Ethik (AT)
(erstellt: Oktober 2013)
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→ Paränese (AT)
1. Begriffsklärung
Als Ordnungsprinzipien einer Ethik des Alten Testaments sind denkbar: 1. ein Katalog der Ethiken der einzelnen biblischen Bücher in kanonischer bzw. chronologischer Zuordnung bzw. der literaturgeschichtlichen Werke, 2. die unterschiedlichen literarischen Genres oder 3. eine Auswahl theologischer und anthropologischer generativer Themen.
Hendrik von Oyen verbindet in seiner Ethik des Alten Testaments aus dem Jahre 1967 diese unterschiedlichen Ordnungsprinzipien. Ausgangspunkt bilden die „theologischen Grundlagen“ (Offenbarung des Gotteswillens; Bund; Heiligung; Gemeinschaftstreue und Schalom) und die Anthropologie (Gottebenbildlichkeit und Gewissen; Abfall und Sünde; Armut und Leiden). Im Anschluss daran wird die materiale Ethik entfaltet. Sie ist sowohl nach literarischen bzw. gattungsgeschichtlichen Kriterien geordnet – das Ethos der Tora („Weg“), der Propheten und der Weisheit – als auch soziologisch nach den Trägerkreisen. Generative Themen der unterschiedlichsten Art, theologische und soziologische, werden so miteinander verbunden.
Auf methodischer Ebene sieht sich jeder Versuch, eine Ethik des Alten Testaments zu schreiben, analog zur Diskussion um eine sog. → Biblische Theologie
Diese Schematisierung verkennt jedoch, dass es sich bei einer Ethik des Alten Testaments immer um eine Darstellung im Horizont einer bestimmten Fragestellung bzw. eines bestimmten Kontextes handelt. Auch eine Rekonstruktion hat zum einen selbstkritisch darauf zu reflektieren, was sie unter historisch versteht, und zum anderen bedarf die historische Kritik eines theologischen Problembewusstseins.
Im deutschsprachigen Bereich wurde seit der „Theologische[n] Ethik des Alten Testaments“ von Eckart Otto aus dem Jahre 1994 bislang kein neuer Gesamtentwurf vorgelegt. Da es in solch einem Projekt einer Ethik, ähnlich wie in dem einer → Theologie des Alten Testaments
2. Typologie der Entwürfe einer Ethik des Alten Testaments
Vier Typen einer Ethik des Alten Testaments lassen sich identifizieren: ein literatur- und religionsgeschichtlicher (2.1.), ein sozialgeschichtlicher (2.2.), ein kanonischer (2.3.) und ein literarisch-ästhetischer (2.4.). Die Ansätze liegen nicht in Reinform vor, vielmehr deuten sie Schwerpunkte an. Das → Deuteronomium
2.1. Literatur- und religionsgeschichtliche Ansätze
Einen dezidiert beschreibend historischen Ansatz vertritt Eckart Otto (1994). Ihm geht es darum, die antiken Reflexionen auf das Ethos darzulegen. Als Konsequenz dieser deskriptiven Darstellung könne die Ethik nicht präskriptiv sein, d.h. normative Ansprüche für die Gegenwart haben. Er strebt ein kulturhistorisches Verstehen an, das in einem zweiten Schritt aber sehr wohl dem Menschen in der Gegenwart Perspektiven eröffnen kann.
Der Aufbau bewegt sich entlang dreier literaturgeschichtlich und formgeschichtlich unterschiedlicher Überlieferungen: den „frühen“ Rechtsüberlieferungen („II. Vom Recht zum Ethos im Bundesbuch und in verwandten Rechtsüberlieferungen“); dem Zusammenhang von Ethos und Schöpfungsordnung in weisheitlichen Texten (III.) und zuletzt der „Begründung von Recht und Ethos durch die Offenbarung Gottes in der Geschichte“ (IV.). Narrative bzw. prophetische Texte und poetische Begründungsstrukturen von Ethik jenseits der klassischen weisheitlichen Literatur wie → Proverbien
Das → Deuteronomium
Diese knappe Skizzierung am Beispiel des Deuteronomiums lässt erkennen, dass literatur- und religionsgeschichtliche Bemerkungen Hand in Hand gehen. Die Rechtsgeschichte ist daher verschränkt mit der Sozialgeschichte, wie der nächste Abschnitt noch deutlicher werden lässt.
2.2. Sozialgeschichtliche Ansätze
Auch bei einem sozialgeschichtlichen Ansatz, der nach dem Ethos, d.h. der gelebten Ethik, fragt, bilden die Texte der Hebräischen Bibel vielfach den Ausgangspunkt für die Rekonstruktion einer Ethik, wobei mit Hilfe der historisch-kritischen Methode der historische Entstehungszusammenhang und Hintergrund der Texte erforscht wird. Wird bei einer literaturgeschichtlich ausgerichteten Ethik der literarische Kontext fokussiert, zieht der sozialgeschichtliche Ansatz den außertextlichen Kontext (verstärkt) hinzu.
In sozialgeschichtlich ausgerichteten Studien (Crüsemann 1992; Gerstenberger 2001; Kessler 2011) findet sich eine implizite Reflexion auf das Ethos im Alten Israel. Die Sozialgeschichte ermöglicht es, die Interessen hinter den biblischen Texten zu beleuchten. Dies hat dann auch Folgen für sozialethische und theologische Fragen. Als Reflex auf die Diversität der ethischen Entwürfe innerhalb des Alten Testaments, die großteils bedingt ist durch die soziologische Vielschichtigkeit, wird nach den Trägern der Ethik gefragt. Untersucht wird, von wem eine spezifische Ethik verfasst wurde bzw. wem sie diene: etwa das deuteronomistische Plädoyer für die → Armen
Wiederum soll auch hier am Beispiel des 8.-6. Jh.s bzw. einer Schrift, die in dieser Zeit entstanden ist, dem Deuteronomium, veranschaulicht werden, wie der Beitrag der Sozialgeschichte zu einer Ethik des Alten Testaments aussehen kann. Das Deuteronomium formuliere in der späten Königszeit das Recht freier Landbesitzer (Crüsemann 1992). Die sich ab dem 8. Jh. entwickelnde sog. antike Klassengesellschaft führte zu unumkehrbarer Überschuldung und Schuldsklaverei. Reaktionen auf diese soziale Krise bildete die prophetische Kritik (z.B. → Amos
Bei einer sozialgeschichtlichen Herangehensweise wird dabei nicht nur linear die historische Kontextualität etwa der unterschiedlichen Gesetze zur Sklavenhaltung erklärt, vielmehr wird sie auch auf die Gleichzeitigkeit und das konkurrierende Nebeneinander unterschiedlicher ethischer Vorstellungen reflektieren, indem das Augenmerk auf die jeweiligen Trägerkreise gelenkt wird.
Werden die beiden ersten methodischen Ansätze, der literaturgeschichtliche und der soziologische, komplementär verstanden, dann lässt sich zusammenfassend sagen: Erhellt werden soll der literarische, historische und soziale Kontext, die Entstehungsgeschichte eines Textes bzw. von Normen in Abgrenzung und Aufnahme gegenüber Werten der Umwelt.
2.3. Kanonische Ansätze
Innerhalb eines kanonischen Zugangs (→ Kanon
Ein klassischer Vertreter des ersten Modells ist Brevard Childs, der im angloamerikanischen Bereich den sog. canonical approach (kanonischen Zugang) maßgeblich mitentwickelte (→ Bibelauslegung, christliche
Rainer Kessler (2011) hingegen will in seinem kanonisch begründeten Ansatz auf die jeweiligen historischen Kontexte der ethischen Aussagen reflektieren. Folgerichtig ist deshalb auch, dass prinzipiell alle Texte des Alten Testaments für die Ethik als relevant betrachten werden müssen, und zugleich, dass die Entfaltung dieser mit Gen 1, dem Anfang der Tora, beginnen müsste. Entsprechend resultieren für ihn aus dem kanonischen Ansatz zwei inhaltliche Säulen, auf denen die ethischen Forderungen ruhen: → Segen
Suggeriert der Begriff „Ethik des Alten Testaments“ eine Einheit der Ethik, wird in diesem Modell der Kanon als einheitsstiftendes Element betrachtet. Doch so lässt sich kritisch fragen, ob dem Kanon neben einem formalen auch ein inhaltliches einheitsstiftendes Prinzip zueigen ist (Barton 1978). Letztlich ist aber selbst das formale Kriterium nicht so eindeutig, denn die Rede von dem Kanon kann die Pluralität an kanonischen Ausgaben sowie deren geschichtliches Werden nicht überdecken. Die Entscheidung für einen bestimmten Kanon ist immer eine theologische bzw. historische und ist abhängig von der Traditionsgemeinschaft und dem Forschungskontext, in dem die Wissenschaftler bzw. Wissenschaftlerinnen stehen.
Eine Konvergenz zwischen einem literaturgeschichtlichen und einem kanonischen Ansatz zeichnet sich dort ab, wo die Rolle von → Mose
2.4. Literarisch-ästhetische Ansätze
Das Interesse eines literarisch ausgerichteten Ansatzes gilt weniger den normativen ethischen Sätzen der Rechtsüberlieferungen, vielmehr wird der Blick auf die narrativen und poetischen Texte gelenkt. Dieser poetische Zugang zu einer Ethik des Alten Testaments gründet sich auf eine literarische und formgeschichtliche Analyse, so dass die Ästhetik automatisch ins Spiel kommt. Gefragt wird nach der ethischen Dimension der Sprache, d.h. der sprachlichen Struktur (Zimmermann 2009). Die Rolle der jeweiligen poetischen bzw. literarischen Techniken wie des Narrativs für die Plausibilisierung der Ethik wird also untersucht.
Unter dieser Herangehensweise lassen sich auch der sog. paradigmatische Ansatz (Janzen 2003) und die narrative Ethik subsumieren. Biblische Figuren dienen dabei nicht einfach als Vorbilder bzw. Negativfolien ethischen Handelns, sondern werden als paradigmatische bzw. komplexe Spiegelbilder menschlicher Existenz in ihrer Ambiguität betrachtet. Die Analyse der Charaktere und die narrative Analyse, die die Unbestimmtheit der Bedeutung, die Wiederholungen und die Leerstellen in narrativen Texten aufzeigt, gehen dabei Hand in Hand (→ Narrativität
Das Deuteronomium, das in den bisherigen Abschnitten der Exemplifizierung des methodischen Ansatzes diente, kann hier aufgrund seiner literarischen Form – es besteht vorwiegend aus Rechtsüberlieferungen – nur bedingt herangezogen werden. Allerdings kommt dem paränetischen Ton in der Vermittlung von Handlungsanweisungen eine entscheidende Rolle beim Lesen und Hören zu. Die rhetorisch-kommunikative Form dient der ethischen Unterweisung.
Doch es sind vor allem die narrativen Überlieferungen und lyrischen Texte, die bei einem literarisch-ästhetischen Ansatz in den Blick kommen. Erhellt wird bei dieser Herangehensweise der Prozess der Urteilsfindung, etwa in Gen 38, der sogenannten Tamar-Novelle (van Oyen 1967; Soete 1987; Krüger 1993, Erbele-Küster 2013). In der Geschichte handelt → Tamar
Im Rahmen der Analyse der ethischen Urteilsfindung ist daher die Rolle der eigenen Reflexion, der Erfahrung und der sinnlichen Wahrnehmung, d.h. der Ästhetik für diese zu reflektieren. Die Verbindung zwischen Ethik und Ästhetik wird dabei auf unterschiedlichen Ebenen thematisiert: Zuerst einmal durch biblische Texte selbst, die Ästhetik und Ethik zum Thema haben und dann auch in der ästhetischen und ethischen Erfahrung, die die Texte gestützt durch deren poetische und rhetorische Struktur beim Lesen hervorrufen.
Die kulturspezifisch gedachten Sinneswahrnehmungen gilt es zu untersuchen, wie sie zur Sinnbildung und ethischen Handlungen beitragen (Avrahami 2012). Essen etwa kann in der Hebräischen Bibel „als Akt der Verinnerlichung von Normen und Fähigkeiten“ (Crüseman 2009) betrachtet werden. In Jer 15,16
3. Genre und Ethik des Alten Testaments
Der literarisch-ästhetischen Herangehensweise folgend (2.4.) soll der spezifische Beitrag der einzelnen Genres beleuchtet werden. Es wird gefragt, wie ein Text durch seine Sprachform im Leseprozess seine ethischen Impulse entfaltet und wie dabei Werte wie das Gute, Gerechtigkeit etc. introduziert werden.
Während Narrative (3.2.) im Lesen zur Reflexion auf ethische Handlungsmuster einladen, konstruieren und konstatieren Gesetzesüberlieferungen eine ethische Norm (3.1.). Lyrik (3.3.) entfaltet in ihrer ästhetischen Form ethische Werte wie Gerechtigkeit. Prophetische Texte (3.4.), etwa Gerichtsworte, klagen falsche Handlungen an. Die Weisheitsliteratur (3.5.) bündelt indikativisch Erfahrungswissen in Sprüchen, aber auch in Lehrgedichten bzw. Lehrerzählungen, die für das gute Handeln werben (→ Weisheitliche Gattungen
3.1. Legislative Texte
Ein einschlägiger Lexikonartikel formuliert es so: „Eine Ethik des AT […] fragt nach dem sich vornehmlich in Normenüberlieferungen zur Sprache bringenden Verständnis vom Guten, seiner Begründung, Ermöglichung und den Konsequenzen des Handelns“ (Otto 1999). Wenn allerdings fast ausschließlich die Rechtsüberlieferungen berücksichtigt werden (→ Recht
In einer redaktionsgeschichtlichen Sichtweise kommt ebenfalls der Blick auf die gesamte Tora zum Ausdruck. Die Endredaktion des Pentateuchs begründet im Narrativ den Zugang zum Willen Gottes bzw. zur Ethik. Mit dem pentateuchischen Narrativ werden dabei unterschiedliche literarische Gebilde bezeichnet: das Großnarrativ des Pentateuchs, das Einzelerzählungen bündelt und mit den Gesetzesüberlieferungen verbindet und jeweils kontextspezifisch auslegt. Nicht zuletzt regt auch die Pluralität von teils widerstreitenden Gesetzestexten zur Reflexion über ihre Anwendung an.
Zur Stellung des Dekalogs: In der abendländischen Rezeptionsgeschichte kommt dem → Dekalog
Bereits innerhalb des Alten Testaments ist dieser Ansatz umstritten, wenn Lev 19,37
3.2. Narrative Texte
Narrativität (→ Narrativität
Nicht nur entstehungsgeschichtlich wird das Primat des Narrativs gegenüber den Gesetzesüberlieferungen für eine Ethik betont. Wird das Verhältnis zwischen beiden kanonisch betrachtet, lässt sich beobachten, dass beide nebeneinander existieren, ohne direkt aufeinander bezogen zu sein. Teilweise stehen sie auch in direktem Widerspruch zueinander: Eine Erzählung wie Gen 20,12
Erzählungen wie Gen 38
3.3. Lyrische Texte
Lyrik umfasst Gattungen unterschiedlichster Art: Liebes-, Trink-, Sieges- und Klagelieder gehören dazu. „Poetische Texte“ wird teilweise synonym im Sinne von Lyrik gebraucht. Lyrische Dichtung bringt allgemein-menschliche Empfindungen wie Trauer und Freude in einer verdichteten Form zum Ausdruck mit Hilfe von Stilmitteln. Analog zu narrativen Texten ist der spezifischen Form eine ethische Dimension inhärent. Der weisheitliche Eröffnungspsalm des Psalters stellt den Weg des Gerechten dem des Frevlers gegenüber (Ps 1,1
Im Lesen und Singen der → Psalmen
In Aufnahme der jahrhundertelangen typologischen Auslegung des → Hohen Liedes
3.4. Prophetische Texte
Nicht zuletzt im Gefolge der Idealisierung der Prophetenfiguren (→ Prophetie
Recht und Gerechtigkeit (Am 5,21ff
Zur Exemplifizierung der Ethik greift das Buch → Hosea
3.5. Weisheitliche Texte
Weisheitliche Texte (→ Weisheit
Weisheitliche Texte wie das Buch der → Sprüche
Das Buch der Sprüche als Unterweisung an Söhne der wohlhabenden Oberschicht in nachexilischer Zeit kann in seiner Wertschätzung der Handlungs- und Lebensweise der starken Frau in Spr 31
Die weiblich personifizierte Weisheit übermittelt den Menschen die göttliche Ordnung (Spr 1-7
4. Kernfragen einer Ethik des Alten Testaments
4.1. Zur Rolle der menschlichen Urteilsbildung
Auf die Notwendigkeit und Ambivalenz der moralischen Urteilsbildung wird ausgehend von Gen 2-3, der sog. → Paradiesgeschichte
Diese Fragen zeigen implizit auf, welche theologischen und anthropologischen Konsequenzen es hat, wenn der Griff nach der Frucht in Gen 3
Die narrative Analyse erhellt den inneren Konflikt (Bar Efrat 1989) im → Herzen
Dass sich Ethik auch als Dekonstruktion d.h. Infragestellung von Werten vollziehen kann, findet sich bereits in alttestamentlichen Texten. David Clines (1995) zeigt entlang einiger biblischer Texte auf, dass sich dort die Etablierung einer Norm, eines ethischen Wertes, gerade in der Dekonstruktion vollziehe. Laut Dtn 23,15-16
4.2. Zur Begründung der Ethik
Die Aufforderung zur Integrität des Menschen ist an prominenten Stellen mit Selbstvorstellungen Gottes verbunden. Ethisches Handeln wird an Gottes Sein und Handeln rückgebunden: „Ich bin El Schaddai. Lebe vor meinem Angesicht und sei vollkommen!“ (Gen 17,2
Wird das Alte Testament historisch betrachtet, wird von einer zunehmenden Theologisierung des Rechts gesprochen, d.h. Überlieferungen wurden sekundär als Offenbarung Gottes deklariert und theonom begründet. Angesichts der Pluralität der Handlungsnormen der alttestamentlichen Überlieferungen ist nach Kriterien innerhalb des Alten Testaments zu fragen. Diese sind für Otto u.a. im Gottesgedanken zu finden. Doch lässt sich dieser Vorgang historisch verifizieren und welchen Stellenwert nehmen im Detail theonome ethische Forderungen, in denen Gott als Begründung angeführt wird, ein? Wenn einlinig gesagt wird, dass biblische Wertevorstellungen auf der Basis von Gehorsam gegenüber Gott argumentieren, bleibt zum einen die literarische Struktur und zum anderen auch die angeführte Vielfalt der Begründungszusammenhänge unterbelichtet. In der Zusammenschau der unterschiedlichen ethischen Entwürfe lässt sich festhalten: Begründet wird die Ethik im Geschichtshandeln Gottes, im Befreiungsgeschehen, im Bundesgedanken oder aber in der Schöpfungstheologie bzw. im Gegenüber des Menschen zu seinem Schöpfer. Kessler spricht von den beiden Säulen „Segen und Befreiung“, auf denen die Ethik ruhe (Kessler 2011), für Annette Soete (1987) stehen Rettung und Befreiung zentral. Nimmt man ein Projekt wie „Bibel in gerechter Sprache“ (2011) zum Ausgangspunkt, ist es Gerechtigkeit in ihren unterschiedlichen Dimensionen.
4.3. Zur Normativität der Ethik
Die Kontextualität alttestamentlicher Ethik wird unterschiedlich bewertet: entweder als Problem oder aber als Voraussetzung für eine Ethik. Wird diese methodisch reflektiert, muss sie nicht Hinderungsgrund sein, vielmehr wird an der kontextuellen Relevanz ethischer Handlungsmuster jeweils deutlich, dass und wie diese „funktionieren“. Sie dient als Ermöglichungsgrund für aktualisierende Kontextualisierungen. Die Kontexte müssen dabei gemäß dem hermeneutischen Zirkel miteinander ins Gespräch gebracht werden. Die sozialgeschichtliche Auslegung macht wie kein anderer Ansatz auf die Differenz zwischen der literarisch verschriftlichten Ethik und dem Ethos, der gelebten Ethik, aufmerksam. Zugleich lässt sie erkennen, dass literarische Texte Gegenpositionen zum vorherrschenden Ethos einnehmen können.
In konstruktiven Ansätzen, in denen es um eine Ethik geht, die auf dem Alten Testament basiert, rückt die Frage nach der Autorität der Schrift ins Blickfeld. Der Kanon scheint die angemessene äußere Form, die Intention der jeweiligen Schrift verbindlich zu machen, abzubilden (Spieckermann 1997). Die bindende Rolle der Schrift ist damit in der Auslegung immer neu auszuhandeln. Ethik realisiert sich in der jeweiligen Aktualisierung eines Maßstabes, in der kreativen und kritisch dekonstruktivistischen Auslegung. Rezeptionsästhetisch bzw. rezeptionsgeschichtlich betrachtet drückt sich Normativität in dem jeweiligen Aneignungsakt aus. Immer wieder wurde das spezifisch Alttestamentliche / Israelitische, das Proprium einer alttestamentlichen Aussage gegenüber der Umwelt, als Grundorientierung für die Ethik gesehen, wobei diese Extrapolierung zu einer Verzerrung führen kann.
Einen Ansatzpunkt für eine christliche Tora-Rezeption sieht Crüsemann (1992) in Dtn 4,5-8
Der hermeneutische Zirkel, der zwischen Text und Kontext immer wieder neu abgeschritten werden muss, vereint das eher in protestantischen Kreisen betonte Schriftprinzip mit der Rolle, die der Tradition in der katholischen Auslegung zukommt. Dort, wo der historische Kontext analysiert wird und Normen bzw. ethische Handlungsmuster als Reaktion auf bestimmte Situationen verstanden werden, wird die Genese und die Applikation von Ethik als ein Interaktionsgeschehen betrachtet. Entsprechend wäre eine Ethik des Alten Testaments als Diskursgeschichte zu schreiben, die die Reflexionsprozesse, die zum Text und seinem ethischen Potenzial geführt haben, zu erleuchten versucht (Konradt 2011). Nicht zuletzt macht dies auch dialogfähiger im interdisziplinären wie interkulturellen Gespräch, damals wie heute.
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