Deutsche Bibelgesellschaft

Exodustradition

(erstellt: Dezember 2012)

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1. Die Exodustradition zwischen alttestamentlicher Literaturgeschichte und Geschichte Israels

Die Überzeugung, von JHWH aus Ägypten herausgeführt worden zu sein, bildet das „Urbekenntnis Israels“ (Noth, 52). So jedenfalls stellt es sich im Licht der alttestamentlichen Schriften dar, in denen das Exodus-Credo nahezu omnipräsent ist. Allerdings stammen die besagten Schriften überwiegend aus exilischer und nachexilischer Zeit. Sie zeigen damit zunächst nur, dass die Überlieferung vom Exodus Israels eine entscheidende Rolle bei der Identitätsbildung des werdenden Judentums spielte. Inwieweit das „biblische“ Israel der alttestamentlichen Texte mit dem historischen Israel in vorexilischer Zeit zu tun hat, ist indes eine vollkommen andere Frage. Da externe Quellen den Exodus nicht erwähnen, ist man zur Beantwortung ganz auf die kritische Analyse der alttestamentlichen Texte angewiesen, die aber nur selten Historizität beanspruchen können. Die Darstellung der vorstaatlichen Zeit in den Büchern Exodus bis Richter gehört bis auf wenige Ausnahmen in den Bereich der religiösen Legendenbildung, und nichts anderes gilt für große Teile dessen, was die Samuel- und Königebücher über die Epoche der Monarchie zu berichten wissen (→ Samuel- und → Königebücher).

In Anbetracht der problematischen Quellenlage ist auch die verbreitete These zu kritisieren, das Exodus-Credo sei die Parole gewesen, unter der → Jerobeam I. zunächst den Befreiungskampf der Nordstämme gegen die Salomonische Fron geführt habe und die daraufhin in den Rang der Staatsideologie des Nordreichs erhoben worden sei (Albertz; van der Toorn; Blum). Sie basiert im Wesentlichen auf 1Kön 12,28, einem Vers aus der Feder eines Deuteronomisten, der Jerobeam bei der Weihe der von ihm errichteten Stierbilder (→ Goldenes Kalb) eine Exodusformel in den Mund legt, um ihn zum Frevler par excellence zu stilisieren. Dass sich hinter dieser deuteronomistischen Polemik eine historisch verlässliche Reminiszenz verbirgt, ist unwahrscheinlich, zumal weitere Quellenbelege fehlen, die einen offiziellen Status des Exodus-Credos im Nordreich Israel nahelegen würden. Die vereinzelten Exodusreflexe bei Hosea und Amos (Hos 11,1; Hos 12,10.14; Hos 13,4f.; Am 2,10f.; Am 3,1; Am 9,7) sind jedenfalls nicht Bestandteil der Verkündigung der beiden Nordreichspropheten aus dem 8. Jh. v. Chr., sondern gehen auf spätere Fortschreibungen der mit ihrem Namen verbundenen Prophetenbücher zurück. Sie setzen wie 1Kön 12,28 das Ende der Monarchie schon voraus und erheben die Exodustradition in der Rückschau zum Maßstab für die theologische Deutung der königszeitlichen Verhältnisse.

Ganz abgesehen von der Frage nach dem historischen Haftpunkt, über den sich keine gesicherten Aussagen treffen lassen, gibt es auch sonst keine Belege dafür, dass die Exodustradition schon vor dem Untergang des Nordreiches Israel (722 v. Chr.) eine besondere Rolle gespielt hat. Erst nach dieser historischen Zäsur scheint sie in Ex 1-15* erstmals verschriftet worden zu sein, und erst in dieser Situation entfaltet sie auch ihr spezifisches Bedeutungspotential als Ursprungslegende Israels: Die Exodustradition zielt ihrem Wesen nach nicht auf die Begründung königszeitlicher Verhältnisse, sondern liefert gerade eine alternative Identitätsbestimmung Israels, das sich in unmittelbarer Weise als Volk JHWHs begreift und auf die Vermittlung durch die Monarchie nicht mehr angewiesen ist (Kratz, 308-311). Die heilsgeschichtliche Neubegründung des Gottesverhältnisses Israels aus dem Exodus ist nicht Ausfluss überkommener Staatsideologie, sondern zentrale Errungenschaft nachstaatlicher Theologie, deren gewaltiges Potential in der literarischen Ausgestaltung der Exodustradition in den alttestamentlichen Schriften erst sukzessive ausgeschöpft werden sollte.

2. Die Exodustradition in Pentateuch und vorderen Propheten

Die vorliegende Gestalt des Enneateuch (die Bücher Genesis - 2Könige) durchzieht eine Matrix von Bezugnahmen auf den Exodus, die die Schilderung in Ex 1-15 als literarisches und theologisches Zentrum des heilsgeschichtlichen Gesamtentwurfes markieren. In aller Regel handelt es sich um knappe, formelhafte Verweise, mittels derer die Auszugsereignisse mit unterschiedlichem thematischen Fokus rekapituliert werden. Dabei stehen sich zwei Hauptausprägungen der Exodusformel gegenüber, deren eine, am weitesten verbreitete von der Herausführung (יצא jāṣā’ Hif.) Israels durch JHWH spricht, während die andere auf die Heraufführung (עלה ’ālāh Hif.) ins Land abhebt und damit den Zusammenhang zwischen Exodus und Landnahme akzentuiert. Die Unterschiede in der Verwendung erklären sich aus der jeweiligen erzählerischen und theologischen Perspektive und erlauben keine Rückschlüsse auf etwaige mündliche Entwicklungsstufen der Exodustradition. Die genannten Ausprägungen der Formel (sowie all ihre weiteren Spielarten) sind vielmehr Ausdruck einer literarischen Exodusrezeption, die sich in der priesterschriftlichen (u.a. Lev 11,45; Lev 22,33) wie in der deuteronomisch-deuteronomistischen Literatur (u.a. Dtn 13,6; Dtn 20,1) gleichermaßen verfolgen lässt und die im letztgenannten Literaturbereich nicht nur ihren Anfang nahm, sondern zugleich ihre facettenreichste Ausgestaltung erfahren hat.

Aus der Vielzahl der deuteronomisch-deuteronomistischen Exodusformeln (vgl. Schulmeister) sticht wirkungsgeschichtlich der Verweis auf die Herausführung Israels aus dem Sklavenhaus Ägypten heraus, die beide Fassungen des → Dekalogs eröffnet (Ex 20,2; Dtn 5,6). Sie fasst den Exodus in der Sache als Akt der gewaltsamen Sklavenbefreiung durch JHWH, an den sich folgerichtig der Eintritt Israels in den → Bund mit JHWH anschließt (Ex 24,3-8; Dtn 26,16-19; vgl. Ex 29,46 [→ Priesterschrift]). Die Verpflichtung auf das Gesetz, in der die von Israel geforderte Bundestreue Gestalt gewinnt, erfolgt damit von vornherein im Horizont der ungeschuldeten Befreiungstat JHWHs. Der Imperativ des göttlichen Gebotes gründet fest im heilsgeschichtlichen Indikativ, ein Sachverhalt, der auch in der Rückschau stets so erinnert wird (u.a. Ri 2,11f.; 1Sam 10,18f.; vgl. Lev 11,45 [Priesterschrift]). In Konkretisierung dieser universellen heilsgeschichtlichen Perspektive kann die Erinnerung an die Situation in Ägypten oder an die Umstände der Befreiung von Mal zu Mal zur Begründung bestimmter Einzelgebote dienen, etwa der Bestimmungen zum Umgang mit Fremden, Witwen und Waisen (Dtn 10,19; Dtn 23,8; Dtn 24,18.22) sowie Sklaven (Dtn 15,15; vgl. Lev 25,42.55 [Priesterschrift]) oder der Vorschriften zum Passa-Mazzotfest (Dtn 16,1; vgl. Ex 23,15; Ex 34,18).

Sind die Exodusformeln nicht selten auf den elementaren Sachverhalt der Heraus- bzw. Heraufführung konzentriert, so treten an anderer Stelle attributive Näherbestimmungen hinzu, die spezifische Aspekte der Exoduserzählung (Ex 1-15) einholen. Eine der jüngsten Belegstellen (Dtn 4,34) bündelt das gesamte einschlägige Vokabular und sieht Israels Befreiung u.a. durch „Zeichen und Wunder“ (die → Plagen; vgl. Ex 7-11), „Krieg“ (das → Meerwunder; vgl. Ex 14), und „eine starke Hand und einen ausgestreckten Arm“ (die Tötung der Erstgeburt; vgl. Ex 12) bewirkt. Die erkennbar um Vollständigkeit bemühte Aufzählung der göttlichen Machterweise ist Bestandteil eines nachexilischen Diskurses, dem es längst nicht mehr nur darum geht, sich anhand des Exodusgeschehens der Ursprünge des eigenen Gottesverhältnisses zu versichern. Vielmehr gelten JHWHs vor den Augen der Völker gewirkte Großtaten als Beweis für die Einzigkeit des Gottes Israels; der Exodus hat sich zur Basis eines monotheistischen Bekenntnisses entwickelt (Dtn 4,35).

3. Die Exodustradition bei den Propheten

Während vorexilische Exodusbelege in den alttestamentlichen Prophetenbüchern nicht sicher nachweisbar sind (Berner), gewinnt das Thema in der exilischen und nachexilischen Schriftprophetie erkennbar an Bedeutung. Vor allem bei → Deuterojesaja entwickelt sich die Herausführung der Israeliten aus Ägypten zum mythisch aufgeladenen Urbild, das die Hoffnung auf eine Rückführung der Exulanten begründet (u.a. Jes 43,1-7.14-21; Jes 48,20f.; Jes 51,10f.; Jes 52,2-5.11f.; Jes 55,12f.; vgl. Jes 11,15f.; Jes 35; Jes 63,11-14; Jer 16,14f.; Jer 23,7f.; Hos 2,2f.). Die Vorstellung eines zweiten Exodus findet sich auch im → Ezechielbuch, wo sie nochmals in eigener Weise akzentuiert wird: So kündigen Ez 20,34f. die Heraus- und Zusammenführung der jüdischen Diaspora zum Gericht in der Wüste an, und Ez 37,12f. verheißen einen Exodus aus den Gräbern als Metapher für die Restitution Israels.

Die Rezeption der Exodustradition bei den Schriftpropheten brachte auch eine theologische Neubesinnung über die Ursprünge des Gottesverhältnisses Israels mit sich. Neben die klassische Exodusterminologie treten nun vermehrt andere Begriffe, die den Exodus in den Kategorien des Handelsrechts als Erwerb eines Eigentums (פדה pādāh) interpretieren (Jes 51,11; vgl. Dtn 7,8; Dtn 9,26) oder ihn in die Vorstellungswelt des Familienrechts übertragen und als Rückkauf (גאל gā’al) eines in Not geratenen Angehörigen (Jes 51,10; Jes 63,9.16) bzw. als Aufnahme (לקח lāqaḥ) eines Fremden in die Hausgemeinschaft darstellen (Ez 36,24; Ez 37,21; vgl. Dtn 4,34). Trotz oder vielleicht gerade wegen der gewichtigen Bedeutung, die dem Exodus in den alttestamentlichen Schriften beigemessen wird, finden sich auch prophetische Stimmen, die betonen, dass die Befreiung aus der ägyptischen Fron keinen Automatismus begründet, der JHWHs heilvolle Zuwendung bedingungslos verfügbar macht: JHWH kann sein ungehorsames Volk auch wieder nach Ägypten zurückkehren lassen (Hos 8,13; Hos 9,3; vgl. Dtn 28,68), und Am 9,7 stellt sogar die Einzigartigkeit der Herausführung Israels in Frage und reklamiert auch für die Nachbarvölker Israels analoge Heilstaten JHWHs, um einem übertriebenen Erwählungsbewusstsein entgegen zu treten.

4. Die Exodustradition im Psalter

Während heilsgeschichtliches Denken im Psalter aufs Ganze gesehen nur eine untergeordnete Rolle spielt, finden sich eine Reihe von Psalmen, die dezidiert auf den Exodus und die weitere Geschichte Israels Bezug nehmen. Diese sog. Geschichtspsalmen (Ps 78; Ps 105; Ps 106; Ps 114; Ps 135; Ps 136; vgl. Ps 77; Ps 80; Ps 81) sind späte theologische Programmtexte, die die entsprechende Darstellung im Penta- / Enneateuch durchweg voraussetzen und für eine Identitätsbestimmung des werdenden Judentums im Modus des Gebets fruchtbar machen (Gärtner). In der Erinnerung an die biblische Geschichte vergegenwärtigt man sich die Ursprünge des eigenen Gottesverhältnisses und vergewissert sich seiner Identität als JHWHs erwähltes Volk.

Die spezifische Art und Weise, in der die Exodustradition rezipiert wird, fällt von Text zu Text ganz unterschiedlich aus. So kann der Verfasser von Ps 114 in einem Atemzug von JHWHs machtvollem Wirken beim Durchzug der Israeliten durch das Meer (Ex 14) und durch den → Jordan (Jos 3) berichten, um den unmittelbaren sachlichen Zusammenhang zwischen Auszug und Landnahme hervorzuheben. Dagegen bieten Ps 78; Ps 105; Ps 106 eine ausführliche Wiedergabe zentraler Ereignisse der biblischen Geschichtsdarstellung und betonen besonders den Kontrast zwischen den Wohltaten JHWHs und dem Ungehorsam des Volkes, der in der Zurückweisung des göttlichen Gesetzes zum Ausdruck kommt. Der Umgang der einzelnen Verfasser mit den in Ex 1-15 vorgegebenen erzählerischen Details ist dabei durchaus kreativ. So können z.B. Sequenz und Anzahl der Plagen variiert (vgl. Ps 105,26-36), aber auch ganz neue Plagen erdacht werden, die im Prosabericht noch keine Parallele haben (vgl. Ps 78,46). Man steht hier bereits an der Schwelle zur midraschartigen Ausgestaltung der Exodustradition in den → Apokryphen (vgl. z.B. Weish 11,2-26; Weish 16,1-19,21), → Pseudepigraphen (vgl. z.B. Jub 47f.) und in der frühjüdischen Literatur (vgl. z.B. die Exagoge des Tragikers Ezechiel), wo die literarischen Entwicklungen innerhalb der kanonisch gewordenen Schriften ihre nahtlose Fortsetzung finden sollten.

Literaturverzeichnis

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