Erstlinge / Erstgeburt
(erstellt: März 2015)
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1. Terminologie
Das hier zu verhandelnde Thema findet sich im Alten Testament unter verschiedenen Termini, z.T. entspricht der uneinheitliche Sprachgebrauch wohl auch der fehlenden Systematisierung der Sachverhalte (Rendtorff 109f). Grundsätzlich haben wir es mit in den Texten vollkommen positiv besetzten Begrifflichkeiten zu tun, die sich entsprechend auch für eine sekundäre Theologisierung angeboten haben. Die Terminologie im Deutschen ist allerdings nicht einheitlich. Der folgende Artikel redet im Prinzip von Erstlingen im Sinne von Erstlingsfrüchten bei Pflanzen, von Erstgeburten bei Tieren und von Erstgeborenen bei Menschen.
1.1. „Erstlinge“ (בִּכּוּרִים), „Erstgeburt / Erstgeborener“ (בְּכוֹר)
Die hier interessierenden Sachverhalte werden im Hebräischen eindeutig nur auf der Basis der seltenen Wurzel בכר bkr, in der Grundbedeutung „früh sein“ (Lev 27,26
1.2. „Erster“ (רֵאשִׁית)
Die Erstlingsfrüchte von Feld, Garten und Baum und seltener die Erstgeborenen von Menschen (Gen 49,3
1.3. „Erstdurchbruch des Mutterschoßes“ (פֶּטֶר־רֶחֶם)
Für menschliche und tierische Erstgeburten (bei Nutztieren) ist wegen der appositionellen Stellung zu בְּכוֹר bəkhôr „Erstgeburt / Erstgeborener“ in Ex 13,2
2. Erstlinge / Erstlingsfrüchte und Abgaben
Das Erste und Beste von allem gehört aus religiöser Perspektive natürlich JHWH, als Dank für die Fruchtbarkeit des Bodens, weswegen die Rede von vegetabilen Erstlingen bzw. Erstlingsfrüchten fast durchgehend in kultischen Zusammenhängen auftaucht, auch in umliegenden Kulturen.
Die zentralen biblischen Texte zur Behandlung der Erstlinge bzw. Erstlingsfrüchte mit dem Terminus בִּכּוּרִים bikkûrîm stehen in der Tora: im → Bundesbuch
Der wohl älteste, sicher vorexilische Text findet sich in Ex 23,19
Ohne Datierung auf das Wochenfest haben weitere Texte ein Interesse an der Bestimmung, dass Erstlingsabgaben bzw. der Erste an die Priester zu leisten sind, also deren Versorgung dienen. Das gilt nach Dtn 18,4
Die weiteren Texte außerhalb der Tora zum Thema „Erstlinge / Erstlingsfrüchte“ konkretisieren bzw. aktualisieren die Torabestimmungen für spätere Zeiten: Nach Neh 10,36.38
In der wohl älteren „unpolitischen Wundererzählung“ (Otto 226) 2Kön 4,42-44
Abschließend sei noch auf eine Regelung hingewiesen, die eine sachliche Ähnlichkeit mit der Regelung zu den ersten Früchten des jeweiligen Jahres bietet: Lev 19,23-25
3. Erstgeburten / Erstgeborene
Auch für die tierischen Erstgeburten und die menschlichen Erstgeborenen gilt: Das Erste und Beste von allem gehört aus religiöser Perspektive natürlich JHWH, als Dank für die Fruchtbarkeit. Es wird ihm entweder übereignet oder kann ausgelöst werden.
Im Einzelnen stellen sich folgende Fragen: Entscheidet sich der Erstgeburtsstatus am Vater oder an der Mutter (das ist bleibend bei Mensch und Tier unterschiedlich zu handhaben)? Können auch weibliche Wesen bzw. Tiere Erstgeburten sein oder nicht (ursprünglich waren sie das bei Tieren wohl)? Können gar mehrere männliche oder männliche und weibliche Geburten im Zuge des ersten Wurfs die „Erstgeburt“ (im Singular) sein (ursprünglich muss das so gedacht gewesen sein)? Welche Tierarten sind überhaupt betroffen von Erstgeburtsregelungen? Nur die explizit genannten gezähmten Tiere – das ist immer die Voraussetzung – → Rind
3.1. Erstgeborene Kinder
3.1.1. Besondere Wertschätzung
Für die altorientalischen Rechtsverhältnisse in Israel und seiner Umwelt ist es durchaus typisch, dass die erste männliche Geburt, also der älteste Bruder, in der vom Vater her gedachten Familie besonders hoch geschätzt und emotional bevorzugt wurde (Gen 49,3
Der Erstgeborene kann auch „großer Sohn“ oder nur „Großer“ genannt werden (vgl. Gen 27,42
Eine erklärbare Ausnahme von der Bestimmung des Erstgeborenen über den Vater bildet, mit Bezug auf die Erschlagung der ägyptischen Erstgeborenen, die Formulierung in Ex 11,5
Daneben ist der offensichtlich mythisch-metaphorische Vers Dtn 33,17
3.1.2. Erstgeburtsrecht
Erstgeborene erhielten im altorientalischen Umfeld wie in Israel im Erbschaftsfall wohl einen besonderen Erstgeborenenanteil. Dieser bestand, zumindest nach der Vorstellung von Dtn 21,15-17
Von der Erbregelung Dtn 21,15-17
3.1.3. Theologisierter Gebrauch der Bezeichnung „Erstgeborener“
Die besondere Wertschätzung des männlichen Erstgeborenen ist die Bedingung der Möglichkeit der theologisierten Verwendung des Titels „Erstgeborener“ für den König einerseits und für Israel andererseits. Die Erstgeborenen-Metaphorik für Israel trägt damit zur Vater-Sohn-Metaphorik im Alten Testament (vgl. z.B. Hos 11,1
3.1.3.1. Der König als Erstgeborener Gottes. In der Gottesrede des Königspsalms Ps 89,20ff
3.1.3.2. Israel als Erstgeborener Gottes. Das Volk Israel wird von JHWH ebenfalls mit der Würde eines Erstgeborenen begabt (vgl. Ex 4,22
Auf der gleichen theologisierenden Linie wie Ex 4,22
3.1.3.3. Bevorzugung des Nicht-Erstgeborenen. Ein eigenes Thema bieten jene zahlreichen, meist narrativen Texte, die JHWHs Bevorzugung gerade des Nicht-Erstgeborenen beinhalten: Das beginnt mit dem ersten menschlichen Brüderpaar → Kain und Abel
3.2. Tierische Erstgeburten
Tierische Erstgeburten tauchen im Alten Testament zum ersten Mal in Ex 11,5
Durch die allgemeine Definition von Ex 13,2
Unter dem „Durchbruch des Mutterschoßes“ ist bei Tieren wohl der gesamte erste Wurf eines Muttertieres verstanden, und das sind bei Schafen und vor allem bei Ziegen üblicherweise eher Zwillingsgeburten, eigentlich auch undifferenziert nach Geschlecht. Gerade wenn nur vom „Wurf“, nicht aber vom „Erstgeborenen“ die Rede ist, wird deshalb gerne das differenzierende Adjektive „männlich“ hinzugezogen (vgl. Ex 13,13.15
3.3. Erstgeburtsopfer und Auslösung, auch beim Menschen
Aus der jetzt vorliegenden Tora, in der alle relevanten Bestimmungen stehen, oft im Übrigen im Kontext der Bestimmung zu den vegetabilen Erstlingsfrüchten, ergeben sich folgende, weitgehend klare Regelungen: Die für den Erhalt der Herde weniger wichtigen männlichen Erstgeburten von Rindern, Schafen und Ziegen in Israel „gehören“ JHWH, sind zu „heiligen“ (Ex 13,2
Die grundsätzliche, aber relativ späte Regelung in Ex 13,2
3.4. Erstgeborenenopfer (Kinder)
Das einzige im biblischen Text sicher verifizierbare und wohl auch historische Erstgeborenenopfer ist das des Moabiterkönigs in 2Kön 3,27
Sachlichen Anhalt hat das Thema Erstgeborenenopfer als israelitische Möglichkeit auf der Basis von Ex 22,28-29
Dass es solche Interpretationen – wenigstens in der Exilszeit des 6. Jh.s v. Chr. oder vielleicht später – gegeben haben könnte, mag man aus Ez 20,25f
4. Neues Testament
Das Thema Erstgeborener begegnet im Neuen Testament nur in Lk 2,7
Neu ist die christologische Übertragung des Titels „Erstgeborener“ (πρωτότοκος prōtotokos), vgl. Röm 8,29
Literaturverzeichnis
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