Flucht
(erstellt: September 2015)
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Das Thema „Flucht“, „Fliehen“, „Flüchtling“ oder „flüchtig sein“ ist schon außerhalb der Bibel, etwa in Ägypten (→
Sinuhe-Erzählung
Das Thema „Flucht“ berührt bzw. überschneidet sich mit einer Reihe anderer Themen, die sich in diesem Lexikon besonders unter den Einträgen →
Asyl
1. „Flucht“ im Alten Testament
1.1. Terminologie
Das Biblisch-Hebräische kennt eine erstaunliche Fülle von Verben und z.T. deren nominalen Entsprechungen (Flucht, Flüchtling, Fluchtort etc.), die von den üblichen deutschen Übersetzungen des Alten Testaments gerne mit „fliehen“ / „flüchten“ oder Verben dieses Wortfeldes wiedergegeben werden. Das alleine zeigt schon, dass „Flucht“ und „Fliehen“ als vielgestaltiges, bedeutsames, auch neuralgisches Thema in der Lebenswelt der biblischen Autoren wahrgenommen worden sein muss. Zu den Verben gehören zum einen solche, die eher die Fluchtbewegung thematisieren, in Reihenfolge ihrer Häufigkeit: נוּס
nûs „fliehen“ (typisch für militärischen Kontext, häufiger mit negativen Konnotationen, also „schändliche Flucht“), ברח baraḥ „entlaufen / sich davonmachen“ (eher bei familiären Spannungen, meist ohne negative Konnotationen); נדד nadad „panisch und ruhelos fliehen“ (fast nur in poetischen Texten, oft in bildhaftem Gebrauch; dazu gibt es die selteneren Alternativformen נוּד nûd „als Flüchtling umherirren“ und נדה nadah Hitpael „sich trennen“); חפז ḥapaz Nifal „ängstlich fliehen“. Zum anderen gibt es jene Verben, die den Aspekt des erfolgreichen „sich-in-Sicherheit-Bringens“ in den Vordergrund stellen, nämlich מלט malaṭ Nifal „entkommen / entrinnen“; פלט palaṭ Piel „entkommen / entrinnen“ (dazu das Nomen פָלִיט palîṭ „Flüchtling“); שׂרד śarad „entfliehen / entrinnen“ (als Verb nur Jos 10,20
Die erstgenannten Verben sind im Hebräischen Bewegungsverben, sie können den Grund oder Ausgangspunkt der Flucht und / oder Zielpunkt der Flucht in den Vordergrund stellen. Die Verben haben gemeinsam, dass sie Reaktionen auf Negativfaktoren benennen, und zwar auf Gefahren, Bedrohungen oder Ängste, denen mit der Fluchtbewegung abgeholfen werden soll; Heimlichkeit ist dabei meistens nicht ausgedrückt. Während also die zuerst genannten Verben für „fliehen“ im engeren Sinn eher auf den Fluchtvorgang selbst abheben, geht es bei Verben wie פלט
palaṭ, מלט malaṭ, שׂרד śarad, נצל naṣal und עוּז ‘ûz um das Ergebnis, im Idealfall die erlangte neue Sicherheit bzw. Rettung. Beide Typen von Verben können auch kombiniert auftreten (besonders נוּס nûs oder ברח baraḥ mit nachfolgendem מלט malaṭ, vgl. z.B. Gen 19,20
Das umfangreiche Thema Flucht findet sich sehr viel häufiger als nur bei den spezifischen Verben, wenn auch zum Teil nur implizit, angedeutet oder mitgedacht. Oft signalisiert auch nur der sozialrechtliche Terminus „Fremder“ – einen eigenen dauerhaften sozialrechtlichen Status „Flüchtling“ gibt es nicht –, dass ein Text tatsächlich auch bzw. besonders von Flüchtlingen bzw. Migrantinnen und Migranten spricht: Wer flüchtet, lebt nachher fern der Heimat als „Fremder“ (vgl. dazu z.B.
2Sam 4,3
Es gibt einige eher metaphorische Verwendungen des engeren Fluchtvokabulars, die meistens einen Mangel anzeigen, hier aber nicht weiter behandelt werden: die Flüchtigkeit des Lebens (
Hi 9,25
1.2. Flucht bei gewalttätigen Auseinandersetzungen
1.2.1. Flucht im und vor Krieg
Dieses Thema wird in den alttestamentlichen Texten ganz häufig und auch regelmäßig mit den genannten relevanten Verben, speziell mit der Wurzel נוּס
nûs „fliehen“, also sehr explizit angesprochen. Am häufigsten geht es um fliehende Kämpfer in kriegerischen Auseinandersetzungen, besonders häufig auch um ihre fliehenden Anführer (Gen 14,10
Neben der Flucht der Kämpfenden wird häufiger die Flucht (auch) der Zivilbevölkerung in oder aus kriegerischen oder bürgerkriegsähnlichen Situationen erwähnt. Meist handelt es sich um Binnenflucht in unwegsame und unwirtliche Gebiete wie Wüsten oder Gebirge (vgl. etwa
Gen 14,10
Meistens wird in den Texten den vor Krieg flüchtenden Ausländern, gar Feinden, keine Empathie entgegengebracht, öfter natürlich den fliehenden Judäern (z.B.
Ob 14
1.2.2. Flucht vor Auseinandersetzungen in Familie und Sippe
Auch dieses Thema ist in der Bibel fast von Anfang an präsent, zum ersten Mal im Zusammenhang der Eifersucht der →
Sara
1.2.3. Flucht von Einzelpersonen aus politischen Motiven
Eng mit den zuletzt genannten Texten zusammen hängen auch jene Texte mit einer Fluchtmotivation, die aus politischer Verfolgung oder dynastischer Konkurrenz herrührt, nicht selten nach einem Aufstandsversuch. Die Flucht geht normalerweise unter den Schutz eines Mächtigeren (
1Sam 19,18
1.3. Flucht vor Strafverfolgung nach vorausgehender Tötung
Die Beispiele für Flucht nach der Tötung eines Menschen finden sich fast alle in den normativen Texten des Alten Testaments und werden meist mit der Wurzel נוּס
nûs „fliehen“ gebildet. Unterhalb der Schwelle „Tötung“ gibt es bezeichnenderweise praktisch keine normativen Rechtstexte, die sich ausdrücklich dem Thema „Flucht“ widmen, mit der Ausnahme der Sklavenflucht. Da es Gefängnisse und Gefängnisstrafen (→ Kerker
1.4. Flucht aus Sklaverei und Unterdrückung
Dass Flucht aus der →
Sklaverei
Ex 14 zeigt im Übrigen paradigmatisch, wie fließend die Übergänge zwischen dem Thema Flucht (
Ex 14,5
1.5. Flucht vor Hungersnot und Naturkatastrophen
Das Alte Testament spricht vielfach und an prominenter Stelle vom normalerweise temporären Ausweichen in fruchtbarere Gebiete, wenn die kritischen klimatischen Bedingungen insbesondere Trockenheit, Missernten und →
Hungersnot
1.6. Erfahrungen von Flucht und Hilfen für Flüchtlinge
Der Normalfall einer Flüchtlings- und Migrationsexistenz, an die sich viele Hoffnungen, vor allem auf das nackte Überleben, knüpfen, sieht bzw. sah freilich anders aus und das Wissen darum merkt man den Texten auch an. Gerade die Texte von der sog. „Gefährdung der Ahnfrau“ in Gen 12; Gen 20 und Gen 26 (→
Preisgabeerzählung
Allerdings ist in diesen Zusammenhängen biblisch nicht von „Gastfreundschaft“ die Rede, obwohl in manchen Übersetzungen für גוּר
gûr sich als Fremder niederlassen, als Nomen: → Fremder
Dass es auch andere natürliche Push-Faktoren als Trockenheit, die zur Flucht und sogar zur Migration nötigen, geben kann, zeigen Texte wie
Gen 19,20
1.7. Wovor man sonst noch alles flüchten kann / soll
Fast zwangsläufig bietet die männerzentrierte Vorstellungswelt der Bibel das Zerrbild einer sexuell aktiven, verheirateten und deshalb mehrfach verwerflichen Frau, die ein Mann natürlich auf alle Fälle meiden, „fliehen“ muss. Narratives Vorbild für diese „Flucht vor sexuellen Übergriffen“ ist der biblische Josef (
Gen 39,7-20
Freilich kann einen auch der Mangel an einer Frau zu einer flüchtigen, haltlosen Existenz machen (
Sir 36,30
1.8. Gott und Flucht
1.8.1. Gott / JHWH will bzw. verursacht die Flucht von Menschen
In nicht wenigen Fällen geht Flucht ausdrücklich auf den Willen JHWHs zurück, beruhend auf JHWHs berechtigtem Zorn, insofern als Strafe (vgl. individuell schon
Gen 4,12-14
Noch häufiger, speziell in den Fremdvölkersprüchen der Propheten →
Jesaja
1.8.2. Gottesschrecken
Die mit dem Gottesschrecken verbundene Flucht von Israels Feinden findet sich erstmals in der Exoduserzählung; von dieser Vorstellung ist die offenkundig überraschende Flucht der nachrückenden Ägypter bei der →
Meerwundererzählung
1.8.3. Gott / JHWH will eigentlich keine Flucht oder will sie gelingen lassen
Flucht an sich ist freilich überhaupt keine gottgewollte Existenz, sondern grundsätzlich ein Strafgeschick. In Gottvertrauen besteht wohl schon beim historischen Jesaja im 8. Jh. v. Chr. die Chance, Flucht zu vermeiden bzw. zu verhindern (
Jes 28,16
1.8.4. Flucht des Meeres oder Leviatans vor JHWH
Neben Menschen kann, aus polytheistischen Zusammenhängen herkommend, auch das Meer, können die Wasser, die Urfluten (Tehom) vor JHWH „flüchten“, wie entsprechend im ugaritischen Mythos des 2. Jt.s v. Chr. der Meeresgott →
Jammu
1.8.5. Menschliche Flucht vor JHWH
Neben den Texten mit dem Gottesschrecken, die ausdrücklich von der tatsächlichen Flucht der Feinde vor JHWH reden (
Num 10,35
2. „Flucht“ im Neuen Testament
Das Neue Testament hat keine gegenüber dem Alten Testament selbstständige Fluchtthematik, verstärkt aber bestimmte Themen.
Am bekanntesten ist die matthäische Szene mit der wohl kaum historischen Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten und der Rückkehr von dort (
Mt 2,13-15.19-23
Daneben kennt das Neue Testament auch apokalyptisch gewendete prophetische Ankündigungen von Flucht vor Krieg und seinen Folgen (vgl.
Mk 13,14
Das Neue Testament baut insbesondere das eher spätalttestamentliche Motiv der „Flucht vor der Sünde“ aus (Unzucht:
1Kor 6,18
Am ehesten ohne eigentliche Parallele im Alten Testament sind die fliehenden Hirten der Schweine von Gerasa (
Mk 5,14
Ethisch gesehen greift das Neue Testament auf die rechtlichen und prophetischen Fremdenbestimmungen des Alten Testaments zurück. In der matthäischen Weltgerichtsrede entscheidet sich alles an der Hilfe für Hungrige, Durstige, Fremde, Nackte, Kranke, Gefangene (
Mt 25,35-36
Literaturverzeichnis
1. Lexikonartikel
- Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Stuttgart u.a. 1973ff (ברח baraḥ, נוּס nûs, נדד nadad, פלט palaṭ)
- Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1977-2004
- Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, 5. Aufl., München / Zürich 1994-1995 (נוּס nûs; פלט palaṭ)
- Neues Bibel-Lexikon, Zürich u.a. 1991-2001
- Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Freiburg i.Br. 1993-2001
- Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2007 (Flüchtlingsarbeit / Flüchtlingsprobleme)
- Calwer Bibellexikon, Stuttgart 2003
- Herders Neues Bibellexikon, Freiburg 2008
- Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel, Göttingen 2008
2. Weitere Literatur
- Altman, A., 2002, On some basic concepts in the law of people seeking refuge and sustenance in the ancient Near East, ZAR 8, 323-342
- Awabdy, M.A., 2014, Immigrants and Innovative Law. Deuteronomy’s Theological and Social Vision for the גר (FAT II/67), Tübingen
- Bach, R., Die Aufforderung zur Flucht und zum Kampf im alttestamentlichen Prophetenspruch (WMANT 9), Neukirchen-Vluyn 1962
- Jeremias, J., Hosea (ATD 24/1), Göttingen 1983
- Michel, A., 2005, Wem nützen Glaubensbekenntnisse? Eine Reflexion auf das heilsgeschichtliche Credo in Deuteronomium 26, ThQ 185, 38-51
- Schäfer-Lichtenberger, Chr. / Schottroff, L., Art. Fremde / Flüchtlinge, in: Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel, Göttingen 2008, 158-162
- Söding, Th., 2015, Das Refugium des Messias. Die Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten, IKaZ 44, 343-354
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