Esra-Nehemia-Buch
Andere Schreibweise: Ezra (engl.); Esdras; Nehemiah
(erstellt: November 2005)
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1. Die Bücher Esra und Nehemia in der Bibel
1.1. Esra-Nehemia als EIN literarisches Werk
Die nach den Personen → Esra
1.2. Inhalt
Das Buch Esra-Nehemia beginnt mit der Erlaubnis zur Heimkehr und zum Tempelbau und knüpft mit der „Wiederholung“ des → Kyrosedikts
Ab Esr 7 tritt der Schriftgelehrte Esra auf, der zu einer umfassenden Identifikationsfigur wird. Seine Genealogie wird daher auch bis auf den Hohenpriester Aaron, den Bruder des Mose, zurückgeführt (Esr 7,1-10
In Jerusalem stößt Esra auf die Problematik der Mischehen der „wahren Israeliten“ (der heimgekehrten Judäer) mit Frauen der kanaanäischen Bevölkerung. Solche Ehen waren immer auch mit der Verehrung fremder Götter und damit auch mit dem Abfall von JHWH, dem einzigen Gott Israels, verbunden – wie die Bibel exemplarisch und prominent an König Salomo (1Kön 11
Der Einschnitt zwischen den heute vorliegenden „Büchern“ Esra und Nehemia ist dadurch bedingt, dass mit Neh 1 ein „Ich“-Bericht des Nehemia, Statthalters des Perserkönigs Artaxerxes, beginnt. Nehemia, ein hoher Beamter am persischen Hof, wurde mit dem Wiederaufbau Jerusalems, insbesondere der Stadtmauer, beauftragt. Dies geschah ab dem Jahr 445 v. Chr. Der Wiederaufbau der Stadtmauer (Neh 1-6) ist nach Darstellung des Textes (ähnlich wie der Tempelbau) von allerlei Schwierigkeiten und Intrigen überschattet. Die Fertigstellung der Mauer in Neh 7 symbolisiert die feste Etablierung der Tempelgemeinde und die Sicherung ihrer Identität. Daher wird nochmals eine Bevölkerungsliste angeführt, die weitgehend Esr 2 entspricht. Die Bedeutung dieser Liste besteht darin, dass hier das Volk Gottes in Buchform vorliegt: In „Heiliger Schrift“ ist das wahre Israel registriert und amtlich erfasst.
Neh 8,1-12
Das Verlesen des Gotteswortes ist aber immer auch Anlass zur Besinnung, Umkehr und Buße – das zeigt das lange Bußgebet Nehemias (Neh 9
In Neh 11-13
1.3. Aufbau
1.3.1. Gesamtaufbau
Blickt man auf die Epochen, die das Esra-Nehemia-Buch umgreift, ergeben sich zwei große Abschnitte. (1) Esr 1-6 umfasst die Epoche der Heimkehr und des Tempelbaus unter den Perserkönigen → Kyros
Blickt man hingegen näher auf den Inhalt von Esra-Nehemia, so begegnen zwei Hauptthemen, die drei Mal einander abwechseln und eng miteinander verflochten sind: 1) der Wiederaufbau des Jerusalemer Tempels bzw. der Stadtmauer, 2) die Verpflichtung auf die Tora und 3) die Durchsetzung bzw. Umsetzung dieser Verpflichtung. Diese Konzeption erklärt sich aus dem Rückblick auf die Untergangskatastrophe von 587 v. Chr. (vgl. z.B. Esr 1,7
1.3.2. Einzelübersicht
Im Einzelnen lassen sich die zuletzt genannten sechs (drei Mal zwei) Hauptabschnitte in folgender Übersicht darstellen:
Die Verflechtung der Strukturelemente „Wiederaufbau“ und „Bundesverpflichtung“ soll aufzeigen, wie eng verknüpft die äußere Neukonstituierung Israels (Tempel, heilige Stadt Jerusalem) mit der Verpflichtung auf den Bund ist. Daher liegt ein besonderes Schwergewicht auf der breit gestalteten Bundesschlussfeier in Neh 7-10. Der Wiederaufbau von Tempel und Stadtmauer sowie die geistige Erneuerung durch Esra sind die Voraussetzungen für eine neue Verpflichtung auf die Tora. Realisiert wird dies in einer Reihe von Einzelmaßnahmen in Neh 12-13. Auf dem Höhepunkt in Neh 7-10 und 11-12 agieren Esra und Nehemia gemeinsam und stehen so in Parallele zu → Jeschua
1.3.3. Durchgehende Linien
Eine Reihe von gemeinsamen Themen verknüpft die Hauptabschnitte. Zuerst ist der Tempel zu nennen, dessen Wiederaufbau in Esr 1-6 im Vordergrund steht. Der Tempel als Wohnstätte Gottes ist aber auch Thema in Esr 7,15
Ein zweites gemeinsames Thema ist das Laubhüttenfest (→ Laubhüttenfest
Eine eigenartige Verklammerung der Epochen um den Wiederaufbau des Tempels (Esr 1-6) und der Zeit von Esra und Nehemia stellt der Briefwechsel mit Artaxerxes in Esr 4,6-23
Exakte Historiographie im modernen geschichtswissenschaftlichen Sinne ist nicht das Anliegen der Verfasser von Esra-Nehemia. Wie sonst wäre es zu erklären, dass durch das ganze Buch hindurch immer wieder betont wird, dass die persischen Könige im Dienst des göttlichen Planes für Juda stehen (vgl. Esr 1,1-4
Durch die Parallelisierung und teilweise Verschmelzung bestimmter geschichtlicher Ereignisse, durch Vorausverweise und Wiederholungen ergibt sich bei aller Buntheit der Geschehnisse und Personen der Eindruck eines runden Ganzen. Dieser idealisierte Geschichtsverlauf, mehr Konstruktion als Rekonstruktion, scheint für den Gesamtaufbau leitend zu sein und wichtiger als eine streng chronologische Abfolge. Die aus einer Zeitspanne von über 100 Jahren ausgewählten Ereignisse werden durch Vor- und Rückgriffe in ein Gesamtbild der Reorganisation Israels nach dem Exil integriert (Steins).
Die der Endkomposition von Esra-Nehemia möglicherweise zugrunde liegenden Materialien werden diesem Gesamt-Leitbild ein- und untergeordnet. Dazu dient auch der Wechsel von der hebräischen in die aramäische Sprache in Esr 4,8-6,18
1.4. Ort in den Kanonausprägungen
1.4.1. Übersicht
Unter dem Namen des als Priester und Schriftgelehrtem vorgestellten Theologen Esra als Leitfigur werden in den unterschiedlichen Bibelausgaben verschiedene Bücher geführt, wie Tabelle 2 zeigt (→ außerbiblische Esra-Schriften
1.4.2. Hebräische Bibel
In der Hebräischen Bibel steht das Werk Esra-Nehemia unter den „Schriften“ (Ketubim). In mittelalterlichen Handschriften bildet es entweder den Abschluss, wenn 1/2Chr am Anfang der Ketubim stehen, so z.B. im Codex Aleppo (925 n. Chr.) oder im Codex Petropolitanus (früher Leningradensis B 19A; 1009 n. Chr.), oder es steht vor 1/2Chr am Ende der Ketubim, so z.B. in der Liste im Babylonischen Talmud (Baba Batra 14b; Text Talmud
1.4.3. Griechische Bibel – Septuaginta
In der Septuaginta wird Esra-Nehemia bei den Geschichtsbüchern eingeordnet, und zwar in der Regel nach 1/2Chr, so z.B. Codex Vaticanus und Codex Sinaiticus (beide 4. Jh. n. Chr.), bzw. nach Est, Jud, Tob, vor 1/2Makk, so im Codex Alexandrinus (5. Jh.). Dabei geht in der griechischen Bibel der Übersetzung des hebräischen Textes von Esra-Nehemia (griechisch: Esdras B’) das apokryphe Buch 3Esra (Esdras A’) voraus (→ Esra-Schriften
2. Die Entstehung des Esra-Nehemia-Buches
2.1. Grundprobleme
(1) Schon die große Übereinstimmung im Wortlaut zwischen dem Ende von 1/2Chr und dem Anfang von Esra-Nehemia (2Chr 36,22-23
(2) Innerhalb von Esra-Nehemia ist das Verhältnis von Neh 8-10 zur Esra-Erzählung Esr 7-10 nicht unproblematisch. Während Esr 7-10 vom Auftrag Esras, eine Rechtsordnung zu etablieren, von den mit Esra aus dem Exil Heimgekehrten und von Esras Aktion gegen die Mischehen zur Stabilisierung der Gruppenidentität nach innen berichten, legen Neh 8-10 das Schwergewicht auf die Verkündigung und Auslegung der Tora sowie der Bundesverpflichtung, die Weisung Gottes zu befolgen. Das sind zunächst deutlich unterschiedliche Akzente, wie der Aufbau der Gemeinde und die Findung der eigenen jüdischen Identität gelingen soll.
(3) Eine Doppelung stellt die Heimkehrerliste in Esr 2 und Neh 7 dar: Beide Listen stimmen weitgehend überein. Aus entstehungsgeschichtlicher Perspektive fragt man sich, ob die eine Liste die andere abschreibt oder ob es eine gemeinsame Quelle gibt. Am wahrscheinlichsten ist es, dass Neh 7 die Liste aus Esr 2 als Vorlage herangezogen hat. In Esr 2 ist die Liste gut im Kontext verankert und scheint dort ihren natürlichen Ort zu haben, während Neh 7,5-72
(4) Der Ich-Bericht des Nehemia (ab Neh 1,1
2.2. Mögliche Quellen für Esra-Nehemia
Insgesamt macht Esra-Nehemia bei aller Geschlossenheit doch den Eindruck, dass vorgegebene Materialien komponiert wurden. Je nach der Ausprägung des Optimismus der Forschung sieht man dahinter authentische Quellen oder spätere stilistische Nachahmungen.
(1) Der Abschnitt Esr 4,8-6,18
(2) Aufgrund der Stilisierung als „Ich“-Bericht wird hinter Neh 1-7* und 11-13* eine „Nehemia-Quelle“ (Nehemiamemoiren/Nehemia-Denkschrift) vermutet. Umstritten ist allerdings die genaue Abgrenzung und Intention des Dokuments. Auch ist fraglich, ob es sich um einen historisch authentischen Bericht des Statthalters Nehemia aus dem 5. Jh. v. Chr. handelt oder um eine legendarische Nachbildung, also um eine pseudepigraphische Schrift.
(3) Bei der Annahme einer Esra-Quelle ist zu beachten, dass in Esr 7 ein Wechsel zwischen Er- und Ich-Stil vorkommt, so dass umstritten ist, ob ein authentischer Bericht vorliegt oder ob es sich um literarische Stilisierung handelt, die die Authentizität steigern soll. Ebenfalls unklar ist der Quellenwert des Beglaubigungsschreibens des persischen Königs Artaxerxes für Esra (Esr 7,12-26
(4) Zahlreiche Listen wecken den Eindruck, dass hier amtliches Material verarbeitet wurde – genau dieser Effekt dürfte beabsichtigt sein. Daher ist nicht ohne weiteres davon auszugehen, dass es sich bei den Listen, insbesondere bei der „Basisliste“ von Esr 2, um Primärquellen handelt. Bedenkt man den schriftgelehrten Rückgriff auf ältere, bereits vorliegende Teile der „Heiligen Schrift“ sowie die legitimierende und beglaubigende Funktion dieser Listen, handelt es sich wahrscheinlich nicht um Auszüge aus dem „Jerusalemer Einwohnermeldeamt“ des 5. Jh.s v. Chr., sondern um eine gezielte Erarbeitung dessen, was man als „das wahre Israel“ abschließend, einschließend und damit auch andere ausschließend festlegen möchte.
(5) Die wichtigsten Quellen für das Esra-Nehemia-Buch sind die älteren biblischen Bücher, vor allem die erzählenden Teile des Buches Exodus, die Bücher Leviticus, Deuteronomium und Josua sowie die prophetischen Schriften Haggai und Sach 1-8.
2.3. Ein hypothetisches Entstehungsmodell
Die Forschung legt hypothetische Modelle der Entstehung vor, die auf bestimmten Beobachtungen am Text beruhen und mehr oder weniger nachvollziehbar, nie aber sicher beweisbar sind. Solche Modelle sind z.B. die Annahme einer Abfassung von 1/2Chr + Esra + Nehemia durch eine („chronistische“) Hand; ein Wachstum in drei Stufen oder Blöcken; eine Komposition aus einer Vielzahl von Quellen; eine sukzessive Ergänzung oder Fortschreibung durch eine größere Anzahl von Bearbeitern. Die Tendenz der neueren Forschung geht dahin, ein schrittweises Textwachstum anzunehmen, daher wird hier im Anschluss an Steins ein redaktionsgeschichtliches Entstehungsmodell vorgeschlagen.
(1) In einem ersten großen Anlauf zur Schriftwerdung wurden möglicherweise ältere Materialien (eine Esra-Erzählung, eine Nehemia-Erzählung, vorgegebene Listen) in eine Esra-Nehemia-Großkomposition aufgenommen, die das Anliegen hat, die nachexilische Reorganisation Israels als „heiliger Same“ in der „heiligen Stadt“ (Esr 9,2
(2) Vielleicht sind Teile von Esr 7 und 8 erst als Reaktion auf den Nehemiabericht später formuliert worden.
(3) Der umfangreichste Nachtrag besteht aus Neh 7,5-10,40
(4) Eine Reihe späterer Bearbeitungen in Esr 3*; 6*; 8*; Neh 8*-12* legt das Schwergewicht auf kultische Fragen und die Belange des Kultpersonals am Tempel (Leviten, Musiker, Torwächter).
(5) Die Berührungen zwischen Esra-Nehemia und den Chronikbüchern sind unverkennbar und lassen sich am besten durch die Vermutung erklären, dass zum einen der Chronist Esra-Neh als Quelle heranzog, zum anderen spätere Theologen beide Werke (also die vier Bücher 1/2Chr, Esr, Neh) zusammen bearbeiteten.
2.4. Datierungshypothese
Eine ausdrückliche Datierung von Esra-Nehemia als Buch selbst ist nicht vorhanden, auch fehlen sonstige genauere Hinweise. Terminologie und Theologie des Buches passen am ehesten in die frühhellenistische Zeit (ab der zweiten Hälfte des 4. Jh.s v. Chr.). Dem entspricht auch die Erwähnung der griechischen Drachme in Esr 2,69
3. Historische Fragen – Zeittafel
3.1. Chronologische Probleme
Eine Interpretation von Esra-Nehemia, die sich allein für den historischen Wert des Textes interessiert, missversteht dessen Aussagegehalt und steht in der Gefahr der Einseitigkeit. Trotzdem ist Esra-Nehemia für die nur spärlich mit Quellen belegte Geschichte des Judentums der persischen Zeit (ca. 520-332 v. Chr.) von großer Bedeutung. Im Mittelpunkt des Interesses steht dabei vor allem das historische Verhältnis zwischen den beiden Protagonisten Esra und Nehemia: So sind Esra und Nehemia nach der Darstellung des Buches einerseits offensichtlich Zeitgenossen (Neh 8,9
Von dem Zeitpunkt der Ankunft Nehemias 445 v. Chr. her ist die Datierung der Esra-Mission auf das siebte Jahr des Artaxerxes (458) in Esr 7,7
(1) Die historische Rückfrage wird überflüssig, wenn man Esra als bloße literarische Fiktion ansieht. Gewiss ist zuzugestehen, dass die Abfassung des Buches in großem zeitlichen Abstand zu den geschilderten Ereignissen steht und dieses durchaus frei mit seinen älteren Materialien umzugehen weiß. Dennoch spricht viel dafür, dass Esra eine konkrete Gestalt der Geschichte Israels war.
(2) Eine andere Datierungsmöglichkeit setzt die Esra-Mission in das siebte Jahr Artaxerxes’ II. (398 v. Chr.) an. Damit hätte Esra nach Nehemia gewirkt, ihre Zeitgenossenschaft wäre Fiktion. Eine andere Spätdatierung beruht auf Textänderungen, die nicht vom 7., sondern vom 37. Jahr Artaxerxes’ I. (428) ausgehen wollen. Dann würde die Esra-Mission in den zweiten Aufenthalt Nehemias in Jerusalem fallen (Neh 5,14
(3) Aus einer Sicht, die nach der Textproduktion von Esra-Nehemia fragt, könnte eine redaktionsgeschichtliche Betrachtung plausibel sein, die die vorhandene Datierung (458) stehen lässt, jedoch die Textstellen über das Zusammenwirken von Esra und Nehemia (Neh 7-10; 12) sowie den zweiten Jerusalemaufenthalt Nehemias (Neh 13) einer späten, mehr an theologischen Konstruktionen als an historischen Rekonstruktionen interessierten Bearbeitungsschicht zuweist. Dann wäre das Nebeneinander von Esra und Nehemia nicht historisch, sondern eine theologische Idee.
(4) Ein gänzlich anderer Lösungsvorschlag besteht in der Annahme, Esr 4 (der Briefwechsel mit Artaxerxes I., die Unterbrechung des Tempelbaus und die Wiederaufnahme unter dem folgenden Darius, Esr 4,23-24
3.2. Zeittafel
3.3. Zusammenfassung zur historischen Verortung
Im Zentrum der Darstellung des Esra-Nehemia-Buches steht die Neuordnung Jerusalems und Judas (die persische Provinz Jehud) gleichsam „von außen“. Dafür gibt es historisch bestätigte Grunddaten. Dabei spielen die persische Zentralregierung und die in Babel im Exil lebenden Judäer in einem kaum mehr im Detail rekonstruierbaren Zueinander die entscheidenden Rollen. Historischer Hintergrund sind vermutlich die Bemühungen der persischen Zentralregierung zur Stabilisierung der strategisch wichtigen wie politisch sensiblen Region um Samaria und Jerusalem. Die religions- und gesellschaftspolitische Strategie der persischen Oberherrschaft bestand darin, aus den im Exil in Babylon lebenden Juden eine loyale Elite für die Administration Jerusalems zu bilden und mit dem wiedererrichteten Tempel ein kontrollierbares religiöses Zentrum zu haben. In der so entstehenden „halbautonomen Tempelgemeinde“ mit starkem inneren Zusammenhalt haben sich unter dem erheblichen Einfluss der Rückkehrer neue soziale Strukturen gebildet, die wohl denen in der Diaspora entsprachen.
4. Die Theologie des Esra-Nehemia-Buches
4.1. Zur Eigenart des Buches Esra-Nehemia
Die Eigenart des Esra-Nehemia-Buches könnte man in folgende Formel fassen: „Rekonstruktion und Konstruktion der Geschichte aus theologischer Perspektive“. Das Buch gibt sich selbst einen deutlich historiographischen Charakter, indem immer wieder dokumentarische Materialien eingestreut werden: Listen, königliche Erlasse oder Zitate aus der Korrespondenz zwischen Provinzleitungen und dem persischen Hof, z.T. in aramäischer Sprache, die die damalige Amts- und Diplomatensprache des westlichen Perserreiches war. Diese mitunter fast bürokratisch anmutende Darstellungsweise lässt das Werk weniger wie eine geschlossene Erzählung als vielmehr wie eine Collage aus verschiedenen amtlichen und memoirenhaften Elementen erscheinen.
Diese Eigenart des Esra-Nehemia-Buches, dass in ihm schriftliche Dokumente eine so zentrale Rolle spielen, ist auch theologisch auswertbar. Das schriftliche Wort, in Buchform, als Brief, als königliches Edikt, ist wirksam und bedeutsam in dieser Welt. Damit wechselt das Gewicht der Bedeutung von der „heiligen“ Rede eines Propheten hin zum „heiligen“ schriftlich vorliegenden Text. Die Notsituation, dass es keinen Propheten mehr gibt, wie Ps 74,9
Bei der Interpretation des Esra-Nehemia-Buches muss immer wieder darauf hingewiesen werden, dass bestimmte Züge der Darstellung nicht der historischen Realität entsprechen können und dass insbesondere die angeblich als authentische Dokumente zitierten Briefe und Urkunden literarische Gestaltungen der Verfasser sind. Diese Feststellung legt aber nicht die Schlussfolgerung nahe, alles sei blanke Fiktion oder gar Geschichtsklitterung. Die Kerndaten wie die Einrichtung der jüdischen Rechts- und Religionsgemeinschaft in und um Jerusalem mit gewissen Vergünstigungen durch die persische Oberhoheit haben vielmehr ihren Ursprung in historischen Tatsachen, doch es ist nicht Ziel des Textes, diese Tatsachen in allen Details aufzuarbeiten. Sie waren auch den Verfassern und Bearbeitern von Esra-Nehemia wahrscheinlich nicht vollständig zugänglich. Vielmehr geht es dem Werk um die theologische Aufarbeitung der Neukonstituierung des jüdischen Volkes und seiner Religion nach dem Exil, um für seine Zeit und sein Publikum die eigene Identität aus der „Geschichte“ herzuleiten. Hierin zeigt sich die Kompetenz dieser Theologen und die Kraft der israelitisch-jüdischen Religion in der Bewältigung der Krisen des Exils und der folgenden wechselnden Fremdherrschaften.
4.2. Theologische Aspekte
Die grobe Skizze der historischen Gegebenheiten bindet das Buch Esra-Nehemia in ein umfassendes theologisches Konzept ein. Esra-Nehemia geht es um die Interpretation der Wiederherstellung Jerusalems und seines Tempels als des Zentrums nachexilischen Judentums. Der Neuanfang wird als Anknüpfung an die Zeit des ersten (salomonischen) Tempels, dessen Übereinstimmung mit dem neuen Bau unterstrichen wird (vgl. 1Kön 5,15-8,66
Die andere Linie führt über die immer wieder eingestreuten Verzeichnisse (z.B. Esr 2//Neh 7; ferner Esr 8,3-14
4.3. Aktualität und Relevanz
Die in den heutigen Bibelausgaben vorliegenden Bücher Esra und Nehemia gehören sicher nicht zu den bekanntesten und beliebtesten Texten des Alten Testaments. Das fehlende Interesse an dieser Literatur geht sicher zu einem großen Teil auf ein unterschwellig immer noch wirkendes Vorurteil zurück, das auch an dem Begriff Spätjudentum fest gemacht werden kann. In dieser Bezeichnung, die aufgrund der damit implizierten negativen Unterstellungen nicht mehr verwendet werden sollte, summiert sich die irrige Vorstellung, dass das nachexilische Judentum sich in einer Stufe wachsender, von geistloser Gesetzesfrömmigkeit geprägter Dekadenz befunden habe, aus der es erst durch Jesus von Nazaret befreit worden sei. Dieses Zerrbild wurde in der Wissenschaft der letzten Jahrzehnte zu Recht mehr und mehr dahingehend überwunden, dass das Judentum der persischen und hellenistisch-römischen Epoche als eine äußerst lebendige, differenzierte Religion angesehen wird, deren tieferes Verständnis von höchstem theologischen wie religionsgeschichtlichen Interesse ist.
Von daher ist auch Esra-Nehemia zeitlos relevant: Das Werk ist zum einen Zeugnis für „das Ringen einer politisch abhängigen Gemeinschaft um eine toragemäße Gestalt des religiösen und sozialen Lebens (vgl. Esr 10; Neh 5), das Bewusstsein für die historische und theologische Tiefendimension der Gegenwart“ (Steins, 277), zum anderen ein Vorbild für den schöpferischen Umgang mit der Tradition (zu der auch die „Heilige Schrift“ zählt) zur Bewältigung der drängenden Aufgaben und Probleme der Gegenwart.
Literaturverzeichnis
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