutero-Jesaja, Hiob oder Hohelied. Der Vergleich lässt aber auch Fragen offen bzw. wirft neue auf (vgl. etwa die differenziert-kritischen Erwägungen zu Hiob bei Dell 2007, 11-18).
Zu den offenen Fragen gehört, ob es nicht – etwa für Hiob – „Parallelen“ im altorientalischen Kontext gibt, die formal und thematisch viel näher liegen (vgl. Uehlinger 2007) als die griechischen Dramen und wie sich diese zu jenen verhalten.
Offen bleibt die Frage nach der „Aufführung“ (der Begriff findet sich schon bei Gunkel 1932, 59) der dramatischen Texte des Alten Testaments, vor allem der Großtexte. Nach allem, was wir heute wissen, hat es in alttestamentlicher Zeit in Palästina eine Theaterkultur und -architektur, die der griechischen und noch mehr der späteren hellenistisch-römischen vergleichbar wäre, nicht gegeben. Die Frage ist aber, ob die „Aufführung“ dramatischer biblischer Texte einer derartigen Theaterkultur überhaupt bedurfte (vgl. dazu unten 5.).
Eine neue, noch weniger diskutierte Frage ist, wie die „Dramatik“ der unterschiedlichen dramatischen Texte, von den kleineren rituellen bis hin zu den großen poetischen Texteinheiten, vergleichbar sind, ob es m.a.W. eine Art kleinsten gemeinsamen Nenner gibt, der dramatische Texte als solche erkennbar macht, und ob es darüberhinaus Kriterien gibt, nach denen die Unterschiede zu charakterisieren sind. Die Problemstellung ist zunächst eine rein literarische, die sich auf die überlieferten, schriftlichen Texte bezieht. Davon wird nun unter „4. Der dramatische Text“ zu handeln sein.
4. Der dramatische Text
Nach der Poetik des Aristoteles sind es sechs Elemente, „die jede Tragödie haben muß“. Diese „sind mythos (Handlung), ethe (Charaktere; Einzahl: ethos), lexis (Rede, Sprache), diánoia (Gedanke, Absicht), opsis (Schau, Szenerie) und melopoiía (Gesang, Musik).“ (Zitat Asmuth 1994, 3; vgl. Aristoteles 1994, 1450a). Nach dem dramenanalytischen Handbuch Bernhard Asmuths sind mythos, lexis und opsis „die drei tatsächlich wichtigsten, größerenteils formalen Elemente“ (Asmuth 1994, 4). Diese Auswahl hat sich nach Ansicht und Erfahrung des Autors dieses Artikels zur Bestimmung eines dramatischen Textes bewährt (vgl. Utzschneider 2007a, Utzschneider 2005, Nitsche 2006, Hopf 2014, dort jeweils auch Beispiele).
Die Lexis bzw. Figurenrede (vgl. Utzschneider 2007a, 198-205) ist im Redetext erkennbar an Anreden sowie am durch Namen, Bezeichnungen oder Pronomina markierten Wechsel der sprechenden bzw. angesprochenen Personen.
Die Figurenreden bilden den sogenannten „Haupttext“; „Nebentexte“ (vgl. dazu Utzschneider 2007a, 198-200) weisen Sprechpartien bestimmten Sprechern zu; sie beschreiben die Szenerie oder geben Hinweise zur Aufführung der Sprechpartien („Regieanweisungen“). Bis auf die Überschriften fehlen sie in den vorliegenden Editionen biblischer Texten weitgehend. Es ist aber wahrscheinlich, dass Sprecherwechsel in frühen Stadien der Textgeschichte durch „textgraphische“ Mittel, wie freie Zeilenenden, Spatien, Punkte Paragraphoszeichen o.ä. markiert waren. Dies lässt sich in antiken, griechischen Handschriften nachweisen (Lowe 1962; Nitsche 2006, 52f), und Stefan A. Nitsche (2006, insbesondere 135-141) hat es für Jes 13-23 sowie 24-27 an der Qumranhandschrift 1QIsa
a (→ Qumrantexte
Der Begriff des „Auftritts“ erscheint bereits in Hans Walter Wolffs Hoseakommentar in der Zusammensetzung „Auftrittsskizzen“ (Wolff 1965, XXIVf). Wolff ermittelte die Auftritte in einer Weise, die der oben skizzierten Lexisanalyse ganz ähnlich ist. Freilich verstand er die „Auftrittsskizzen“ nicht literarisch und formal als „dramatische Texte“, sondern als „kerygmatische Einheiten“, die „alsbald nach dem Verkündigungsvorgang angefertigt wurden“ (Wolff 1965, XXV).
Ihre
szenische Anschaulichkeit (Opsis) erzielen dramatische Reden durch Hinweise auf die Konstellation und das Aussehen der anwesenden Personen sowie auf die Schauplätze. In der Dramenanalyse spricht man von „impliziten Inszenierungsanweisungen“ (Pfister 2001, 37) oder „Wortkulissen“ (Asmuth 1994, 51f; Pfister 2001, 351). Solche „Wortkulissen“ können aus unterschiedlichen Bildrepertoires stammen und in unterschiedlichen Bezügen zum Text bzw. seinen Rezipienten stehen. Die einfachste Möglichkeit, eine „Wortkulisse“ aufzubauen, besteht darin, dass die Sprecher in ihren Reden sich selbst und / oder ihre Situation beschreiben und dadurch den Lesern oder Hörern die Möglichkeit geben sich diese vorzustellen. Ein Beispiel dafür ist Hhld 1,16b17
Zum Bildreservoire, dem die Wortkulissen entnommen sind, gehören häufig auch geprägte bildliche Vorstellungen des kultischen Symbolsystems. Ein Beispiel dafür ist die zerstörerische Theophanie (→
Epiphanie
Der Mythos bzw. Plot des griechischen Dramas ist in seiner Ablaufsdynamik festgelegt und strebt unter Wahrung der Einheit von Ort, Zeit und Handlung seiner Auflösung zu. Dies wird, wie gesagt, von nicht wenigen Forschern auch als „Messlatte“ für die Frage benutzt, ob biblische Texte dramatisch sind oder nicht. Aber muss das so sein?
Die Forschung hat für prophetische (Rede-)Texte ganz anders geartete „Plots“ herausgearbeitet. So wird immer wieder und zurecht versichert, dass das Zwölfprophetenbuch einem historischen Plot folgt, der von den sukzessiven Katastrophen des Untergangs der beiden Reiche zur Restitution der Jerusalemer Tempelgemeinde führt, ohne das „Ende der Geschichte“ zu propagieren, sondern in begleitenden eschatologischen Ausblicken die Perspektiven in eine ferne Zukunft der Gottesherrschaft (vgl. nur Sach 14) auszuziehen. Ein solcher geschichtlich-übergeschichtlicher Plot ist auch für Mi 1-5, gewissermaßen den ersten Akt der Michaschrift, herausgearbeitet worden (Utzschneider 2005 17f), während der zweite Akt als rîb, als Rechtsstreit, Gottes mit seinem Volk gestaltet (Utzschneider 2005, 18f) und darin dem Gliederungsprinzip der Hoseaschrift nahe ist. Eine weitere Möglichkeit der Plotbildung kann sich an der Lebensgeschichte oder „Berufsbiographie“ der Prophetenfigur orientieren. Als strukturell können Plots bezeichnet werden, die die Bücher nach dem Heils-Unheilsschema gliedern (Utzschneider 2007a, 211-214).
Für das Hohelied hat Matthias Hopf einen figurenzentrierten Plot herausgearbeitet: „Es werden verschiedene Episoden im Miteinander zweier Liebender, im Spiel der Liebe dargestellt, welches an seinem Ende wieder von Neuem beginnt. Eine lineare Entwicklung in der Handlung im Sinne eines Story-Plots ist dementsprechend nicht auszumachen. Vielmehr drehen sich die Episoden thematisch um das Hin und Her, das Auf und Ab der Liebe. Es werden Szenen einer Beziehung heraufbeschworen: Auf ein initiales ‚Sich-Kriegen’ folgt die Infragestellung der Beziehung, auf Zweisamkeit folgt die Trennung, auf Sehnsucht die Enttäuschung und dann wieder die glückliche Vereinigung trotz aller Gefährdungen der Liebe. Diese und ähnliche Abfolgen lassen sich mehrfach beobachten, wobei das Buch die Gewissheit der Liebe als Schlusspunkt setzt – jedoch nicht ohne durch den offenen Schluss anzudeuten, dass das Spiel der Liebe nie endet. Die Figurendarstellung ist das einende Element im Plot des Hlds ...“ (Hopf 2014, 294).
Kurz: Die Frage des Plots dramatischer Texte ist offen zu halten und im Grunde für jeden Text neu zu entscheiden. Soweit wir bis jetzt sehen, gibt es story-basierte, historisierende Plots, es gibt strukturelle und figurenzentrierte Plots und last but not least können – verfremdet oder nicht – rituelle Abläufe die Formung von „Plots“ beeinflussen.
Ein grundlegendes Merkmal dramatischer Redetexte und ein Abgrenzungskriterium gegenüber erzählenden Texten ist die Abwesenheit der literarischen Instanz eines impliziten, „allwissenden Erzählers“. (Unbeschadet dessen können Figuren, die sich aus dem Geschehen heraus, an das „Publikum“ wenden, auch in dramatischen Texten als Erzähler oder Erzählerinnen erscheinen.) Mit der Erzählerinstanz fällt eine Vermittlungs- und Orientierungsinstanz aus, die „par derrière“, aus späterer Warte, und „allwissend“ den Handlungsablauf darbietet und kommentierend ordnet.
Im dramatischen Text dagegen „gibt es – in der Regel – nur den ‚internal Point of View’“. D.h., die Perspektive auf das Geschehen wird durch eine (oder mehrere) der Figuren des Textes vorgegeben, aus deren Blickwinkel der Hörer, Leser oder Zuschauer das Geschehen verfolgen und ordnen kann.“ (Utzschneider 2007a, 214). Dieser Point of View kann der der Prophetenfigur sein, es kann aber auch der Point of View der im Text jeweils angesprochenen „expliziten“ Hörer sein, also etwa Israels oder der Völker. In einem historisierenden Plot ist der jeweilige Point of View durch die nebentextliche Überschrift raum-zeitlich mehr oder weniger genau verortet.
Dabei kann es auch zu „Kollisionen“ zwischen unterschiedlichen Zeitsystemen kommen, so etwa, wenn das durch die Überschrift vorgegebene Zeitsystem („Buchzeit“) mit dem zeitlichen Standpunkt des bzw. der realen Autoren oder Redaktoren („Autorenzeit“) nicht übereinstimmt (vgl. dazu Nitsche 2006, 48-50). Auch der jeweilige Standpunkt der Leser oder Hörer kann eine Rolle spielen. Die Perspektiven und die Bedeutung des Textes ändern sich, etwa wenn dessen Gehalt für die aktuellen Rezipienten schon weit zurückliegt, was in der „Buchzeit“ noch Gegenwart oder Zukunft ist. So stellt z.B. das „Jetztgedicht“
Mi 4,8-5,3
In der Forschung ist dieses Verständnis der dramatischen Texte des Alten Testaments erst ansatzweise diskutiert. Zunächst skeptisch und dann eindeutig ablehnend hat sich Odil Hannes Steck geäußert (vgl. Steck 1996, 50f, Anm. 69; ders. 2001, 159f, Anm. 81). Er hielt die „Kategorie „Drama“ für „hochüberfrachtet“ und historisch unangemessen. Vorsichtig zustimmend kommentiert hat Uwe Becker den Ansatz (Becker 2001, 44). Sehr differenziert setzt sich Annemarieke van der Woude (2005) mit dem Verhältnis des Dramas zum dramatischen Text auseinander. Sie bezieht sich dazu vor allem auf Klaus Baltzers These von Jes 40-55 als „Liturgisches Drama“ sowie auf Arbeiten von Henk Leene und Helmut Utzschneider. Van der Woude plädiert dafür, zwischen Drama und dramatischem Text streng zu differenzieren. Für ein Drama ist „Plurimedialtät“ erforderlich (van der Woude 2005, 160) wie vor allem Manfred Pfister (Pfister 2001, 24-27) hervorgehoben hat, auf den sich van der Woude bezieht. D.h., zu den Worten des dramatischen Textes müssen Musik, Bühnenbild und Requisiten hinzukommen, um daraus ein Drama werden zu lassen (vgl. van der Woude 2005, 170). Dramatische Texte sind „performative in nature“ (van der Woude 2005, 160), sie haben „performative moments“ (van der Woude 2005, 169). Sie haben eine „orientation towards presentation“ und ein Regisseur „can feel challenged to perform a text with dramatic traits in a plurimedial way“ (van der Woude 2005, 169). Ein Drama wird aus einem dramatischen Text erst, wenn dessen „Performanzpotential“ (Hopf 2014, 43) auch tatsächlich umgesetzt wird, einfacher gesagt: wenn es aufgeführt wird.
5. Die Aufführung / Performanz biblischer Texte
Die Aufführung bzw. Aufführbarkeit ist so etwas wie die „Gretchenfrage“ für „das“ Drama. Was aber ist eine „Aufführung“ (Performanz, performance)? Für viele ist damit die Vorstellung verbunden, dass ein mehr oder weniger klassischer, jedenfalls ein vorgegebener Dramentext inszeniert und auf die Bühne gebracht wird. Diese Vorstellung beeinflusst auch das Urteil über den dramatischen Charakter biblischer Texte (vgl. entsprechende Stimmen bei Utzschneider 2007a, 205f).
Neue Perspektiven hat dazu ein Diskurs eröffnet, der etwa seit 1960 immer weitere wissenschaftliche Kreise zieht und dabei zunächst die Linguistik (John L. Austin), dann die Theaterwissenschaft (Richard Schechner, Erika Fischer-Lichte) und die Kulturanthropologie (Victor Turner) erfasst und schließlich auch in die Theologie Eingang gefunden hat (für die alttestamentliche Exegese in Deutschland vgl. Hardmeier 2005, und dort besonders 291-313, für die nordamerikanische Exegese insbesondere der Propheten Doan / Giles 2005; für das Neue Testament Oestreich 2012; Strecker 2013): der Performativitäts- oder Theatralitätsdiskurs. In der Alltagssprache meint „Aufführung“ oder engl. „performance“ das, was sich allabendlich in Theatern oder an theaterähnlichen Plätzen ereignet. Nach der Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte kann von Aufführung bzw. Performanz die Rede sein, wenn sich Personen als Akteure oder Zuschauer (wobei die Zuordnung wechseln kann) „in leiblicher Kopräsenz” zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort versammeln und eine gemeinsame Situation teilen (Fischer-Lichte 2004, 11). Diese Definition eröffnet ein weites Feld an Situationen und Umständen, die als „Performanz“ oder “performativ” bezeichnet werden können. Aufführungen in diesem Sinne sind nicht nur die typischen theatralen Ereignisse wie Schauspiele, Opern oder Ballettaufführungen, sondern z.B. auch Truppenparaden, Fronleichnamsprozessionen oder Vorträge. Auch Alltagssituationen wie etwa Empfänge können Performanzen sein oder sich als solche entwickeln, wenn sich die Teilnehmenden als Akteure und / oder Zuschauer verhalten oder so fühlen. Bestimmte soziale Verhaltensmuster zur Konfliktlösung in Grenzsituationen lassen sich nach Victor Turner (1920-1983) als „soziale Dramen“ (Turner 2009, 95-139) begreifen. Victor Turner schlägt auch eine Brücke zwischen den großen poetischen Dramen und den dramatischen Ritualen (vgl. dazu oben 2.). Es bestehe „möglicherweise in allen Gesellschaften eine wechselseitige, vielleicht dialektische Beziehung zwischen sozialen Dramen und kulturellen Darstellungsformen. Das Leben ist ebenso sehr eine Nachahmung der Kunst wie umgekehrt.“ (Turner 2009, 114; vgl. auch Schechner 1987).
Entscheidend für den Aufführungsbegriff der Theatralitätsforschung sind Ereignishaftigkeit und Körperlichkeit. Er ist gerade nicht von den Texten her gedacht, die inszeniert, in der Inszenierung interpretiert und dann eben aufgeführt werden, sondern vom Ereignis und den Akteuren her. Texte, sprachliche Äußerungen können dabei eine Rolle spielen oder auch nicht. Es kommt im Ereignis nicht primär auf den schriftlichen Text und seine angemessene szenische Umsetzung an, sondern auf die Performanz der Sprecher und Sprecherinnen und die Wahrnehmung der Hörenden in der jeweiligen grundsätzlich unwiederholbaren Situation. Der Text ist in dieser Performanz nur eines der Darstellungsmittel. In der Aufführung „tritt der Text als verkörperter in Erscheinung“, als „gesprochene und gesungene Sprache“, gleichviel „ob es sich um einen Liedvortrag oder eine Dramen- oder Opernaufführung handelt, um eine Dichterlesung oder Vorlesen im Familienkreis“ (Fischer-Lichte 2013, 133).
Jedoch ist auch literarischen, schriftlichen Texten in der stillen Lektüre die Möglichkeit der Performanz nicht verschlossen. Die Performanz literarischer Texte nennt Fischer-Lichte „strukturelle Performativität“. „... literarische Texte (können) Körperlichkeit, Präsenz ... und Ereignishaftigkeit simulieren und suggerieren ...“ (Fischer-Lichte 2013, 140). Strukturelle Performativität ermöglicht es literarischen Texten, „... metaphorisch ‚selbst als Bühne der Aufführung (zu) fungieren, indem sie Theatralität fingieren und als solche reflektieren,(sic) und Bilder, Räume und Bewegungen mit ihr innewohnenden imaginativen Potential vor ihrem Publikum ausstellen’.“ (Fischer-Lichte 2013, 141 unter Verwendung eines Zitates aus Velte 2009, 555). So wird „Lesen ... ein performativer Akt“ (Fischer-Lichte 2013, 143).
Die beiden Möglichkeiten der „verkörperten“ und der „strukturellen Performativität“ realisieren die dramatischen, oder besser vielleicht: performativen Texte des Alten Testaments einerseits als Rezitations- und andererseits als Lesedramen. Eine der beiden oder auch beide Möglichkeiten zusammen werden für die Performanz der dramatischen Texte im Alten Testament immer wieder vermutet (z.B. für Deuterojesaja: van der Woude 2005, 170; für die Qumran-Version von Jesaja 24-27: Nitsche 2006, 275; für Hiob: Schorlemmer 1983, 111-114; Klinger 2007, 83). Auch Aristoteles hat bereits mit den beiden Möglichkeiten des Rezitations- bzw. des Lesedramas gerechnet und sie den theatralen Aufführungen (mindestens) gleichgestellt: „Die Handlung (scil. einer Tragödie) muß so zusammengefügt sein, daß jemand, der nur hört und nicht auch sieht, ... Schaudern und Jammer empfindet.“ (Aristoteles 1994, 1453b) „... die Tragödie (tut) auch ohne bewegte Darstellung ihre Wirkung, wie die Epik. Denn schon die bloße Lektüre kann ja zeigen, von welcher Beschaffenheit sie ist.“ (Aristoteles 1994, 1462a).
Für die Rezitation der dramatischen Texte des Alten Testaments gibt es sehr konkrete Hinweise. Stefan A. Nitsche hat – wie erwähnt – auf die „Textgraphik“ der großen Jesajarolle verwiesen: „Auch wenn die Textgraphik schon allein in sich Sinn machen würde, so gibt es doch eine Reihe von Indizien, die es ... sehr wahrscheinlich machen, dass diese Einrichtung des Textes nicht nur Lese-, sondern auch Vorlesehilfen bieten und dem öffentlichen Vortrag dienen sollte. ... An eine szenische Performance muß dabei nicht gedacht werden. Auch ein Vortrag im Stil eines Oratoriums würde diesen Zweck erfüllen.“ (Nitsche 2006, 275). In der Mischna wird berichtet, dass der Hohepriester in der Nacht vor dem Versöhnungstag nicht schlafen durfte. Um sich bzw. ihn wachzuhalten, trägt er u.a. das Buch Hiob vor, bzw. es wird vor ihm rezitiert: „Wenn er gewohnt ist, (vorzu-)lesen, liest er vor (קורא), wenn nicht, liest man ihm vor. Was liest man ihm vor? Hiob, Esra und die Chronikbücher ....“ (Joma 1,6; Text und Übersetzung nach Krupp 2003; vgl. Schorlemmer 1983, 11-114).
Dazu fügt sich gut eine neue Sicht des Verhältnisses von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der Überlieferung des Alten wie des Neuen Testaments. Für das Alte Testament hat dazu vor allem David M. Carrs Monographie „Writing on the Tablet of the Heart. Origins of Scripture and Literature“ von 2005 beigetragen. Carr hat für die Erziehungssysteme der Antike einschließlich des Alten Israel herausgearbeitet, dass schriftliche Textdokumente die Funktion hatten, die mündliche Weitergabe und Aneignung von Texten zu unterstützen und zu sichern. Das „normale“, zumindest aber bevorzugte Medium, in dem die Texte des späteren Alten Testaments in Israel präsent waren, war nicht der schriftliche Text, sondern der mündliche Vortrag, der „verkörperte Text“. Man sollte sich die Rezitationen nicht als bloße akustische Reproduktion des schriftlichen festgehaltenen Wortlautes vorstellen. Im vorhellenistischen griechischen Bildungssystem und wohl auch im alten Israel wird das Memorieren und Rezitieren musikalisch (→
Musik
Auf dieser Neubewertung der Mündlichkeit biblischer Texte beruht auch der sog. „Performance Criticism“, ein Diskurs, der vor allem unter US-amerikanischen Neutestamentlern zuhause ist und sich als „Emerging Methodology“ versteht (Rhoads 2006; vgl. auch Doan / Giles 2005). Der (auswendige) Vortrag der Texte eröffnet zunächst einen neuen Zugang zu ihnen: „The experience of translating, memorizing, and performing these works has placed me in a fresh medium, an entirely different relationship with these texts then that of silent reader...“ (Rhoads 2006, 120). Als eine „method of research“ erschließt die „performance“ die Bedeutungsdimensionen gewissermaßen experimentell: „By performing – taking the roles of characters, moving in imagination from place to place, interacting between one character and another, recounting the narrative world from the narrators perspective (Rhoads geht von erzählenden Texten aus H.U.) ... – the interpreter / performer must make judgments about the potential meanings and rhetorical impacts of a composition in order to play a line at all.“ (Rhoads 2006, 173).
Die durch den schriftlichen Text angeregte, aber auch begrenzte Imagination spielt schließlich auch im performativen Akt des stillen Lesens literarischer Dramen eine entscheidende Rolle. Die Figurenrede vergegenwärtigt die Figuren, die Opsis den Schauplatz und der „Mythos“ (Plot) entwirft ein Geschehen – beim Leser. Für das lesende Subjekt ist dies ein „komplexes kognitives, imaginatives affektives und energetisches Geschehen in einer liminalen Situation“ (Fischer-Lichte 2013, 143). Ein Beispiel, wie in der Lektüre ein alttestamentliches Drama imaginativ wieder- und neu erstehen kann, hat Alonso-Schökel in seiner „Dramatic Reading of the Book of Job“ gegeben (vgl. dazu oben). Er schließt mit den Worten: „I would not want my suggestions to be used in any way to diminish this rich and magnificent book.“ (Alonso Schökel 1977, 59). Es ist immer nur eine, aber nicht die Aufführung, die bei einer dramatischen Lektüre herauskommen kann.
Im Hinblick auf die Terminologie könnte sich abzeichnen, dass die Begriffe „Performanz“ / „performatorisch“ differenzierter und damit besser geeignet sind, die vielfältigen Phänomene im Alten Testament zu bezeichnen, für die traditionell die Begriffe „Drama“ / „dramatisch“ verwendet werden.
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