Freud, Sigmund
(1856-1939)
(erstellt: September 2016)
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Das Buch, das in die Reihe der religionskritischen Schriften Freuds gehört, leistet zugleich einen Beitrag zur Frage nach der Besonderheit des jüdischen Volkes. Damit ist es auch als persönliches Dokument interessant, in welchem Freud angesichts des Antisemitismus der 30er Jahre sein eigenes Verhältnis zum Judentum klärt.
1. Zur Biographie Freuds
Sigmund Freud wurde am 6. Mai 1856 in Freiberg (Mähren; heute: Příbor) als Sohn eines jüdischen Kaufmanns geboren (zu Biographie und Entwicklung von Freuds Denken vgl. Lohmann 2006). Die Familie war ab 1860 in Wien ansässig, wo Freud 1873-1881 Medizin studierte und mit der Promotion abschloss. Von 1882 an war er als Arzt tätig, ab 1886 mit eigener Praxis für Nervenheilkunde, seit 1891 in der Berggasse 19 (heute: Sigmund Freud Museum). Sein wissenschaftliches Lebenswerk schuf er neben und in Verbindung mit seiner ärztlichen Tätigkeit. 1885 wurde Freud an der Wiener Universität als Dozent für Neuropathologie habilitiert, 1902 zum außerordentlichen Titularprofessor und 1920 zum ordentlichen Professor ernannt. Seine Forschungen bezogen sich zunächst auf Neuroanatomie und Physiologie, dann verstärkt auf neue Heilungsmethoden für seelische Erkrankungen. Auf die nicht-physiologisch erklärbaren Ursachen seelischer Störungen aufmerksam geworden (durch J.-M. Charcot in Paris; J. Breuer in Wien), begründet Freud mit Breuer den Ansatz der Psychoanalyse (Freud / Breuer, „Studien über Hysterie“, 1895; 2. Aufl. 1908 [GW I, 75-312] gilt als „Urbuch der Psychoanalyse“, so Lohmann 2006, 55). Indem die Erschließung des Unbewussten und der Bedeutung verdrängter Wünsche und Phantasien für menschliches Denken und Handeln schon in der „Traumdeutung“ (1899; GW II / III, V-642) für das Verständnis der menschlichen Psyche überhaupt fruchtbar gemacht wird, wird die Psychoanalyse von Anfang an nicht bloß als Heilungsmethode, sondern als grundlegende anthropologische Disziplin betrieben. Freud selbst war bemüht, psychoanalytische Einsichten für verschiedene kulturwissenschaftliche Gebiete fruchtbar zu machen.
Nach dem sog. „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistisch regierte Deutschland ging Freud im Sommer 1938 ins Exil nach London, wo er am 23. September 1939 starb.
2. Freuds Haltung zur Religion
Wie alle Gebiete des menschlichen Geisteslebens ist auch die Religion selbstverständlicher Gegenstand psychoanalytischer Untersuchungen. Freuds Beschäftigung mit Religion (vgl. dazu Haas 2006; auch Küng 4. Aufl. 1987, 299-326) setzt voraus, dass er als Anhänger eines Wissenschaftsideals des 19. Jh.s die Wissenschaft als einzigen Zugang zur Wirklichkeit akzeptierte, durch den nicht zuletzt alle religiösen Weltbilder überholt sind (vgl. Lohmann 2006, 52f.72f.; Küng 4. Aufl. 1987, 304-306). Vor diesem Hintergrund geht es Freud vor allem darum, das bleibende Vorhandensein und die innere Kraft religiöser Vorstellungen zu erklären. In der Schrift „Die Zukunft einer Illusion“ (1927; GW XIV, 323-380) erklärt er die Macht der religiösen Vorstellungen, die „nicht Niederschläge der Erfahrung oder Endresultate des Denkens“ sind, aus ihrem Charakter als „Erfüllung der ältesten, stärksten, dringendsten Wünsche der Menschheit“ (GW XIV, 352). In dem Aufsatz „Zwangshandlungen und Religionsübungen“ (1907; GW VII, 127-139) schließt er aus der Parallele zwischen religiösen Vorstellungen und Zwangsneurosen, „die Neurose sei als eine individuelle Religiosität, die Religion als eine universelle Zwangsneurose zu bezeichnen“. Allerdings würdigt Freud in Verbindung mit dieser Schlussfolgerung die zivilisatorische Bedeutung, die die Religion von der krankhaften Individualneurose unterscheidet: Zur Kulturentwicklung gehört „ein fortschreitender Verzicht auf konstitutionelle Triebe“, dieser wird zum Teil von der Religion geleistet (GW VII, 139).
Wesentliche Voraussetzung für die Mose-Schrift enthält die 1913 erschienene Schrift „Totem und Tabu“ (GW IX; vgl. dazu Hamburger 2006). In deren vierter Abhandlung „Die infantile Wiederkehr des Totemismus“ legt Freud „eine grundlegende, neue Zivilisationstheorie“ vor, „welche die Anfänge menschlicher Kultur und die Entwicklungsgeschichte der Religion aus einem Punkte zu erklären, wenn nicht gar zu kurieren vermag: dem Vatermord“ (Schlesier 2004, 172). Gemeint ist der Mord am Vater der primitiven Menschenhorde, der sich in der Urzeit ereignet hat.
Freud geht dabei von Theorien der damaligen Religionswissenschaft aus, die im Totemismus eine grundlegende Entwicklungsstufe zwischen der primitiven Urmenschheit und späteren zivilisierten Kulturstufen sah (vgl. GW IX, 123).
Freud erklärt den Umstand, dass das Totemtier seinen Anhängern als Ahnherr oder Urvater gilt, und dass sie zugleich eine „ambivalente Gefühlseinstellung gegen dasselbe“ hegen (GW IX, 159), mithilfe von Einsichten der Psychoanalyse, nach denen kindliche Tierphobien verschobene Vaterängste sind, die von der für den „Ödipus-Komplex“ typischen ambivalenten Einstellung zum Vater mitgeprägt sind (vgl. dazu GW IX, 155ff.). Ausgehend von der Identifizierung von Totemtier und Vater stellt er eine Übereinstimmung zwischen den beiden Hauptgeboten des Totemismus, „den Totem nicht zu töten und kein Weib, das dem Totem angehört, sexuell zu gebrauchen, (…) mit den beiden Verbrechen des Ödipus (…) und mit den beiden Urwünschen des Kindes, deren ungenügende Verdrängung oder deren Wiederentdeckung den Kern vielleicht aller Psychoneurosen bildet“, fest (GW IX, 160). Vor diesem Hintergrund kann der Totemismus wie alle Religion als „universelle Neurose“ erklärt werden, deren Ursache darin liegt, dass die frühe Menschheit das auslebte, was in jedem Ödipuskomplex als Wunschvorstellung wiederkehrt. Freud rekonstruiert folgendes Geschehen: In der nach Darwin anzunehmenden, von einem mächtigen Vater beherrschten Urhorde töteten die Söhne den Vater, den sie einerseits hassten – unter anderem weil er den Besitz der Frauen verteidigte, indem er den Söhnen androhte, sie auszutreiben oder zu kastrieren –, den sie aber andererseits auch als Vorbild bewunderten. Sie verzehrten den ermordeten Vater, um Anteil an seiner Kraft zu bekommen (Ursprung des Totemmahles; Urbild auch der christlichen Kommunion); der Vater wurde schließlich als Gott verehrt. Als Folge von Schuldgefühlen erfanden die Söhne in einem Akt „nachträglichen Gehorsams“ gegenüber dem Vater die ersten sittlichen Regeln: Verboten wurden die Tötung des Totemtieres und die Heirat der Frauen der eigenen Sippe, die der Vater für sich beansprucht hatte (zu dieser Rekonstruktion vgl. GW IX, 171-173). Am Ende der Schrift unterstreicht Freud, dass der urgeschichtliche Vatermord, aus dem menschliches Schuldbewusstsein, Ethik und Religion hervorgingen, als tatsächlich geschehenes Ereignis anzunehmen ist. Er schließt mit dem aus Goethes „Faust“ entnommenen Satz: „Im Anfang war die Tat“ (GW IX, 194). Am Anfang der menschlichen Kultur steht also nicht der göttliche Logos (Joh 1,1
3. Die Schrift „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“
3.1. Zu Hintergründen und Entstehung der Schrift
Die Beschäftigung mit der Mose-Thematik (→ Mose
Die Moseschrift besteht aus drei Teilen, von denen die ersten beiden (vgl. 3.2.1.; 3.2.2.) 1937 in der Zeitschrift „Imago“ erschienen. Den dritten Teil (3.2.3.) hielt Freud vor 1938 zurück. Nach eigener Aussage wollte er die katholische Kirche nicht verärgern, die er vor dem „Anschluss“ Österreichs als wichtiges Bollwerk gegen den Nationalsozialismus erlebte. Erst 1939, vom Londoner Exil aus, ließ er das Buch mit allen drei Teilen in einem Amsterdamer Verlag erscheinen.
3.2. Zum Inhalt der Schrift
3.2.1. „Moses ein Ägypter“
Im ersten Teil, „Moses ein Ägypter“ (GW XVI, 103-113), macht Freud zwei Gründe dafür geltend, dass Mose gebürtiger Ägypter war. Neben dem seit langem als ägyptisch erkannten Namen gewinnt er ein weiteres Argument aus der Aussetzungsgeschichte des Mose (Ex 2,1-10
Üblicherweise wird der Held in eine vornehme, oft königliche Familie hineingeboren, aber als Säugling ausgesetzt und von einer niederen Familie aufgenommen, in der er aufwächst. Die Verbreitung des Erzähltyps erklärt Freud damit, dass er einen universalen psychologischen Gehalt spiegelt: Er reflektiert die Ablösung von den Eltern im Zuge der menschlichen Entwicklung. „Die beiden Familien des Mythus, die vornehme wie die niedrige, sind demnach Spiegelungen der eigenen Familie, wie sie dem Kind in aufeinander folgenden Lebenszeiten erscheinen“; die Herkunft aus königlicher Familie entspricht der Idealisierung des Vaters während der ersten Kinderjahre, die zweite, niedere Familie entspricht der mit der Ablösung einhergehenden „kritischen Einstellung gegen den Vater“ (GW XVI, 109).
Abgesehen von diesem psychologischen Gehalt können Aussetzungsgeschichten die Funktion erfüllen, ihren Helden einem Volk zuzuordnen, dem er eigentlich nicht angehört: „So ist Kyros für die Meder ein fremder Eroberer, auf dem Wege der Aussetzungssage wird er zum Enkel des Mederkönigs“, analog dazu wird Romulus durch die Aussetzungsgeschichte „Abkomme und Erbe des Königshauses von Alba Longa“ (GW XVI, 110).
Die Besonderheit der Aussetzungsgeschichte des Mose besteht darin, dass die soziale Stellung der Familien vertauscht ist: Mose wird in eine niedere Familie hineingeboren und kommt durch die Aussetzung an den Pharaonenhof. Der psychologische Gehalt des Erzähltyps kommt in der Mosegeschichte daher nicht zur Geltung. Ihre Besonderheit ist aber unter Verweis auf die zweite Funktion von Aussetzungsgeschichten zu erklären: Analog zur Kyros- und zur Romulusgeschichte dürfte die Mosegeschichte das Anliegen verfolgen, Mose zum Hebräer zu erklären. Daraus ergibt sich: „Moses ist ein – wahrscheinlich vornehmer – Ägypter, der durch die Sage zum Juden gemacht werden soll“ (GW XVI, 111f.); „das Heldenleben des Mannes Moses“ begann damit, „daß er von seiner Höhe herabstieg, sich herabließ zu den Kindern Israels“ (GW XVI, 112).
3.2.2. „Wenn Moses ein Ägypter war…“
Im zweiten Teil, „Wenn Moses ein Ägypter war …“ (GW XVI, 114-155), arbeitet Freud die Konsequenzen seiner Entdeckung heraus.
Zunächst stellen sich zwei Fragen: 1. Wie kommt ein vornehmer Ägypter dazu, sich an die Spitze einer in Ägypten lebenden Gruppe von Fremden zu stellen? und 2. Wie ist die Vorstellung, dass der Ägypter Mose zum Religionsstifter Israels wurde, mit dem Gegensatz zwischen dem jüdischen → Monotheismus
Beide Fragen beantwortet Freud, indem er in Mose einen Anhänger der Aton-Religion → Echnatons
Die Religion Echnatons charakterisiert Freud als „strengen Monotheismus“, mit dem zugleich „wie unvermeidlich die religiöse Intoleranz geboren“ wurde, „die dem Altertum vorher – und noch lange nachher – fremd geblieben“ war (GW XVI, 118). Diese Intoleranz, die nur die Verehrung des Sonnengottes Aton duldet, richtete sich insbesondere gegen den Amun-Kult. Damit sei „eine Stimmung fanatischer Rachsucht bei der unterdrückten Priesterschaft und beim unbefriedigten Volk“ hervorgerufen worden (GW XVI, 121), die schließlich dazu führte, dass Echnatons Reformen nach seinem Tod zurückgenommen wurden. Als wichtige negative Charakteristika der Aton-Religion nennt Freud: 1. Die Ablehnung von allem „Mythischen, Magischen, Zauberischen“; 2. die Ablehnung einer anthropomorphen Gottesdarstellung (→ Anthropomorphismus
Dafür, dass Mose diese auf Echnaton zurückgehende Atonreligion an die Israeliten vermittelte, sprechen nach Freud folgende Aspekte: 1. der konsequente Monotheismus; 2. dass die jüdische Religion kein Interesse am Totenreich und am Fortleben nach dem Tod hat; 3. die Beschneidung, die als ursprünglich ägyptische Sitte von den Juden übernommen wurde (vgl. GW XVI, 124f.).
Das Bild Moses als eines Ägypters, der sich nach dem Scheitern der religiösen Reformen Echnatons den Israeliten anschloss und sie aus Ägypten führte, stößt aber auf ein weiteres Problem: Die Geschichtsforschung, als deren Vertreter Freud Eduard Meyer nennt (vgl. GW XVI, 133ff., wo sich Freud mehrfach auf: Meyer 1906 bezieht), bestreitet zwar nicht den historischen Kern der Exodustradition (→ Meerwundererzählung
Das Problem des doppelten Mose und der doppelten Religionsstiftung löst Freud, indem er zwei weitere historische Theorien aufnimmt: zum einen die Einsicht, dass nicht das ganze spätere Israel von Gruppen abstammt, die aus Ägypten ausgezogen sind; zum anderen die These von → Ernst Sellin
In Kadesch sei es später zu einer Vereinigung der Ägyptengruppe mit den Anhängern der aus Midian stammenden Jahwereligion gekommen. Dabei sei ein Kompromiss zwischen den religiösen Auffassungen und Traditionen geschlossen worden. Vordergründig setzte sich der Jahweglaube durch: Der Exodus aus Ägypten wird als Befreiungstat des Gottes Jahwe verkündigt (vgl. GW XVI, 140); umgekehrt wird der midianitische Religionsstifter mit der Gestalt des ägyptischen Mose „verlötet“ (GW XVI, 141), der Name des Midianiters ging dabei zugunsten des Mose-Namens verloren. Jahwe blieb in der nun entstehenden Religion zunächst „ein roher, engherziger Lokalgott, gewalttätig und blutdürstig“ (vgl. GW XVI, 151). Die aus Ägypten stammenden Elemente wurden unterdrückt oder entstellt: So wurde die Beschneidung auf die Erzväter zurückgeführt (vgl. GW XVI, 143-146). Mehr als alle anderen Elemente musste aber die Erinnerung an die Ermordung des Mose unterdrückt werden. Vor diesem Hintergrund wird Sellins Mordthese für Freud nicht dadurch unwahrscheinlich, dass sie nur aus Andeutungen biblischer Texte erschlossen ist (vgl. GW XVI, 148f.).
Schließlich setzte sich aber die Religion durch, die der Ägypter Mose vertreten hatte: Die Jahwereligion bildete sich „zur Übereinstimmung, vielleicht bis zur Identität mit der ursprünglichen Religion des Moses“ zurück; für das Judentum wurde die „Idee einer einzigen, die ganze Welt umfassenden Gottheit“ prägend, „die nicht minder alliebend war als allmächtig, die, allem Zeremoniell und Zauber abhold, den Menschen ein Leben in Wahrheit und Gerechtigkeit zum höchsten Ziel setzte“ (GW XVI, 151). Dass die Erinnerung an Mose und seine Religionsstiftung trotz ursprünglicher Ablehnung und Unterdrückung aus der Verborgenheit ans Licht kam und Überzeugungsmacht entfalten konnte, ist ein erklärungsbedürftiger Vorgang. Im dritten Teil der Moseschrift versucht Freud eine Erklärung, die auf psychoanalytische Erkenntnisse zurückgreift.
3.2.3. „Moses, sein Volk und die monotheistische Religion“
Der dritte Teil (GW XVI, 156-246) ist in sich in zwei Teile gegliedert, von denen der erste die historische Rekonstruktion wiederholt und psychologisch erklärt, der zweite bietet unter dem Titel „Zusammenfassung und Wiederholung“ einige Vertiefungen (ab GW XVI, 210ff.).
Das seltsame Phänomen, dass die mosaischen Lehren – „Idee eines einzigen Gottes“, „Verwerfung des magisch wirkenden Zeremoniells“, „Betonung der ethischen Forderung“ – erst „nach dem Ablauf einer langen Zwischenzeit zur Wirkung kamen und sich endlich für die Dauer durchsetzten“ (GW XVI, 170), sucht Freud mit der einzigen ihm bekannten treffenden Analogie zu erklären: mit der Entstehung einer Neurose.
Zwischen der Durchsetzung des Monotheismus und der Genese einer Neurose sieht er folgende Übereinstimmungen: „das Phänomen der Latenz, das Auftauchen unverständlicher, Erklärung heischender Erscheinungen und die Bedingung des frühen, später vergessenen Erlebnisses. Und ebenso der Charakter des Zwanges, der sich mit Überwältigung des logischen Denkens der Psyche aufdrängt“ (GW XVI, 176f.). Erklärungsbedürftig ist danach nicht allein die zeitliche Differenz zwischen der Lebenszeit des Mose und der Durchsetzung seiner religiösen Lehren, sondern auch die Wirkung dieser Lehren, die Freud als unverständlich und zwanghaft, das logische Denken überwindend, betrachtet.
Freud kommt an dieser Stelle auf seine Ausführungen in „Totem und Tabu“ zurück (vgl. oben 2.). Wie die Neurose des Einzelnen immer auf eine frühe, als Trauma erlebte Erfahrung zurückgeht, aus der nach einer gewissen Latenzzeit ein abnormes Verhalten folgt, so haben sich auch in der frühen Geschichte der Menschheit „Vorgänge (…) sexuell-aggressiven Inhalts“ ereignet, „die bleibende Folgen hinterlassen haben“, aus denen die religiösen Phänomene resultieren (GW XVI, 186). Freud meint den Vatermord in der Urhorde, aus dem sich der Totemismus als früheste Form der Religion ergeben hatte (vgl. dazu GW XVI, 186-188). Nachdem die Religionsgeschichte vom Totemismus ausgehend verschiedene Phasen durchlaufen hat, ereignet sich im Monotheismus die „Wiederkehr des einen, einzigen, unumschränkt herrschenden Vatergottes“ (GW XVI, 189), der im Kern eine Reminiszenz an den ermordeten Vater der Urhorde ist. Verstehen lässt sich die Durchsetzung der Vorstellung des Vatergottes, „gegen die logischer Einspruch machtlos bleibt“, nur „nach dem Muster des Irrwahns der Psychotiker“, wobei hier wie dort davon auszugehen ist, „daß in der Wahnidee ein Stück vergessener Wahrheit steckt“ (GW XVI, 190f.).
War der Monotheismus im Ägypten Echnatons vielleicht als religiöser Reflex der Weltherrschaft entstanden, so wurde er im Judentum als „die Religion des Urvaters, an die sich die Hoffnung auf Belohnung, Auszeichnung, endlich auf Weltherrschaft knüpft“, wiederbelebt (GW XVI, 191). Allerdings verlangten auch „die anderen Stücke der prähistorischen Tragödie“ Anerkennung: So kam es zur Herausbildung des Christentums aus dem Judentum. Bei ihm steht nicht mehr der Vater im Mittelpunkt, sondern der Sohn. Indem diesem zugeschrieben wird, die Sünde, die die Menschheit seit der Ermordung des Vaters der Urhorde auf sich lasten fühlt, durch den eigenen Tod gesühnt zu haben, tritt er an die Stelle der Söhne, die den Vater ermordeten. Die christliche Kommunion belebt die archaische Sitte der Totemmahlzeit neu (vgl. GW XVI, 192-195).
Den Umstand, dass der Monotheismus gerade auf das Judentum einen solchen Eindruck machte, erklärt Freud damit, dass „die Großtat und Urtat der Urzeit, die Vatertötung“ im Judentum in Gestalt der Ermordung des Mose wiederholt worden war (GW XVI, 195). Wie im urzeitlichen Totemismus, so wurde nun nach einer gewissen Latenzzeit auch im jüdischen Monotheismus der Ermordete schließlich göttlich verehrt. Dass der jüdische Gott gewisse Züge des ermordeten Mose trägt, hatte Freud schon im Rahmen der historischen Rekonstruktion bemerkt: Der Jähzorn des Mose, der ein historisch zutreffendes Element der Überlieferung sein dürfte, könnte in das Bild Gottes eingetragen worden sein (vgl. GW XVI, 131f.); auch könnte sich in der Vorstellung der Erwählung des Volkes durch Gott die Erinnerung daran spiegeln, dass Mose „sich zu den Juden herabgelassen“ hatte (GW XVI, 146; vgl. dazu auch a.a.O., 217f.). Mit alledem ist die Ermordung des Mose, die Sellin aus wenigen Traditionsspuren rekonstruieren zu können glaubte, für Freuds Erklärung des jüdischen Monotheismus „ein unentbehrliches Stück“ seiner Konstruktion, „ein wichtiges Bindeglied zwischen dem vergessenen Vorgang der Urzeit und dem späten Wiederauftauchen in der Form der monotheistischen Religionen“ (GW XVI, 196).
Freud schließt Überlegungen zu den psychologischen Gründen des Antisemitismus an. Danach werfen Christen dem jüdischen Volk, das den Urvater göttlich verehrt, aber seine Ermordung leugnet, Gottesmord vor, wobei das Überlegenheitsgefühl der Christen darauf beruht, dass sie anders als die Juden den Gottesmord eingestehen und dafür entsühnt sind (GW XVI, 196). Weitere Gründe des Judenhasses sieht Freud darin, „daß die Eifersucht auf das Volk, welches sich für das erstgeborene, bevorzugte Kind Gottvaters ausgab, bei den anderen heute noch nicht überwunden ist“ (GW XVI, 197) – der Antisemitismus wäre danach also ein archaischer Reflex der rebellischen Söhne auf den bevorzugten Sohn des Urvaters. Schließlich geht er davon aus, dass die Sitte der Beschneidung „einen unliebsamen, unheimlichen Eindruck“ macht, „der sich wohl durch die Mahnung an die gefürchtete Kastration erklärt“ (GW XVI, 198). In der Kastrationsangst ist die Angst der Söhne der Urhorde vor der Kastrationsstrafe durch den Vater lebendig geblieben. Darüber hinaus nennt Freud einen weiteren, nicht aus der Erfahrung des Vatermordes abgeleiteten Grund für Antisemitismus: Viele Christenvölker hassen die Juden, weil ihnen das Christentum mit Gewalt aufgezwungen wurde. Dieser „Judenhaß ist im Grunde Christenhaß“, der „auf die Quelle verschoben“ ist, aus der das Christentum entstanden ist (GW XVI, 198).
3.3. Zur Interpretation
Freuds Moseschrift ist Gegenstand verschiedener kulturwissenschaftlicher Untersuchungen geworden (vgl. Yerushalmi 1999; Bernstein 1998; Assmann 6. Aufl. 2007, 211-242; die Beiträge in: Ginsburg / Pardes (2006); zusammenfassend Assmann 2006, 186f.), was angesichts der Vielfalt der in ihr angesprochenen Themen und der dadurch ermöglichten Lesarten nicht verwundert (vgl. dazu Grubrich-Simitis 2. Aufl. 1994, 30f.). Dabei ist insbesondere gegenüber Arbeiten, die die Moseschrift „in das Gebiet mnemohistorischer Forschung“ einordnen (Assmann 6. Aufl. 2007, 219) oder die Freuds Rekonstruktionen als eine Art psychoanalytischen Kunstmythos verstehen (vgl. Bernstein 1998, 64-74), anzumerken, dass Freuds Anliegen damit nicht getroffen ist (vgl. dazu Schäfer 2003, 17-20.29-31). Freud lässt keinen Zweifel daran, dass er eine historische Rekonstruktion der frühen Religionsgeschichte Israels vorlegen will, wobei ihm Einsichten der Psychoanalyse als Mittel der Rekonstruktion dienen. Wie er am Ende von „Totem und Tabu“ betont, dass der urzeitliche Vatermord, aus dem der Totemismus entstanden ist, ein tatsächliches Ereignis war (vgl. oben 2.), so liegt die historische Wahrheit des jüdischen Monotheismus darin, „daß es in Urzeiten eine einzige Person gegeben hat, die damals übergroß erscheinen mußte und die dann zur Gottheit erhöht in der Erinnerung der Menschen wiedergekehrt ist“. Dass die Mose-Religion nach einer langen Latenzzeit „als Tradition zum Durchbruch kam“, war die „Wiederbelebung eines Erlebnisses aus den Urzeiten der menschlichen Familie“ (GW XVI, 238). Das Faktum des Mordes an Mose nennt er ein „unentbehrliches Stück“ seiner Konstruktion (GW XVI, 196).
In eine andere Richtung könnte der Umstand weisen, dass Freud den ersten fragmentarischen Entwurf seiner Moseschrift als „historischen Roman“ bezeichnete (vgl. dazu Grubrich-Simitis 2. Aufl. 1994, 82-89). Der Forschung ist damit ein Rätsel aufgegeben, weil das Fragment die Form des Romans „gründlich verfehlte“ und sich „stilistisch (…) in nichts von den später veröffentlichten ‚Abhandlungen‘ unterscheidet“. Auf die richtige Spur dürfte die Vermutung weisen, dass sich Freud „der fiktionalen Anteile seiner (wie jeder anderen) historischen Rekonstruktion nur allzu bewußt war“ (die letzten Zitate in: Assmann 2006, 182), zumal Freud selbst im „Kritischen Anhang“ des Fragments zwischen der Abfassung eines historischen Romans und dem „Maßstab nüchterner Geschichtsschreibung“ unterscheidet (Zitat in: Grubrich-Simitis 2. Aufl. 1994, 86). Zugleich aber ist zu berücksichtigen, dass Freud in dem von ihm verwendeten Buch von Eduard Meyer auf das Stichwort „Roman“ gestoßen sein muss: In einer Fußnote, aus der Freud in der Moseschrift zitiert, sagt Meyer, es sei „nicht Aufgabe der Geschichtsforschung, Romane zu erfinden“ (Meyer 1906, 451 Anm. 1; Freud zitiert in: GW XVI, 134 einen längeren Passus aus dieser Fußnote, allerdings nicht den entsprechenden Satz). Möglicherweise glaubte Freud, mehr über Mose herausfinden zu können als Meyer, der selbst die Frage, „ob der Gestalt des Mose eine geschichtliche Persönlichkeit dieses Namens zu Grunde liegt“, für unbeantwortbar hielt (ebd.). Freuds größerer Optimismus in dieser Frage könnte darin begründet sein, dass er anders als Meyer die historische Rekonstruktion durch Erkenntnisse der Psychoanalyse stützen zu können glaubte. Es bleibt daher zu prüfen, ob das Stichwort „Roman“ nicht zumindest auch eine Anspielung auf Meyers Diktum ist – möglicherweise in rhetorischer Bescheidenheit gegenüber der etablierten Geschichtswissenschaft, die die psychoanalytisch fundierten Rekonstruktionen wohl als „Roman“ bezeichnen würde, durch die Lektüre aber vielleicht eines Besseren belehrt werden könnte.
Heute braucht allerdings kaum noch begründet zu werden, dass Freud tatsächlich keine plausible historische Rekonstruktion vorgelegt hat.
Inhaltlich wird man Freud entgegenhalten, dass die von ihm behaupteten „Parallelen zwischen der Aton-Religion und dem biblischen Monotheismus“ nicht existieren, „weil die wichtigste, die ethische Dimension, der Sonnenreligion Echnatons fehlt“ (Assmann 2006, 187). Auch wird man der Aussetzungsgeschichte des Mose (Ex 2,1-10
Als historisch belastbar bleibt der ägyptische Name des Mose, der eine nicht näher zu bestimmende Verbindung seines Trägers zu Ägypten nahelegt; auch bleibt die Tradition über die Ehe des Mose mit einer Midianiterin. Bezieht man beides entsprechend den biblischen Nachrichten auf eine einzige Person, dann lässt sich schließen, dass Mose den ehemals in Ägypten weilenden Vorfahren der Israeliten die Verehrung des Gottes Jahwe vermittelte (vgl. dazu Smend 1997, 16-20; Gerhards 2005). Mit Echnaton und seinen religiösen Reformen lässt er sich dagegen nicht verbinden (Koch 1993, 348-350).
Die für Freuds Rekonstruktion grundlegende Theorie von E. Sellin, dass Mose ermordet wurde, war in der alttestamentlichen Forschung immer eine Außenseiterposition und wird heute überhaupt nicht mehr vertreten (vgl. auch die Kritik an Sellins Hypothesenfreudigkeit [„Hakenschläge“] in: Smend 1997, 7). Allerdings wird bei einer Lektüre Sellins (Sellin 1922, 43-54) unmittelbar nachvollziehbar, dass sich Freud mit seinem Interesse an der Aufdeckung von Verdrängtem gerade von dieser Theorie angezogen fühlen musste. Diese Anziehungskraft liegt aber nicht auf der Ebene der exegetischen und historischen Plausibilität.
Über diese inhaltlichen Schwierigkeiten hinaus bleiben methodische Probleme im Blick auf die Verwendung von Einsichten der Individualpsychologie als Mittel zur Erklärung von massenpsychologischen Phänomenen. Für Freud wird die Durchsetzung des Monotheismus im Judentum nicht zuletzt dadurch plausibel, dass die – historisch schon nicht ernsthaft belegbare – Ermordung des Mose Erinnerungen an die Tötung des Urvaters weckte, so dass im jüdischen Monotheismus der urzeitliche Totemismus eine Erneuerung erfährt. Um die innere Macht des Monotheismus zu erklären, nimmt Freud an, dass die an die urzeitliche Vatertötung anknüpfenden Schuldgefühle noch nach Jahrtausenden in der menschlichen Psyche präsent waren und durch die Tötung des Mose aktiviert wurden. Freud sieht das damit verbundene Problem. Er geht aber auf Grund von „Resterscheinungen der analytischen Arbeit, die eine Ableitung aus der Phylogenese erfordern“ (GW XVI, 207), davon aus, dass es allgemein-menschliche archaische Erinnerungsspuren gibt, die wie biologische Eigenschaften vererbt werden. Freud gesteht in diesem Zusammenhang ein, dass er entgegen der Mehrheitsauffassung innerhalb der biologischen Wissenschaft nicht auf die Annahme der Vererbung erworbener Eigenschaften verzichten kann (vgl. ebd.; zum Problem vgl. auch Schäfer 2003, 16-18).
Kann man also Freuds Moseschrift nicht als ernstzunehmenden historischen Beitrag rezipieren, so ist auf das Wahrheitsmoment der erinnerungsgeschichtlichen oder kunstmythologischen Interpretationen zurückzugreifen: Freud will mit seiner historischen Rekonstruktion einen Beitrag zum Verständnis der Besonderheit des Judentums und der monotheistischen Religionen, auch des Christentums, leisten. Die historischen Rekonstruktionen haben in diesem Kontext – entgegen Freuds eigener Intention – illustrierenden Gebrauchscharakter. In diesem Sinne ist das Buch zunächst als Dokument seiner Entstehungszeit interessant.
Vor dem Hintergrund, dass sich Freud angesichts des anwachsenden Antisemitismus der 30er Jahre fragen musste, „wieso er bei aller Gottlosigkeit immer noch so jüdisch war und welche Aspekte der jüdischen Vergangenheit auch für ihn unveräußerlich waren“ (Yerushalmi 1992, 117), fällt auf, wie er in der Moseschrift den aufgeklärten, ethischen Charakter des jüdischen Gottesglaubens betont, in dem er offenbar einen wesentlichen Beitrag des Judentums zur Kulturgeschichte sieht. Freud orientiert sich dabei an einem Idealbild des Judentums, das zwar den religionsgeschichtlichen Tatsachen nicht gerecht wird (vgl. Schäfer 2003, 25-28; der von Schäfer verwendete Begriff „Karikatur“ [a.a.O., 26] ist jedoch unpassend), das er aber mit anderen jüdischen Intellektuellen seiner Zeit teilt (vgl. Schäfer 2003, 31-38 mit Verweis auf A. Schönberg und H. Cohen).
Bemerkenswert ist, dass er die Intellektualität des jüdischen Glaubens selbst im dritten Teil der Moseschrift betont (vgl. GW XVI, 170: Monotheismus, „Verwerfung des magisch wirkenden Zeremoniells“ und „Betonung der ethischen Forderung“ als Grundelemente der mosaischen Religion; auch a.a.O., 219-223), obwohl er gerade in diesem Teil auf seine seit 1907 öffentlich vertretene Parallelisierung von Religion und Neurose zurückkommt. Nach Auskunft der ersten, „vor dem März 1938“ datierten Vorrede zum dritten Teil (GW XVI, 156-158) hat er diesen vor dem Anschluss Österreichs an Deutschland nicht publiziert, weil er durch seine religionskritischen Äußerungen die katholische Kirche nicht verärgern wollte, unter deren Schutz er sich damals sah. Die Kirche erschien ihm in dem von ihr unterstützen „austrofaschistischen“ Ständestaat als zivilisatorische Macht, die „der Ausbreitung“ des Nationalsozialismus „eine kräftige Abwehr entgegensetzt“, während sich in Deutschland ein „Rückfall in nahezu vorgeschichtliche Barbarei“ vollzog (GW XVI, 157). So erfuhr Freud in der Zeit unmittelbar vor dem Anschluss Österreichs ganz existentiell den zivilisierenden Charakter der Religion, den er bei aller Religionskritik auch immer betont hat (vgl. oben 2.). Im dritten Teil der Moseschrift wird die Würdigung der zivilisatorischen Bedeutung der monotheistischen Religionen auch in einer Bemerkung zur gleichermaßen feindseligen Behandlung von Judentum und Christentum durch den Nationalsozialismus angedeutet; der Nationalsozialismus gilt dabei als Repräsentant derer, die unter einer dünnen christlichen (=zivilisierten) Tünche das geblieben sind, „was ihre Ahnen waren, die einem barbarischen Polytheismus“ huldigten (GW XVI, 198). Der Bezug auf die Ahnen dürfte kaum zufällig an ein Element nationalsozialistischer Kritik an Judentum und Christentum als angeblich artfremden Religionen erinnern.
Die Religion ist für Freud aber ein ambivalentes Phänomen, das sich nicht auf ihre zivilisatorische Bedeutung beschränkt. Auch in der Moseschrift ist Religion nach Analogie einer Neurose verstanden, deren Wahrheitsgehalt nicht im materiellen Gehalt des Gottesglaubens, sondern in der verschobenen Erinnerung an eine verdrängte Mordtat besteht (vgl. GW XVI, 238). Weil die Religion eine Illusion ist, die die Wahrheit letztlich verfälscht, kann sie dem Rückfall in die Barbarei auf Dauer nichts entgegensetzen. Freud hat auch das erfahren: Nach der zweiten Vorrede zum dritten Teil der Moseschrift, die auf Juni 1938 datiert ist, den Monat, in dem er Wien verließ, hatte sich der Katholizismus nach der deutschen Invasion Österreichs als „schwankendes Rohr“ erwiesen (GW XVI, 159). Dazu kommt, dass die Kirche nicht nur eine schützende, sondern ihrerseits eine repressive Kraft ist, auch wenn sie Freud angesichts des neuen Feindes, des Nationalsozialismus, als der alte Feind erscheint, „mit dem uns zu vertragen wir bereits gelernt haben“ (GW XVI, 157). Die repressive Macht der Religion kommt in der Moseschrift nicht nur in ihrem mit der Neurose parallelisierten Zwangscharakter zum Ausdruck, sondern auch in der Intoleranz, die Freud dem Monotheismus Echnatons zuschreibt (GW XVI, 118), der dann von Mose an die Juden (und von diesen an die Christen) vermittelt wurde.
Woher ein Fortschritt der Menschheit kommen kann, der die Barbarei überwindet, deutet sich wohl darin an, dass Freud in den beiden Vorreden zum dritten Teil der Moseschrift sich selbst Züge zuschreibt, die an den Mose seiner Rekonstruktion erinnern: Wie Mose sein Heimatland Ägypten verlassen musste, als sich die weniger vergeistigte Volksreligion gegen die religiösen Reformen Echnatons durchsetzte, und wie sich Mose „ein neues Volk“ (GW XVI, 127) als „besseren Ersatz“ für die Ägypter suchen musste (GW XVI, 128), so musste Freud angesichts des vom Nationalsozialismus bewirkten Rückfalls in die Barbarei „die Stadt“ verlassen, „die mir von früher Kindheit an, durch 78 Jahre, Heimat gewesen war“ (GW XVI, 159), um in England „neue Volksgenossen“ zu finden (GW XVI, 160). Zu dieser Parallele im Exilsgeschick tritt eine weitere auffällige Übereinstimmung. Freud schrieb seine Gedanken zu Wesen und Ursprung des Monotheismus noch in Österreich nieder, um sie zunächst „in der Verborgenheit“ aufzubewahren, bis sie sich einmal „gefahrlos ans Licht wagen“ können (GW XVI, 158); in England erwartet er, dass seine Gedanken auch dort nicht nur auf Sympathie stoßen werden (GW XVI, 160). Ganz ähnlich war es mit dem Monotheismus des Mose: Er stieß in seiner ursprünglichen Heimat auf Ablehnung, fand aber auch bei seinem neuen Volk erst keine Sympathie, sondern kam erst nach einer gewissen Latenzzeit zur Wirkung.
Dass Mose für Freud eine wichtige Identifikationsfigur war, lässt sich schon viel früher feststellen: „Es scheint, als ob in Zeiten schwerer Belastung Freuds Moses-Identifizierung sich ausbreitete und ins Bewußtsein drängte, stärkend und gefährdend zugleich“ (Grubrich-Simitis 2. Aufl. 1994, 51). In diesem Sinne lässt sich schon der Essay „Der Moses des Michelangelo“ (1913) (GW X, 171-201) deuten: Nach Freuds Deutung hat Michelangelo Mose abweichend von der biblischen Schilderung so dargestellt, dass er seinen Zorn bändigt und die Gesetzestafeln nicht zerschlägt – für Freud dürfte dies ein Vorbild dafür gewesen sein, in der Auseinandersetzung mit C.G. Jung besonnen wie Mose zu reagieren, um den Fortbestand der Psychoanalyse (seiner „Offenbarung“?) nicht zu gefährden (vgl. dazu Grubrich-Simitis 2. Aufl. 1994, 51-57).
Mit den in den beiden Vorreden erkennbaren Parallelen stellt Freud seine Botschaft an die Seite der Botschaft des Mose – Freuds Botschaft aber ist die Psychoanalyse, die als wissenschaftliche Methode die im jüdischen Monotheismus angelegte Geistigkeit fortsetzt (vgl. dazu Schäfer 2003, 24f.). Freud traut der Psychoanalyse als einer „Naturwissenschaft der Seele auf biologischer Grundlage“ (so Freuds Verständnis nach Lohmann 2006, 53) eher zu, die Menschheit vor Rückfällen in die Barbarei zu bewahren, als der Religion, die für ihn letztlich in Irrtum, Illusion und Zwang gefangen bleibt und die immer wieder auch bei ihren jeweiligen Gegnern irrationale Reaktionen hervorruft. So weckten die Reformen Echnatons eine „Stimmung fanatischer Rachsucht“ bei den Amun-Priestern und im Volk, das an die alte Religion gewöhnt war (GW XVI, 121); auch ist nach Freud der Antisemitismus im Entscheidenden durch Affekte motiviert, die in der Religion kultiviert werden.
So gelesen ist die Moseschrift das Dokument der Überzeugung, dass die Religion in der Geschichte der Menschheit ihre zivilisatorische Bedeutung gehabt hat, dass sie diese Bedeutung nun aber an die Wissenschaft abgegeben hat, außerhalb derer nun nichts mehr zu erwarten ist, wie Freud schon am Ende seines Buches „Die Zukunft einer Illusion“ betont: „Eine Illusion (…) wäre es zu glauben, daß wir anderswoher bekommen könnten, was sie [=die Wissenschaft] uns nicht geben kann“ (GW XIV, 380).
Die Moseschrift kann somit als „Manifest Freuds von der Entstehung, Entwicklung und letztendlichen Überwindung der jüdischen Religion“ gelesen werden (Schäfer 2003, 24). In diesem Horizont erkennt er dem jüdischen Monotheismus eine relativ große kulturgeschichtliche Bedeutung zu; auffällig bleibt aber, dass Freud den jüdischen Ursprung des Monotheismus bestreitet: Er wurde den Israeliten ja von dem Ägypter Mose vermittelt. Freud ist die Vorstellung nicht zu ungeheuerlich, Mose könne „etwas anderes als ein Hebräer gewesen sein“; er zieht damit eine Konsequenz, die andere Gelehrte offenbar scheuen, obwohl auch sie um die ägyptische Etymologie des Namens „Mose“ wissen (GW XVI, 106). Zwar neigte Freud offenbar schon lange vor Abfassung der Moseschrift zu der Auffassung, dass Mose Ägypter war (vgl. Grubrich-Simitis 2. Aufl. 1994, 48 m. Anm. 2); dass er diese aber angesichts eines mörderischen Antisemitismus in der Moseschrift öffentlich vertrat und damit Mose und seinen Monotheismus letztlich auf die große alte Weltkultur Ägyptens und nicht auf das Judentum zurückführte, wurde schon früh als „Entsolidarisierung (…) mit dem bedrängten Judentum Europas“ verstanden (Lohmann 2006, 73; vgl. auch Grubrich-Simitis 2. Aufl. 1994, 58). Daran dürfte zumindest so viel richtig sein, dass Freud sicher daran gelegen war, die religiösen Besonderheiten des Judentums zu überwinden, sieht er doch nach Auskunft der Moseschrift die entscheidenden Gründe des Antisemitismus in Affekten und Zwängen begründet, die sich aus der als Irrtum und Illusion zu erkennenden Religion ergeben.
Noch im selben Jahr 1939, in dem die Moseschrift vollständig erschien, starb Freud. Der 83jährige, seit 15 Jahren unheilbar an Krebs Erkrankte (vgl. Lohmann 2006, 70-72), hatte seinen Arzt um aktive Sterbehilfe gebeten, die dieser mit Morphininjektionen durchführte (Lohmann 2006, 75). Freud verfügte, dass seine Asche in einem antiken Krater aufbewahrt werden sollte, der das Bild des Gottes Dionysos trug.
Für die Interpretation der Moseschrift sind diese Fakten insofern interessant, als die von Freud gewählte Art des Sterbens und der Bestattung als Bekenntnis verstanden werden kann, mit dem er sich letztlich vom Judentum und jüdisch-christlicher Tradition distanzierte.
Dionysos war schon bei Nietzsche als Gegen-Christus rezipiert worden; Nietzsches Einfluss auf Freud und die Entwicklung der Psychoanalyse war aber insgesamt größer als Freud in seinen Schriften erkennen lässt (vgl. dazu Schlesier 2004). Darüber hinaus mag der antike Gott auch für eine ältere religiöse Tradition stehen, die noch ohne die Intoleranz auskam, die Freud als Besonderheit des Monotheismus Echnatons (und Moses) notiert, die aber „dem Altertum vorher – und noch lange nachher – fremd“ war (GW XVI, 118).
Die aktive Sterbehilfe, die Freud in Anspruch nahm, steht dafür, dass sich die Hoffnung Kranker und Sterbender nicht mehr auf die religiös-seelsorgerliche Begleitung richtet, sondern auf die Möglichkeiten der wissenschaftlichen Medizin.
Somit sind durch dieses letzte Bekenntnis Freuds wesentliche Themen gesetzt, in deren Licht auch die Moseschrift als späte persönliche Auseinandersetzung mit der jüdischen (und christlichen) Religion gerückt werden kann. Dann führt es nicht in die Irre, die Schrift mit kulturwissenschaftlichen Diskursen über religionsbezogene Fragen, etwa im Blick auf Monotheismus und Intoleranz, zu verbinden (Assmann 6. Aufl. 2007, 214f.). Darüber hinaus dürfte es lohnenswert sein, Freuds Überlegungen zur Verwurzelung einer religiös sanktionierten Ethik in (verdrängten) Erinnerungen an reale Taten und zu den daraus resultierenden Schuldempfindungen sowie seine Auffassungen zur funktionalen Bedeutung einer solchen Ethik neu zu durchdenken. Eine solche Ethik könnte unter heutigen Bedingungen weniger verzichtbar erscheinen, nachdem sich mit den gewachsenen Möglichkeiten von Wissenschaft und Technik gewisse ethische Fragen viel drängender stellen – nicht zuletzt im Blick auf die Möglichkeiten der Medizin an den Grenzen des Lebens, auf die Freud seine letzte Hoffnung richtete. Sollte man vor diesem Hintergrund die gesellschaftliche Relevanz religiöser Vorstellungen in anderer Weise wahrnehmen als Freud, der bei aller Skepsis von einem optimistischen Wissenschaftsideal des 19. Jh.s geprägt war, dann kann auch die von ihm offenbar niemals ernsthaft erwogene religiöse Wahrheitsfrage neues Interesse beanspruchen.
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- Smend, R., 1997, Mose als geschichtliche Gestalt, in: ders., Bibel, Theologie, Universität, Göttingen, 5-20.
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Abbildungsverzeichnis
- Sigmund Freud (Fotografie von Max Halberstadt, 1921). Aus: Wikimedia Commons; © public domain; Zugriff 10.10.2016
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