Deutsche Bibelgesellschaft

Fülle (AT)

(erstellt: September 2011)

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1. „Fülle“ in deutschen Bibelübersetzungen und im Hebräischen

In deutschen Bibelausgaben werden im Alten Testament vor allem Ableitungen der Wurzeln מלא ml’ „voll sein / werden“ und שׂבע śb‘ „satt sein / werden“ mit „Fülle“ übersetzt, doch auch eine Reihe anderer hebräischer Worte und Wendungen. Es sind dies:

  • עַד־בְּלִי־דָי ‘ad-bəlî-dāj (wörtlich: „bis zum Mangel an Platz“) Mal 3,10;
  • הָמוֹן hāmôn (eigentlich: „Getümmel / Menge / Lärm“) 1Chr 29,16; Jes 60,3;
  • חֹסֶן ḥosæn (eigentlich: „Reichtum“) Jes 33,6;
  • מִזִּיז כְּבוֹדָהּ mizzîz kəvôdāh (eigentlich: „an der Brust ihrer Herrlichkeit“ – in der Elberfelder Übersetzung „an der Fülle ihrer Herrlichkeit“) Jes 66,11;
  • מַכְבִּיר makhbîr Partizip der Wurzel כבר kbr Hif. „viel machen“, daher Hi 36,31 אֹכֶל לְמַכְבִּיר ’okhæl lәmakhbîr „Speise die Fülle“;
  • נְדָבָה nәdāvā (eigentlich: „Freiwilligkeit“), daher Ps 68,10 גֶּשֶׁם נְדָבוֹת gæšæm nәdavôt „freiwilliger / gnädiger Regen“, nach der Einheitsübersetzung „Regen in Fülle“;
  • עֲתֶרֶת ‘ǎtæræt (gewöhnlich: „Reichtum“) Jer 33,6 (womöglich verderbt, vgl. BHS; die Elberfelder Bibel übersetzt עֲתֶרֶת שָׁלוֹם וֶאֱמֶת ‘ǎtæræt šālôm wæ’ämæt „eine Fülle von Frieden und Treuer);
  • Derivate der Wurzeln רבה rbh und רבב rbb „groß / viel sein“, etwa Ps 130,7; Pred 1,16; Ps 4,8; also רַב rav (Num 24,7; Neh 9,35; Ps 78,15; Ps 119,165) und רֹב rov (Gen 27,28; Ex 15,7; Dtn 28,47; 2Chr 18,1; Neh 9,25; Hi 23,6; Hi 26,3; Hi 32,7; Ps 37,11; Ps 72,7; Ps 106,45; Ps 150,2; Jes 47,9; Jes 63,1.7; Klgl 3,32; Ez 19,11; Ez 27,12.16.18.33; Ez 31,9; Sach 8,4);
  • Zuweilen wird auch die figura etymologica mit Fülle wiedergegeben, etwa Gen 22,17 כִּי־בָרֵךְ אֲבָרֶכְךָ kî-vārekh ’ăvārekhəkha „denn ich werde dich wahrhaftig segnen“, in der Einheitsübersetzung: „will ich dir Segen schenken in Fülle“.
  • In den aramäischen Teilen des Alten Testament kann außerdem die Wurzel שׂגא śg‘ „groß werden“ mit Fülle übersetzt werden, so Dan 3,31; Dan 6,26.

plērōma

2. Die Wurzel מלא „voll sein / werden“

Die Wurzel ml’ für „voll sein / werden“ ist gemeinsemitisch gut belegt: „Gewöhnlich wird etwas, was leer ist, gefüllt“ (Snijders, 877). Neben dem Verbum (vgl. Hi 20,22 בִּמְלֹאות שִׂפְקוֹ bimlo’wt śifqô „in der Fülle seines Überflusses“) sind für das Alte Testament besonders die nominalen Derivate מְלֹא mәlo’ und מְלֵאָה mәle’āh von Bedeutung.

1. מְלֹא mәlo’ begegnet zum einen in Genitivverbindungen im Sinne von „Menge an …“, so Gen 48,19 מְלֹא־הַגּוֹיִם mәlo’-haggôjim „eine (eigentlich: die) Menge von Völkern“ und Jes 31,4 מְלֹא רֹעִים mәlo’ ro‘îm „eine Menge von Hirten“. Hierbei ist offenbar nicht die Gesamtheit zu assoziieren, die das deutsche Wort „Fülle“ evoziert. An anderen Stellen ist dies anders, zu allererst dort, wo das Wort in der idiomatischen Verbindung „x und seine Fülle“ Verwendung findet. Die Rede ist vom Land bzw. der Erde, dem Meer oder der Stadt und ihrer / seiner Fülle, beispielsweise Jer 47,2; Ps 50,12; Ps 96,11; Am 6,8. Der Parallelismus membrorum von Ps 24,2 illustriert, dass damit nicht zuletzt die Totalität derer gemeint ist, die die jeweilige Lokalität bewohnen.

Ps 24,2 und Jes 6,3. לַיהוָה הָאָרֶץ וּמְלוֹאָהּ תֵּבֵל וְיֹשְׁבֵי בָהּ ljhwh hā’āræṣ umәlô’āh tevel wәjošәvê bāh „JHWHs ist die Erde und ihre Fülle, der Erdkreis und seine Bewohner“. Gleichwohl drückt die Wendung „x und seine / ihre Fülle“ mehr aus als lediglich ein vollständiges Einwohnerregister. In Dtn 33,16, im Mosesegen, dürfte daher die Übersetzung „mit Köstlichem des Landes und seiner Bewohner“ (Einheitsübersetzung) für וּמִמֶּגֶד אֶרֶץ וּמְלֹאָהּ ûmimmægæd ’æræṣ ûmәlo’āh eine semantische Verkürzung bedeuten (vgl. die Lutherbibel in der Revision von 1984: „mit dem Köstlichsten der Erde und ihrer Fülle“). Spieckermann etwa sieht im מלוא von Ps 24,2 geradezu „eine andere Bezeichnung für die emanierende, allanwesende Gottesherrlichkeit“ (Spieckermann, 1989, 200) und verweist auf Jes 6,3. מְלֹא כָל־הָאָרֶץ כְּבוֹדוֹ mәlo’ khål hā’āræṣ kәvôdô rufen die → Serafen dort einander zu. Das ist im Hebräischen ein Nominalsatz, der zu übersetzen wäre: „Die Fülle der ganzen Erde ist seine Herrlichkeit“ (vgl. u.a. Becker, 298). Die Septuaginta hat dagegen das Adjektiv πλήρης plērēs „voll“ – dem entspräche im Hebräischen die Verbform מָלְאָה māl’āh, wie sie darum von etlichen als Konjektur vorgeschlagen wird (vgl. u.a. KBL) und auch den gängigen deutschen Bibelausgaben zugrunde liegt. Nach dieser Lesart ist eindeutig die Erde Subjekt, sie ist erfüllt mit Gottes Herrlichkeit. Der massoretische Text kann dagegen auf zwei Weisen interpretiert werden, je nachdem in welchem Satzglied man das Subjekt und in welchem man das Prädikatsnomen sieht. Ist „die Fülle der ganzen Erde“ das Subjekt, so gelangt man zu einer Aussage, nach welcher sich Gottes Herrlichkeit allüberall in der Schöpfung manifestierte – „Seine Ehre kündet, was (immer) die Erde erfüllt“ (Wildberger, 231). Spieckermann übernimmt dies, geht aber noch einen Schritt weiter. Er spricht von einer „unbestreitbaren Identifikation von weltlicher Fülle und göttlicher Herrlichkeit“ (Spieckermann, 2001, 66). Im anderen Fall läge man näher an der Lesart der Septuaginta: Ähnlich wie in der Schauung von Jes 6,1 der Gewandsaum Gottes den Tempel erfüllt, so umfasste die Herrlichkeit Gottes den Gesamtbereich der Erde: „Die ganze Erde erfüllend seine Herrlichkeit!“ (Duhm, 66, der auf Jes 40,26f verweist – „aber Jes. weiß es auch schon“ [ebd.]; vgl. auch Kaiser, 129, mit Verweis auf Ps 72,19; Hab 3,3; Beuken, 172).

2. מְלֵאָה mәle’āh hat gegenüber מְלֹא mәlo’ eine enger spezifizierte Bedeutung. An zwei der drei Belegstellen (Ex 22,28; Num 18,27) bezeichnet das Wort den Überschuss des landwirtschaftlichen Ertrags, von dem Abgaben zu entrichten sind. Auch die dritte Stelle, an der das Lexem verwendet wird, ist in den landwirtschaftlichen Bereich einzuordnen. Hier, in Dtn 22,9, meint es die Gesamtheit alles dessen, was auf dem Weinberg wächst.

3. Die Wurzel שׂבע „satt sein / werden“

Ebenso wie מלא ml’ ist auch שׂבע śb‘ „satt sein / werden“ gemeinsemitisch gängig. Es meint zunächst die Stillung des physischen Hungers „und bezieht sich somit […] auf eine elementare Funktion des menschlichen und tierischen Lebens“ (Gerlemann, 819): וַנִּשְׂבַּע־לֶחֶם wanniśba‘ læḥæm „wir wurden satt vom Brot“ (Jer 44,17, in der Elberfelder Übersetzung „wir hatten Brot in Fülle“). Gleichwohl vermag es auch abstrakte Objekte zu regieren: Man kann sich an Unruhe (Hi 7,4) ebenso wie an Hurerei (Ez 16,28f.) sättigen, an Armut (Spr 28,19) wie an Verachtung (Ps 123,3) – aber auch an Gutem: וְעַמִּי אֶת־טוּבִי יִשְׂבָּעוּ wә‘ammî æt-ṭûvî jiśbā‘û „und mein Volk wird sich an meiner Güte sättigen“ (Jer 31,14; in der Lutherbibel: „soll meiner Gaben die Fülle haben“). Analog zum Deutschen kann man ferner auch auf Hebräisch eine Sache „satt haben“, ihrer überdrüssig sein, so etwa Spr 25,16f.

Jes 53,11. Ein zentraler und besonders schwieriger Beleg ist Jes 53,11: מֵעֲמַל נַפְשׁוֹ יִרְאֶה יִשְׂבָּע בְּדַעְתּוֹ יַצְדִּיק צַדִּיק עַבְדִּי לָרַבִּים me‘ǎmal nafšô jir’æh jiśbā‘ bәda‘tô jaṣdîq ṣaddîq ‘avdî lārabbîm. Lässt man den massoretischen Text und die durch ihn vorgegebene Verseinteilung unverändert, wäre zu lesen: „Wegen seiner Mühe wird er sehen, er wird satt werden; durch seine Erkenntnis wird er als Gerechter, mein Knecht, vielen Recht schaffen“. Das ist, wenn überhaupt, zumindest schwer verständlich. Zur Debatte steht nun unter anderem, ob bei „sehen“ ein Objekt ausgefallen ist – die Septuaginta, 1QJesa, 1QJesb (= 1Q8) und 4QJesd (= 4Q58) haben an dieser Stelle „Licht“ (φῶς phōs bzw. אור ’ôr) – und ob die Verseinteilung zu ändern ist. Das Objekt zu „sättigen“ könnte dann → „Erkenntnis“ sein (vgl. BHS, die im Apparat des weiteren vorschlägt, statt יראה jr’h „er wird sehen“ ירוה jrwh „er wird sich satt trinken“ zu lesen): „er wird satt werden an seiner Erkenntnis“ (vgl. Hermisson, 236; für weitere Konjekturvorschläge vgl. Duhm, 404; Barthélemy, 403-407). Freilich weiß die → Septuaginta vom „sättigen“ nichts, sondern hat als Äquivalent den Infinitiv πλάσαι plasai „formen“ (sonst meist für die Wurzel יצר jṣr), anders als Aquila, Symmachus und Theodotion, die ἐμπλησθήσεται emplēsthēsetai von „anfüllen“ bzw. χορτασθήσεται chortasthēsetai von „sättigen“ lesen. Meist behilft man sich mit einer Mischvariante, so die Lutherbibel: „wird er das Licht schauen und die Fülle haben“. Die Zürcher Bibel möchte dagegen mit „Der Mühsal des Lebens wegen wird er sich satt sehen“ ganz dem massoretischen Text folgen. Ob die elegante deutsche Formulierung „sich satt sehen“ im Hebräischen so jedoch möglich ist, erscheint fraglich.

Als nominale Ableitungen der Wurzel śb‘ begegnen שָׂבָע śāvā‘, שֹׂבַע śova‘ sowie שִׂבְעָה śiv‘āh und שָׂבְעָה śåv‘āh. Alle vier meinen im Grunde „Sättigung“. Das erstgenannte Wort hat dabei die besondere Konnotation des über die Sättigung Hinausgehenden und bezeichnet daher „Überfluss“ (vgl. Gen 41,29.30.31.34.47.53; Spr 3,10; Pred 5,11).

„Sättigung“ kann dabei im Sinne des Ausreichenden, über das hinaus kein Bedarf besteht, durchaus den Charakter der „Fülle“ haben, so etwa Ps 78,25: צֵידָה שָׁלַח לָהֶם לָשֹׂבַע ṣêdāh šālaḥ lāhæm lāśova‘ „Nahrung schickte er ihnen bis zur Sättigung“. Es kann aber auch im rechtlichen Sinne eine Grenze markieren, die nicht überschritten werden darf. So ist es nach Dtn 23,25 zulässig, im Weinberg des Nächsten „nach Herzenslust“ Trauben zu essen „bis zu deiner Sättigung“ (שָׂבְעֶךָ śåv‘ækhā) – aber nicht, darüber hinaus zu ernten.

Eine Singularität – und wohl auch deswegen wieder ein textkritisches Problem – stellt schließlich die bekannte Wendung von Ps 16,11 dar: שֹׂבַע שְׂמָחוֹת אֶת־פָּנֶיךָ śova‘ śəmāḥôt ’æt-pānækhā „Sättigung der Freuden ist bei deinem Angesicht“ – „vor dir ist Freude die Fülle“.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Stuttgart 1933-1979
  • Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Stuttgart u.a. 1973ff
  • The New International Standard Bible Encyclopedia, Grand Rapids 1979
  • Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament, 2. Aufl., Stuttgart u.a. 1992
  • Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, 5. Aufl., München / Zürich 1994-1995
  • Calwer Bibellexikon, 2. Aufl., Stuttgart 2006
  • Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament, Darmstadt 2006
  • The New Interpreter’s Dictionary of the Bible, Nashville 2007

2. Weitere Literatur

  • Barthélemy, D., 1986, Critique Textuelle de l’Ancien Testament. 2. Isaϊe, Jérémie, Lamentations (OBO 50/2), Fribourg
  • Becker, U., 1997, Jesaja – von der Botschaft zum Buch (FRLANT 178), Göttingen
  • Beuken, W.A.M., 2003, Jesaja 1-12 (HThK.AT), Freiburg / Breisgau
  • Duhm, B., 1968, Das Buch Jesaja. Mit einem biographischen Geleitwort von Walter Baumgartner, 5. Aufl., Göttingen
  • Gerlemann, G., 2004, Art. שׂבע śb‘ sich sättigen, in: THAT 2, 6. Aufl., München / Zürich, 819-821
  • Hermisson, H.-J., 1998, Das vierte Gottesknechtslied im deuterojesajanischen Kontext [1996], in: ders., Studien zu Prophetie und Weisheit. Gesammelte Aufsätze (FAT 23), Tübingen
  • Kaiser, O., 1981, Das Buch des Propheten Jesaja. Kapitel 1-12 (ATD 17), 5., völlig neubearbeitete Auflage, Göttingen
  • Snijders, L.A., 1984, Art. מָלֵא māla’, in: ThWAT 4, Stuttgart u.a., 876-886
  • Spieckermann, H., 1989, Heilsgegenwart. Eine Theologie der Psalmen (FRLANT 148), Göttingen
  • Spieckermann, H., 2001, „Die ganze Erde ist seiner Herrlichkeit voll“. Pantheismus im Alten Testament? [1990], in: ders., Gottes Liebe zu Israel. Studien zur Theologie des Alten Testaments (FAT 33), Göttingen, 62-83
  • Wildberger, H., 1980, Jesaja. 1. Teilband. Jesaja 1-12 (BK 10/1), 2. Aufl., Neukirchen-Vluyn

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