Deutsche Bibelgesellschaft

Fortschreibung

(erstellt: November 2007)

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1. Definition

„Fortschreibung“ ist in der neueren Bibelwissenschaft ein Begriff der redaktionsgeschichtlichen Methode und bezeichnet im Bereich schriftlicher Überlieferung eine produktive Eigenformulierung von → Redaktoren, die sich an vorgegebenes Textmaterial anschließt und es weiterentwickelt. In dieser kreativen Traditions-Bindung liegt das Spezifikum der Bezeichnung „Fortschreibung“ gegenüber verwandten Begriffen (s.u.). Die redaktionsgeschichtliche Fragestellung untersucht – im Zusammenspiel von fortgeschriebenem und fortschreibendem Textbestand – die literarische Stellung, die inhaltliche Eigenart, die zeitliche Ansetzung und die pragmatische Funktion von Fortschreibungen (s. Steck, 14. Aufl. 1999, 77ff; Utzschneider / Nitsche, 2001, 247ff).

Bisweilen wird aufgrund des Bearbeitungshorizontes versucht, Fortschreibungen von kleinräumigeren Glossen und Einzelzufügungen einerseits und großräumigeren Redaktionsschichten andererseits zu unterscheiden; dagegen sprechen jedoch die subjektiven Beurteilungskriterien und der unspezifischere Standardgebrauch des Begriffs in der wissenschaftlichen Literatur, der sich mit verwandten Termini wie Redaktion, Relecture, Schriftauslegung, Bearbeitung, Ergänzung, Komposition u.ä. berührt (s. Wonneberger, 1992, 45ff).

2. Zur Forschungsgeschichte

Der Grundzug der neueren Forschungsgeschichte besteht darin, dass biblische Fortschreibungstexte zu Recht fundamental aufgewertet werden. Ihnen wird in der alttestamentlichen Wissenschaft zur Zeit eine wichtige Bedeutung zugemessen, während in der neutestamentlichen Wissenschaft der Begriff – nicht das (meist anders benannte) Phänomen (s. 2.3) – eher am Rande steht.

2.1. Die klassische Literarkritik um 1900

Die ältere literarkritisch geprägte Forschung um 1900 ist weithin von einem „romantischen Ideal“ bestimmt, das – ohne den Begriff „Fortschreibung“ zu kennen – ausschließlich das Ursprüngliche für genial und gehaltvoll, alles Spätere jedoch für verfallen und epigonenhaft hielt.

Dies trifft in erster Linie für die Propheten zu, wie sie etwa → Heinrich Ewald (1803-1875), → Julius Wellhausen (1844-1918) oder → Bernhard Duhm (1847-1928) verstanden (s. Schmid, 1996; zu vereinzelten Gegenstimmen Barth, 1977, 303ff). Letzterer bejubelt etwa die Verkündigung Jeremias als „von hinreissender Grossartigkeit“ (1901, XII), wogegen die Ergänzer „unter dem prophetischen Niveau bleiben“ (XVIII) und ihre Gedanken „mit sehr geringem schriftstellerischem Geschick“ (XIX) ausführen. Der Gegensatz zwischen dem genialen, hochgeschätzten Propheten und den stümperhaften Glossatoren könnte schärfer kaum gefasst werden.

Ein ähnliches Bild ließe sich für die Schriften, etwa die Psalmen, zeichnen, und analog wurde im Pentateuch das Gefälle zwischen den Autoren der Quellenschriften und den diese kompilierenden Redaktoren bestimmt.

2.2. Die Begriffseinführung durch Walther Zimmerli

Die Aufwertung der Fortschreibungen begann in der Prophetenforschung und wurde – nach Ansätzen namentlich bei Hans Wilhelm Hertzberg (1895-1965) – hauptsächlich von → Walther Zimmerli (1907-1983) inauguriert: Er führte den Begriff 1969 in seinem Ezechiel-Kommentar ein (2. Aufl. 1979, 104*ff): Fortschreibungen bestimmt er als „deutlich abhebbare Erweiterungen …, die nicht einfach als selbstständige Überlieferungseinheiten angesprochen werden können, …, sondern unverkennbar das im Grundwort angeschlagene Thema nach neuen Richtungen hin verfolgen. Darin zeichnet sich ein Prozeß der sukzessiven Anreicherung eines Kernelementes ab“ (106*), in dem „neue geschichtliche Erfahrungen Anlaß zur Fortschreibung schon geformter Worteinheiten werden“ (1980, 175). Zimmerli schreibt diese Arbeit einer die Ezechielworte „theologisch weiter auslegenden ‚Schule des Propheten’“ zu und ordnet sie derart in den „Prozeß der Gesamtredaktion“ des Buches ein (109*). Dieser präzisen Erfassung entspricht Zimmerlis positive Bewertung der Fortschreibungen, denn sie belegen, „mit welch schonender Behutsamkeit man schon vorliegendes Material zum Buch zusammengeordnet hat. … Die These vom Propheten als dem ein Gesamtbuch komponierenden Buchschreiber (Smend u.a.) wird von diesen Wahrnehmungen her ebenso unmöglich wie die Auffassung des Buches als eines Pseudepigraphs eines späten Tendenzschriftstellers“ (114*). Die Frontstellung gegen eine Diskreditierung der Fortschreibungstexte als minderwertigem Epigonenwerk ist offensichtlich, und diese Neubewertung hat sich in der Folge allgemein durchgesetzt.

2.3. Fortschreibungen und die Entwicklung der redaktionsgeschichtlichen Methode

Mit der Entwicklung eines differenzierten Instrumentariums der redaktionsgeschichtlichen Fragestellung u.a. durch Odil Hannes Steck (1935-2001) setzte sich auch der Begriff der Fortschreibung allgemein durch (Steck, 14. Aufl. 1999, 76ff; 1996, 138ff; Kratz, 1997, 370ff; Schmid, 2000, 15ff); das gilt jedenfalls für die alttestamentliche Wissenschaft, während in der neutestamentlichen Wissenschaft seit Willi Marxsen (1919-1993) eher von Redaktionen oder jüngst prominent von Relecturen gesprochen wird (J. Zumstein, 2. Aufl. 2004 im Anschluss an die alttestamentlichen Überlegungen von A. Gelin, 1959). In der alttestamentlichen Wissenschaft gelten Fortschreibungen gegenwärtig in der Regel als bewusst reflektiert, theologisch gehaltvoll und nicht selten von hoher Schriftgelehrsamkeit (→ Schriftgelehrter), und ein entsprechend starkes Interesse wird ihnen in zahlreichen Untersuchungen zu allen Bereichen des Alten Testaments entgegengebracht. Als einigermaßen repräsentative Beispiele – nach zunehmend größerem Bezugshorizont angeordnet – lassen sich etwa herausgreifen: Jes 11,1-5 + Jes 11,6-9(ff); Ez 16,1-43 + Ez 16,44-58 + Ez 16,59-63; 2Kön 18-20 / Jes 36-39; Hag-Sach 8 + Sach 9-Mal; Ex 20-23 / → Deuteronomium; → Deuteronomistisches Geschichtswerk / → Chronistisches Geschichtswerk.

2.4. Jüngste Forschungstendenzen

Auch in der jüngsten, zunehmend pluralistischen (alttestamentlichen) Forschung hält sich die Hochschätzung von Fortschreibungen durch, wobei deren Rekonstruierbarkeit unterschiedlich zuversichtlich eingeschätzt wird.

Auch ein Close-Reading des Alten Testaments (→ Bibelauslegung, christliche, Kap. 4) setzt gemeinhin die Validität des zahlreiche Fortschreibungen beinhaltenden Endtexts voraus, auch wenn dessen diachrone Transformationen nicht in den Blick treten. Auf der anderen Seite haben zumindest im deutschsprachigen Raum Arbeiten zu späten, fortschreibenden Texten im Alten Testament weiterhin Hochkonjunktur; allerdings wird die berechtigte Würdigung von Fortschreibungen dort übertrieben, wo – entgegen dem methodisch zwingenden Zusammenspiel von Vorlage und Neuformulierung – nur noch die textproduktiven Fortschreibungen interessieren und untersucht werden, während die älteren, gern als ursprünglich, primitiv und daher uninteressant abgetanen Traditions- und Textbestände ignoriert werden.

Im aktuellen Forschungskontext lassen sich in Bezug auf die Untersuchung von Fortschreibungen vier Trends erkennen:

(1) Im Horizont des Alten Orients werden neuerdings einerseits Fortschreibungsprozesse auch in altorientalischen Texten ausgemacht (Gilgamesch-Epos, Vertragstexte u.a.), und andererseits gelten manche alttestamentliche Textcorpora als interkulturelle Fortschreibungen altorientalischer „Vorlagen“ (Dtn 12-26; Gen 1; Gen 6-9; Jes 45,1-7).

(2) Im Rahmen redaktionsgeschichtlicher Arbeiten ist die historische Beschreibung von Fortschreibungen strittig: Meist stehen sich die beiden Grundmodelle gegenüber, Fortschreibungen als isolierte, zufällige Einzelzusätze (mit entsprechenden Konsequenzen für die Definition von „Fortschreibung“) oder als oft buchweite, planvolle Redaktionen zu bestimmen.

(3) In der stärker interdisziplinär ausgerichteten Forschung werden Fortschreibungen mit literaturwissenschaftlichen Methoden und Modellen präziser zu beschreiben und zu verstehen unternommen. Dabei spielen häufig die → Intertextualität und der schriftgelehrte Charakter von Fortschreibungen eine wichtige Rolle, und terminologisch wird dann gern von Relecturen oder Réécrituren gesprochen (so namentlich in den johanneischen Schriften: Zumstein, 2. Aufl. 2004 und den deutero- und tritopaulinischen Briefen: Dettwiler, 1995).

(4) Schließlich kann das innerbiblische Fortschreibungsmodell in die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte integriert und durch sie weitergeführt werden: An binnenalttestamentlichen Bearbeitungen schließen Fortschreibungen außerhalb der hebräischen Bibel an, z.B. in frühjüdischen Texten (→ Qumran [z.B. 4QReworked Pentateuch; Pescharim; 11QPsa], Josephus [z.B. Antiquitates Judaicae], → Apokryphen [z.B. → Jubiläenbuch] und → Pseudepigraphen [z.B. → Henochbücher]), im Neuen Testament sowie in jüdischen, christlichen und – jüngst im Fokus – islamischen Rezeptionsdokumenten.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Neues Bibel-Lexikon, Zürich u.a. 1991-2001 (Art. Redaktionskritik; Redaktor)
  • The Anchor Bible Dictionary, New York 1992 (Art. Redaction Criticism)
  • Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Freiburg i.Br. 1993-2001 (Art. Redaktionsgeschichte)
  • Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2007 (Art. Redaktionskritik)

2. Weitere Literatur

  • Barth, H., Jesaja-Worte in der Josiazeit. Israel und Assur als Thema einer produktiven Neuinterpretation der Jesajaüberlieferung (WMANT 48), Neukirchen-Vluyn 1977
  • Dettwiler, A., L'épître aux Colossiens. Un exemple de réception de la théologie Paulinienne, FV 94/4 (1995), 15-26
  • Duhm, B., Jeremia (KHC 11), Tübingen u.a. 1901
  • Hertzberg, H.W., Die Nachgeschichte alttestamentlicher Texte innerhalb des Alten Testaments, in: ders., Beiträge zur Traditionsgeschichte und Theologie des Alten Testaments, Göttingen 1962, 69-80
  • Gelin, A., La question des „relectures“ bibliques à l’intérieur d’une tradition vivante, in: J. Coppens / A. Descamps / E. Massaux (Hgg.), Sacra Pagina. Miscellanea Biblica. Congressus internationalis catholici de re biblica, Vol. 1 (BEThL 12), Leuven 1959, 303-315
  • Kratz, R.G., Art. Redaktionsgeschichte / Redaktionskritik, TRE 28 (1997), 367-378
  • Levin, C., Fortschreibungen. Gesammelte Studien zum Alten Testament (BZAW 316), Berlin u.a. 2003
  • Marxsen, W., Der Evangelist Markus. Studien zur Redaktionsgeschichte des Evangeliums (FRLANT 67), Göttingen 1956
  • Morrow, W.S., Fortschreibung in Mesopotamian Treaties and in the Book of Deuteronomy, in: B.M. Levinson / E. Otto (Hgg.), Recht und Ethik im Alten Testament. Beiträge des Symposiums „Das Alte Testament und die Kultur der Moderne“ anlässlich des 100. Geburtstags G. v.Rads (1901-1971), Heidelberg, 18.-21. Oktober 2001 (ATM 13), Münster 2004, 111-123
  • Schmid, K., Innerbiblische Schriftauslegung. Aspekte der Forschungsgeschichte, in: R.G. Kratz / T. Krüger / K. Schmid (Hgg.), Schriftauslegung in der Schrift (FS O.H. Steck; BZAW 300), Berlin u.a. 2000, 1-22
  • Schmid, K., Klassische und nachklassische Deutungen der alttestamentlichen Prophetie, ZNThG 3 (1996), 225-250
  • Steck, O.H., Exegese des Alten Testaments. Leitfaden der Methodik. Ein Arbeitsbuch für Proseminare, Seminare und Vorlesungen, 14. durchges. und erw. Aufl., Neukirchen-Vluyn 1999
  • Steck, O.H., Die Prophetenbücher und ihr theologisches Zeugnis. Wege der Nachfrage und Fährten zur Antwort, Tübingen 1996
  • Utzschneider, H. / Nitsche, S.A., Arbeitsbuch literaturwissenschaftliche Bibelauslegung. Eine Methodenlehre zur Exegese des Alten Testaments, Gütersloh 2001
  • Willi-Plein, I., Vorformen der Schriftexegese innerhalb des Alten Testaments. Untersuchungen zum literarischen Werden der auf Amos, Hosea und Micha zurückgehenden Bücher im hebräischen Zwölfprophetenbuch (BZAW 123), Berlin 1971
  • Wonneberger, R., Redaktion. Studien zur Textfortschreibung im Alten Testament. Entwickelt am Beispiel der Samuel-Überlieferung (FRLANT 156), Göttingen 1992
  • Zimmerli, W., Ezechiel (BK 13/1–2), 2. verb., durch ein neues Vorwort und einen Literaturnachtrag erw. Aufl., Neukirchen-Vluyn 1979
  • Zimmerli, W., Das Phänomen der „Fortschreibung“ im Buche Ezechiel, in: J.A. Emerton (Hg.), Prophecy (FS G. Fohrer; BZAW 150), Berlin u.a. 1980, 174-191
  • Zumstein, J., Kreative Erinnerung. Relecture und Auslegung im Johannesevangelium (AThANT 84), 2. überarb. und erw. Aufl., Zürich 2004

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