Ewald, Heinrich
(1803-1875)
(erstellt: Februar 2009)
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1. Leben
Georg Heinrich August Ewald wurde am 16.11.1803 als Sohn eines Tuchmachers in Göttingen geboren. 1820 nahm er in seiner Heimatstadt das Studium der klassischen Philologie, Theologie und v.a. der Orientalistik auf; zu seinen Lehrern zählten der Alttestamentler → Johann Gottfried Eichhorn
1837 protestierte Ewald mit anderen Professoren der Universität gegen die Aufhebung des erst 1833 verabschiedeten Staatsgesetzes durch König Ernst August von Hannover und wurde daraufhin als einer der „Göttinger Sieben“ entlassen. Nur wenige Monate später bekam er jedoch einen Ruf an die Universität Tübingen. Dort erhielt Ewald zunächst einen Lehrstuhl an der philosophischen, ab 1841 an der theologischen Fakultät. Hier entstanden seine wichtigsten exegetischen Arbeiten, zugleich trat aber auch seine Neigung zu maßloser Polemik zunehmend hervor: Immer wieder meldete er sich mit politischen (seit den Ereignissen von 1837) und theologischen Streitschriften zu Wort. Seine Stellung an der theologischen Fakultät wurde zunehmend durch seine Polemik gegen seinen Kollegen Ferdinand Christian Baur (literarisch: „Über einige wissenschaftliche Erscheinungen neuester Zeit auf der Universität Tübingen“ 1846) belastet.
So bemühte sich Ewald, nachdem sich die politischen Verhältnisse im Königreich Hannover zu seinen Gunsten gewandelt hatten, erfolgreich um eine Rückkehr nach Göttingen, wo er 1848 erneut einen Lehrstuhl an der philosophischen Fakultät erhielt. Ein Wechsel an die theologische Fakultät wurde ihm allerdings 1855 vermutlich auf Grund seiner fortwährenden Polemik, die sich fast gegen jedermann richtete, verweigert. In den „Jahrbüchern der Biblischen wissenschaft“ (1848-1865), die Ewald selbst herausgab, bedachte er neue Veröffentlichungen meist mit vernichtenden Urteilen – er war der Überzeugung, einzig und allein die „ächt Biblische Wissenschaft“ zu beherrschen, und überwarf sich mit Kollegen wie Schülern (s. ausführlich Perlitt).
1867 wurde Ewald erneut – diesmal mit vollem Gehalt und der Erlaubnis, weiterhin Vorlesungen zu halten – entlassen, nachdem er nach der Annexion des Königreiches Hannover durch Preußen 1866 dem preußischen König den Huldigungseid verweigert hatte. Die Erlaubnis, Vorlesungen zu halten, wurde ihm 1868 wegen anhaltender politischer Äußerungen („das Lob des Königs und des Volkes“) entzogen. Ab 1869 war er Vertreter der Stadt Hannover im norddeutschen, später dann im deutschen Reichstag für die oppositionelle Welfenpartei und veröffentlichte weiter zahlreiche politische Pamphlete. Ebenso schrieb er nach wie vor theologische Streitschriften gegen „Unfreie“ (die Konservativen im Umkreis Hengstenbergs) und „Übelfreie“ (F. Chr. Baur und seine Schüler). Als Alterswerk muss jedoch seine vierbändige Theologie „Lehre der Bibel von Gott oder Theologie des Alten und Neuen Bundes“ (1871-1876) gelten. Am 4.5.1875 – kurz nach Abschluss der letzten Korrekturen – starb Ewald in Göttingen.
2. Werk
Ewald war eine eigenständige wie eigenwillige Forscherpersönlichkeit. Sein v.a. durch die frühen Arbeiten erworbener Ruf über den deutschen Sprachraum hinaus erlaubte ihm eine gewisse Narrenfreiheit im Umgang mit Fachkollegen wie mit der Obrigkeit; zugleich muss gelten: „Seine kritische Kompetenz (in der Grammatik und in der Exegese) diskreditierte er durch inkompetente Kritik (in der Theologie und in der Politik).“ (Perlitt 284). Davon unberührt gilt er in forschungsgeschichtlicher Hinsicht als eine „Übergangsgestalt“ (Reventlow 292) – die sich bereits in seiner Zeit anbahnenden Einsichten und Umbrüche in der historisch-kritischen Exegese werden erst in der folgenden Generation zu neuen Hypothesen zusammengeführt, wobei seinem Schüler → Julius Wellhausen
2.1. Philologische Arbeiten
Ewalds 1827 zuerst veröffentlichte „Kritische Grammatik der hebräischen Sprache“ erlebte zahlreiche verbesserte und erweiterte Auflagen (ab der 5. Auflage 1844: „Ausführliches Lehrbuch der hebräischen Sprache des Alten Bundes“). Seine – wie auch die zahlreichen Auflagen belegen – weitgehend anerkannten Leistungen liegen auf dem Gebiet der Laut- und Schriftlehre, der Nominalbildung und v.a. der hebräischen Syntax (Wellhausen 122-129; vgl. auch Bauer / Leander 44f.). Während sich → Gesenius
Wichtigste Bezugswissenschaft der Hebraistik war im 19. Jh. die Arabistik. Ewalds Arbeiten auf diesem Gebiet („De metris carminum arabicorum“ 1825) wurden wegweisend für sein Verständnis der hebräischen Metrik. Obwohl er auch hier nach den Eigenarten der hebräischen Poesie fragt, nimmt er Hebungen und Senkungen wie in anderen Sprachen an („Die poetischen Bücher des Alten Bundes“ Bd. I, 57ff.); dabei folgt der Versbau dem Sinn – mit Unregelmäßigkeiten ist daher zu rechnen. Die lyrische Poesie (später sprach er von „Dichtkunst“) hält Ewald gegen Hegels Abfolge Epos-Lyrik-Drama für die älteste Dichtform: „Sie ist es ihrem Wesen nach: denn sie ist die Tochter des Augenblicks, schnell emporkommender gewaltiger Empfindungen, tiefer Rührungen und feuriger Bewegungen des Gemüthes.“ (Bd. I, 11). Davon ausgehend rechnet er bei einigen Psalmen mit einer davidischen Verfasserschaft – der „erhabenste Mensch“ sei auch „der größte lyrische Dichter seines Volkes“ (Bd. II, 2).
2.2. Prophetie
Prägend bis → Bernhard Duhm
Das Phänomen der Prophetie erläutert Ewald grundsätzlich in seiner Einführung „Der Prophet überhaupt“ (Bd. I, 2-21): Die „Gedanken Gottes“, die „allgemeinen Wahrheiten welche die Welt beherrschen“ sind jedem Menschen eingestiftet, bleiben allerdings meistens unerkannt und daher wirkungslos (Bd. I, 2f.). Der Prophet erhält nun aufgrund seiner persönlichen Disposition durch die Einwirkung Gottes Einsicht in diese Wahrheiten und muss sie fortan seinen Zeitgenossen zu Gehör bringen: „Der Prophet muss sprechen was sein Gott will und wie er es will…“ (Bd. I, 5f.). In dieser Funktion ist Prophetie zugleich eine zeitlich begrenzte Erscheinung: „Ganz anders alles in unserer zeit. Jetzt sind, dank den Propheten, die göttlichen wahrheiten … allgemein bekannt und geläufig geworden, und es handelt sich fast nur um ihre richtige beziehung und die unendliche anwendung.“ (Bd. I, 11).
Obwohl sich Ewald mit diesem (nach Kraus 189f. idealistischen) Verständnis der Prophetie als Kind seiner Zeit zeigt, schafft er es wegweisend, die Prophetie als Größe sui generis losgelöst vom (vermeintlich!) vorausgehenden Gesetz zu profilieren: Wesentlich ist dabei das „Gewaltsame und Unmittelbare“ (Reventlow 293) der Art, wie Gott sich den Propheten mitteilt. Als die Prophetie diese Unmittelbarkeit verliert, erlebt sie – mit einer späten Blüte in nachexilischer Zeit – ihren Niedergang.
2.3. Geschichte Israels
Nach den Anfängen des 18. und frühen 19. Jh.s (v.a. → Wilhelm Martin Leberecht de Wettes
Geschichtsschreibung basiert auf den ihr zur Verfügung stehenden Quellen; dem trägt Ewald durch deren sorgfältige Sichtung und Abwägung Rechnung. Neben den „geschichtlichen“ finden dabei auch die „prophetischen“ und „dichterischen Stücke“ (Bd. I, 12) in seiner Darstellung Berücksichtigung. Ausführlich geht er auf die Sage ein, die er als eine literarische Größe sui generis einordnet und würdigt (Bd. I, 15-60). Über diese formale Differenzierung der Quellen hinaus erläutert Ewald auch literarkritische Fragestellungen. Hinsichtlich der → Pentateuchkritik
Einflussreich bis → Duhm
Insgesamt wird Ewalds Darstellung der Geschichte Israels geleitet durch einen spezifischen (nach Kraus 184f. idealistisch geprägten) Religionsbegriff: Israel strebt durch seine Geschichte hin zur wahren, vollkommenen Religion (Bd. I, 9). Wie bereits der Titel andeutet, steht Ewalds Werk dabei unter der theologischen (und aus heutiger Sicht theologisch zu hinterfragenden) Prämisse, das Wesentliche der durch Israels erstrebten Religion sei ins Christentum überkommen und die Geschichte des Gottesvolkes damit an ihr Ende gelangt:
„In das Christenthum ist nun alles wahre edle und herrliche übergegangen was je in dem alten volke sich höher regte und sich bis zu seiner eigenen verherrlichung verklärte; und das Unsterbliche welches schon dort die engen schranken in denen es sich zuerst sammeln und ausbilden mußte allmählich immer stärker durchbrechen wollte, lebt und wirkt nun nachdem es sie auf die rechte art durchbrochen hat in diesem fort um in ungleich weiteren grenzen ein noch viel höheres neues leben zu schaffen.“ (Bd. VII, 394)
2.4. Biblische Theologie
Die vierbändige Biblische Theologie „Lehre von Gott oder Theologie des Alten und Neuen Bundes“ (1871-1876) war nach Ewalds eigenem Verständnis Abschluss und Krönung seines Lebenswerkes, blieb jedoch ohne die von ihm erwartete große Resonanz (zum Folgenden insgesamt Smend 1991); sie vereint ungebrochen alt- und neutestamentliche Theologie und gerät nebenbei auch immer wieder zur politischen und kirchenpolitischen Kampfschrift (vgl. die programmatischen Ausführungen der Vorrede Bd. IV, XIV).
Biblische Theologie gliedert sich nach Ewald in drei Teile: sie bietet erstens eine Lehre vom Wort Gottes, entfaltet zweitens notwendigerweise – erzählend – die Geschichte Israels, da die biblischen Wahrheiten sich nur in ihrer geschichtlichen Bedingtheit darstellen lassen, und sie bietet drittens als eigentliches Ziel den Zusammenhang bzw. das System der Biblischen Theologie. Enthalten sind in den vier Bänden nur erster und dritter Teil; dazwischen möchte Ewald explizit seine vorliegende Geschichte Israels einbezogen wissen (Bd. IV, V). Bd. I bietet die Lehre vom Wort Gottes, die Bde II-IV den eigentlichen Zusammenhang der Biblischen Theologie; unterscheiden lassen sich dabei Glaubenslehre bzw. Lehre von Gott und Welt in Bd. II und III einerseits und Lebenslehre (höchstes Gut, Pflicht- und Tugendlehre) und Reichslehre (weltliches Reich und Gottes- und Christusreich) in Bd. IV andererseits.
Die Disposition des Stoffes (Prolegomena – Dogmatik – Ethik) folgt der klassischen Schuldogmatik; gleichwohl ist sich Ewald dessen bewusst, dass die Schrift Spannungen und Widersprüche zeigt, die sich nicht nahtlos in dieses Schema integrieren lassen – und dennoch geht er davon aus, dass sie im Ganzen eine durch intensives Forschen und Fragen erkennbare Einheit birgt (Bd. II, 3; vgl. auch 1ff. und 33).
Ebenso entfaltet Ewald die einzelnen Lehrgegenstände in ihrer geschichtlichen Entwicklung und differenziert nach „Zeitaltern“, „Wendungen“ oder „Stufen“; auch wenn er seine Geschichte Israels voraussetzt, kann er die Themen in ihrer systematischen Darstellung nicht von ihrem geschichtlichen Kontext lösen (vgl. Bd. I, 418; Bd. II, 3f. 26ff.). Als Beispiel dieses Vorgehens kann der Abschnitt „Der Name und die namen Gottes“ (Bd. II, 327ff.) dienen: Nach Ewald ist „Eloah“ ursprüngliche Bezeichnung des wahren Gottes in seiner Mächtigkeit. In den folgenden Epochen treten weitere Namen Gottes hinzu: In der Zeit Moses erhält Gott den Eigennamen „Jahve“. Die Richter- und Königszeit bringt durch die Erfahrung der Überlegenheit Gottes in kriegerischen Auseinandersetzungen die Ergänzung zu „Jahve der Heere“ (→ Zebaoth
Literaturverzeichnis
1. Lexikonartikel
- Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl., Tübingen 1957-1965
- Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1977-2004
- The Anchor Bible Dictionary, New York 1992
- Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2007
- Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, Leipzig 1869-1913
- Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (im Internet
) - Autorinnen und Autoren des Vormärz – ein Online-Lexikon
- Allgemeine und Neue Deutsche Biographie online
2. Werke (in Auswahl)
- Ausführliches Lehrbuch der hebräischen Sprache des Alten Bundes, 7. Aufl. Göttingen 1863
- Die poetischen Bücher des Alten Bundes, 4 Bde., Göttingen 1835-1839 (2. Aufl.: Die Dichter des Alten Bundes, 4 Bde., Göttingen 1866; PDF im Internet
) - Die Propheten des Alten Bundes, 3 Bde., 2. Aufl. Göttingen 1867f.
- Geschichte des Volkes Israel bis Christus, 7 Bde., Göttingen 1843-1859
- Die Alterthümer des Volkes Israel, Göttingen 1848
- Lehre der Bibel von Gott oder Theologie des Alten und Neuen Bundes, Göttingen 1871-1876
3. Sekundärliteratur
- Bauer, H. / Leander, P., 1922, Historische Grammatik der Hebräischen Sprache des Alten Testamentes, Halle
- Bertholet, A., 1925, Aus dem Briefwechsel von Hitzig und Ewald, in: K. Budde (Hg.), Vom Alten Testament (FS K. Marti; BZAW 41), Gießen, 28-36
- DeCaen, V., 1996, Ewald and Driver on biblical Hebrew "aspect": Anteriority and the orientalist framework, ZAH 9, 129-151
- Kraus, H.-J., 1956, Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments von der Reformation bis zur Gegenwart, Neukirchen-Vluyn
- Neumann, P.H.A. (Hg.), 1979, Das Prophetenverständnis in der deutschsprachigen Forschung seit Heinrich Ewald (WdF 307), Darmstadt
- Perlitt, L., 1995, Heinrich Ewald: Der Gelehrte in der Politik, in: ders., Allein mit dem Wort. Theologische Studien, Göttingen, 263-312
- Reventlow, H. Graf, 2001, Epochen der Bibelauslegung IV. Von der Aufklärung bis zum 20. Jahrhundert, München
- Smend, R., 1959, Das Mosebild von Heinrich Ewald bis Martin Noth (Beiträge zur Geschichte der biblischen Exegese 3), Tübingen
- Smend, R., 1991, Heinrich Ewalds Biblische Theologie. Hinweis auf ein vergessenes Buch, in: ders.: Epochen der Bibelkritik. Gesammelte Studien Band 3 (BevTh 109), München
- Vincent, J.M., 1993, Die Beziehung Eduard Reuss' zu Heinrich Ewald, ZAW 105, 102-110
- Wellhausen, J., 1965, Heinrich Ewald, in: ders., Grundrisse zum Alten Testament. Hg. v. R. Smend (TB 27) München 120-138
- Stadtarchiv Göttingen
Abbildungsverzeichnis
- Georg Heinrich August Ewald. © public domain
- Die „Göttinger Sieben“ – von links nach rechts: Wilhelm und Jacob Grimm (oben), Wilhelm Eduard Albrecht, Friedrich Christoph Dahlmann und Georg Gottfried Gervinus (Mitte), Wilhelm Eduard Weber und Heinrich Ewald (unten). Lithografie von Carl Rohde, 1837/38; © public domain
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