Gebet / Beten (AT)
(erstellt: Oktober 2010; letzte Änderung: Mai 2012)
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→ Psalmen
1. Konstellation des Betens
1.1. Annäherung
Das Gebet, das den Vorgang des Betens zusammenfassend bezeichnet, ist die in den allermeisten und namentlich in sämtlichen altorientalischen Religionen geübte (einseitige) verbale Kommunikation („Gespräch“) von Menschen mit Gottheiten bzw. himmlischen Wesen, die in aller Regel personal (und d.h. im Unterschied zu vielen neuzeitlichen Positionen grundsätzlich ansprechbar, beeinflussbar und handlungsfähig) vorgestellt werden. Im alten Orient (→ Gebet im alten Orient
1.2. Terminologie
Im Alten Testament bzw. im alten Israel fehlen Äquivalente zu den deutschen Oberbegriffen „beten / Gebet“ (s. zum Ganzen Miller, 1994, 32ff). Die meisten Gebetstermini akzentuieren bestimmte Aspekte, wie z.B.
- אמר ’mr und דבר dbr „(mit / zu Gott) sprechen“,
- בקשׁ bqš Pi. / דרשׁ drš „(Gott) suchen“,
- שׁאל š’l „(Gott) (be)fragen).
Vor allem heben sie die klagend-bittende bzw. dankend-lobende Gebetshaltung hervor:
- קרא qr’ „rufen“,
- צעק ṣ‘q „schreien“,
- תְּפִלָּה təfillāh „Klage- / Bittgebet“ [Heinen, 1973],
- חנן chnn Qal / Hitp. „gnädig sein / um Gnade bitten“
- ידה Hif. „danken / preisen“ und תּוֹדָה tôdāh „Dankgebet / -opfer“
- הלל hll II. Pi. „rühmen / loben / preisen“ und תְּהִלָּה təhillāh „Ruhm- / Lob- / Preisgebet“ u.a.
Dabei fällt die alltagssprachliche Einbindung des Gebetsvorgangs auf (Albertz, 1984, 34), von der sich vorab פלל pll Hitp. „(im Ritualkontext) beten / fürbitten“ und עתר ‘tr „(im Opferkontext) bitten“ abheben.
In der althebräischen Epigraphik fehlen Belege für Gebete bislang; es haben sich jedoch fragmentarisch einige gebetsartige Texte erhalten, die einschlägige Formen und Inhalte zeigen, auch wenn eine direkte Gottesanrede nur teilweise explizit vorliegt:
(1.) Direkte bzw. indirekte Bitten (BLay 2-3; KAgr 10,2):
Chirbet Bēt Layy 2 (BLay 2): pqd jh ’l chnn • nqh jh jhwh „Greif ein (kümmere dich / suche heim), Jh, gnädiger Gott, mache schuldlos, Jh, Jhwh“.
Chirbet Bēt Layy 3 (BLay 3): 3: hwš‘ [j]hwh „Rette, [J]hwh“.
Kuntillet ‘Aǧrūd 10 (KAgr 10; → Kuntillet ‘Aǧrūd
(2.) Ein Rettungsbericht (Qom 3,3):
Chirbet el-Qōm 3 (Qom 3; → Chirbet el-Qōm
(3.) Segens- und Lobwünsche (KAgr 6,1f; 9,6ff; vgl. weitere Segenszusagen bzw. Segenswünsche brk NN l-GN: → Segen / Segnen
→ En Gedi
(4.) Hymnische Preisungen (KAgr 7; BLay 1,1f; vgl. EGed 4):
Chirbet Bēt Layy 1 (BLay 1): (1) jhwh ’lhjj kl h’rṣ h(2)rj jhwdh l’lhj jršlm: (1) „Jhwh der Gott der ganzen Erde, die Ber-(2)ge Judas dem Gott Jerusalems.“
(5.) Aufgrund des Erhaltungszustands nur zu vermutende Fürbitten (Kombination 1) bzw. Verfluchungen (Kombination 2) durch → Bileam
1.3. Konstellation
Beschreiben und klassifizieren lässt sich das im Alten Testament bzw. alten Israel sehr vielgestaltige Phänomen „Gebet“ anhand folgender Aspekte:
(1.) Als Subjekt bzw. Sprecher des Gebets tritt der Einzelne oder das Kollektiv auf. Allerdings greift hier die Alternative von privatem und öffentlichem Gebet nicht, denn im alten Israel wurde in der Regel in Gemeinschaft (s.u.) und laut gebetet (s. den Grenzfall 1Sam 1,13ff
(2.) Als Adressat des Gebets fungieren ausschließlich Gottheiten (s.u.), die sich in nachexilischer Zeit auf Jhwh mitsamt den ihm zugeordneten Bezeichnungen reduzieren; Jhwh kann dann zwar durch Engel vertreten werden, doch wird zu ihnen, auch in der apokalyptisch ausgeweiteten Angelologie der Spätzeit, nicht im engeren Sinne gebetet (s. z.B. Dan 9
(3.) Formal sind die Gebete sehr häufig – zumal in den eigentlichen Gebetssammlungen der → Psalmen
(3.) Der Gebetsinhalt kreist grundsätzlich um die beiden (gleichursprünglichen) Zentren der Klagebitte, um die Wende der menschlichen Not auf der einen Seite und des Dankes für bzw. des Lobes über das göttliche Heils- bzw. Schöpfungshandeln auf der anderen Seite (s.u. 2.2.). Im Einzelnen variieren die Inhalte natürlich in Korrelation mit Form, Zweck usw. höchst vielfältig und decken sämtliche Lebensfelder ab: von elementaren Alltagserfahrungen über die großen Geschichtsthemen bis zum umfassenden Schöpfungslob. Aufs Ganze überwiegen dabei – namentlich im → Psalter
(4.) Der Gestus, in dem das laut gesprochene Gebet vorgebracht wird, besteht üblicherweise im Stehen mit erhobenen Armen und geöffneten Händen (עמד ‘md; יצב jṣb Nif.; 1Kön 8,22
Die Hände können aber auch vor der Brust gefaltet werden, oder man kniet (כרע kr‘; קדד qdd; Gen 24,26
Es gilt freilich festzuhalten, dass sich keine Korrelation einer bestimmten Haltung mit einem bestimmten Gebetsinhalt ausmachen lässt (man lobt auch kniend bzw. klagt stehend usw.). Hingegen kann in Notsituationen die Klage / Bitte in besonderer Trauer- oder Bußkleidung (שַׂק śaq) geäußert und von weiteren Minderungsriten begleitet werden (s.u.), während sich eine besondere Gebetsbekleidung (Mantel) bzw. Gebetsausstattung (Gebetsriemen) erst in nachbiblischer Zeit etabliert.
(6.) Kultische Gebete sind in der Regel in größere Ritualzusammenhänge eingefügt (→ Ritual
(7.) Auch der Gebetsvollzug selbst kann, über den Gestus hinaus, durch nonverbale Begleit- bzw. Haupthandlungen unterstützt werden. Diese umfassen – analog zu perfomativen Sprechakten – bisweilen magische Elemente, die jedoch im Alten Testament weithin unterdrückt sind und über die wir aus altorientalischen Texten besser informiert sind (vgl. etwa die Serie Maqlu, die Namburbi-Riten oder die Šuila-Handerhebungsgebete [s. zum Ganzen TUAT 2 / 2, 191ff.255ff]). Magische bzw. symbolische Handlungen und bittendes Gebet setzen gleicherweise voraus, dass die Gottheit veränderbar ist, und sie zielen je darauf, den göttlichen Willen günstig zu beeinflussen; beide sind also im Kern funktionsäquivalent.
(8.) Literaturgeschichtlich schließlich verteilen sich die auf uns gekommenen schriftlichen Gebete und Gebetsfragmente aus dem alten Israel – die wie bemerkt von den real gesprochenen Gebeten zu unterscheiden sind – ungleichmäßig. Von diesem Urteil muss man, zumindest vorderhand, die epigraphischen Gebete und Gebetsstücke ausnehmen, die im Verhältnis zum gesamten Primärtextbestand quantitativ recht breit gestreut sind; überwiegend indizieren sie eine alltagssprachliche Verbreitung von Gebetssprache, die wahrscheinlich auf eine entsprechende Verbreitung der alltäglichen Gebetspraxis schließen lässt.
Demgegenüber finden sich im alttestamentlichen Kanon einerseits Einzelgebete bzw. gebetsartige Texte, die an entsprechenden Situationen des biblischen Narrativs eingefügt sind (s. dazu zuletzt Fischer / Backhaus, 2009, 11 u.ö.), so häufig und mehrfach an zentraler Position in den erzählenden Schriften (z.B. Gen; Ex 15
Auch in der übrigen frühjüdischen Literatur finden sich zahlreiche Einzelgebete und Gebetssammlungen, auf die hier nur pauschal verwiesen werden kann (Egger-Wenzel / Corley, 2004).
2. Idealtypische Gebetsformen
In einer situativ-formgeschichtlichen Kategorisierung lassen ich einige idealtypische Gebetsformen unterscheiden, die indes – auch in 2.2. – keineswegs mit gattungsgeschichtlichen Urformen zu identifizieren sind.
2.1. Alltagsgebete
Damit steht die kultfreie Gebetspraxis des Alltags im Blick, die dem vor- bzw. nichtliterarischen Bereich angehört. Sie ist sehr vielgestaltig und lässt sich aufgrund der schriftlich-literarischen Quellen wie bemerkt insbesondere in ihren (wenig fest geprägten) formalen Strukturen nur indirekt erschließen aus (meist verkürzten und literarisch verdichteten) alttestamentlichen Gebeten und epigraphischen Fragmenten (eine kultische Funktion wird v.a. bei einer Tinteninschrift aus Engedi [EGed (8):2] erwogen, bleibt aber unsicher). Immerhin scheinen vielfältige Klage-, Bitt-, Dank- und Lobsituationen des Alltags abgedeckt zu sein (wobei sich namentlich Gebet und → Magie
So etwa Bitte / Wunsch / Dank in den Namen יִשְׁמָעֵאל jišmā‘’el „Es möge erhören / hat erhört Gott“; חֲנַנְיָה chǎnanjāh „Erbarmt hat sich Jh[wh]“; יְהוֹשֻׁעַ jəhôšûa‘ „Jh[wh] ist Rettung“; Lob / Preis: z.B. זְרַחְיָה zərachjāh „Aufgestrahlt ist Jh[wh]“; אוּרִיָּה ’ûrijjāh „[mein] Licht ist Jh[wh]“. Vgl. Albertz, 1978, 49ff; ders. / Schmitt, 2012, Kap. 5; Renz / Röllig, 1995b, 53ff.
Inhaltlich stehen bei den Personennamen wie bei den Alltagsgebeten Rettung und Bewahrung, Wohlergehen und → Segen
Situativ lassen sich erstens biographische Verortungen benennen, etwa die Bitten um Nachkommenschaft (Gen 15,2ff
Eine (unvollständige) Reihe weiterer Elemente kann die Gebetsform bestimmen:
(1.) Oft und im Alten Testament besonders profiliert tritt das Gebet in der Gestalt der Fürbitte für andere auf (Gen 18,22ff
(2.) Ein Gelübde (נֶגֶר nægæd) intendiert, die Wirksamkeit des Gebets zu steigern (Gen 28,20ff
(3.) Die erfahrene Hilfe Gottes wird aber auch in vielfältigen Dank- und Lobgebeten zum Ausdruck gebracht, wobei u.a. die Segensformel (→ Segen / Segnen
In diesem Kontext treten auch Vertrauensbekenntnisse auf (z.B. Gen 48,15f
(4.) Verwiesen sei noch auf weitere Bitt-Elemente der alltäglichen Gebetspraxis wie stoßgebetartige Ausrufe (חָמָס chāmās „Gewalt“, Hi 19,7
Literaturgeschichtlich ist schließlich zu beobachten, dass sich in der Spätzeit viele Gebete zunehmend vom Kult (und Tempel) lösen. Das gilt namentlich für die sog. nachkultischen Psalmen (s. Stolz, 1983) und den sich formierenden → Psalter
2.2. Hauptgattungen der Psalmen
Die soeben beschriebene Dynamik zwischen ursprünglichem Kultbezug (etwa Privat- / Kleinkult bei den KE und DE, kollektive Klagefeiern bei den KV, regelmäßiger Großkult bei den Hymnen) und nachkultischer, literarischer Verwendung prägt auch das – literarisch auf uns gekommene – Gebetbuch des → Psalters
2.2.1. Klagelied des Einzelnen (KE)
Diese häufigste Psalmen-Gattung, die knapp ein Drittel aller Psalmen umfasst, besteht konstitutiv aus den Hauptelementen „Gottesanrede“, „Klage“ und „Bitte“, häufig und charakteristischerweise durch Vertrauens- bzw. Dank- und Lobaussagen abgeschlossen (z.B. Ps 13
(1.) Zum Ersten erduldet der Beter die Not und Bedrängnis nicht stumm, sondern bringt sie in aller Schärfe und Intensität vor Gott als Klage und Bitte zur Sprache – Not lehrt beten: Man „schüttet seine Klage vor Jhwh aus“ (Ps 102,1
(2.) Zum Zweiten zeigt der häufige und abrupte Übergang von der Klage und Bitte zu Vertrauen, Dank und Lob, worauf das KE eigentlich abzielt: auf die Notwende durch Gottes Eingreifen. Dieser sog. Stimmungsumschwung von der Klage zum Lob wird in der Forschung schon lange kontrovers diskutiert; gegenüber der älteren textexternen Erklärung durch ein priesterliches Heilsorakel (J. Begrich), das jedoch im Psalterkontext nicht belegt ist, wird neuerdings gern ein textinternes, theologisches Verständnis als Vertrauensvorschuss, der die Wende antizipiert, vertreten (Janowski, 3. Aufl. 2009, 75ff.439f [Lit.]). Für die vorliegenden KE als literarische Kompositionen (und zumal für den [sich formierenden] Psalter insgesamt) überzeugt diese Position durchwegs, doch ist damit noch nicht über die ursprüngliche Entstehung des Stimmungsumschwungs entschieden. In der realen Gebetspraxis im Haus oder Heiligtum mag ein Priesterorakel eine Rolle gespielt haben, entscheidend ist jedoch ein Doppeltes: Einmal handelt es sich bei den KE ausweislich der überindividuellen Situierungen um Gebetsformulare, die in Notsituationen – vermutlich unter Mitwirkung von Ritualexperten – verwendet wurden (auch wenn hinter dem Ich einiger weniger KE der König zu erschließen sein mag [H. Birkeland und v.a. S. → Mowinckel
Bleibt der Stimmungsumschwung in der Regel noch relativ situationsnahe, so zeigt sich hier doch eine anfängliche Entzerrung von Gebetssituation und Gebetsinhalt. Eine radikale Transformation, auf die hier nur verwiesen sei, lässt sich dann in weisheitskritischen Spätphasen des Psalters und des Hiobbuchs verfolgen, wenn dort kollektiv bzw. individuell das Loben Jhwhs in der tiefsten Notlage erfolgt und damit komplett von dem (gemäß dem → Tun-Ergehen-Zusammenhang
2.2.2. Danklied des Einzelnen (DE)
Das DE blickt auf eine überwundene Notlage zurück und stattet Jhwh dafür Dank und Lob ab (→ Psalmen
Die rund 20 Exemplare umfassende Gruppe der literarischen DE im Psalter zeigt, dass (spätestens jetzt) das DE grundlegend auf das KE bezogen ist, das es literarisch fortführen (Ps 22
Im Psalter bilden das KE und das DE also „wie die beiden Schalen einer Muschel“ (Gunkel / Begrich, 2. Aufl. 1966, 282) die zwei Seiten der Notlage, und das DE als ausgeführtes Lobgelübde des KE unterstreicht noch einmal das Gefälle der Klage und Bitte auf die Notüberwindung hin. Gleichsam ein Zwischenstück in dieser systematischen Zuordnung bilden die sog. Vertrauenspsalmen (v.a. Ps 23
2.2.3. Klagelied des Volkes (KV)
Das – neben → Klageliedern / Threni
2.2.4. Hymnus
Der Hymnus artikuliert das menschliche Staunen über die – Gott verdankte – Welt und ihre Ordnung; die Gattung, mit gegen 30 Exemplaren im Psalter vertreten (s. daneben bes. Ex 15,21
Seit Crüsemann (1969) hat sich weithin die Unterscheidung von imperativischem und partizipialem Hymnus etabliert (während der dritte Typ des Jhwh anredenden Hymnus des Einzelnen marginal blieb). Der imperativische Hymnus besteht aus einer Einführung (oft in Gestalt einer imperativischen Lobaufforderung) und einem Hauptteil, der häufig mit deiktischem כִּי kî „ja“ (in der Lutherbibel mit „denn“ übersetzt) eingeleitet wird und als Lobgegenstand „das ordnende und rettende / richtende Handeln des Königsgottes JHWH“ auf dem Zion preist (Hartenstein / Janowski, 2003, 1765); eine abschließende Wiederholung des Eingangslobs bleibt fakultativ. Der partizipiale Hymnus besteht aus eine Reihe von Partizipien, die ebenfalls das Handeln JHWHs beschreibt und den Hauptteil eines imperativischen Hymnus bilden kann. Crüsemanns Versuch, diese Typen mit dem Gegenüber von Israel / Umwelt und mit der Gattungsgeschichte zu korrelieren (imperativischer Hymnus als genuin israelitische Urform, die sekundär durch partizipiale Formen aus der Umwelt erweitert worden sei), ist mittlerweile widerlegt.
Als dominanter Sitz im Leben der Hymnen gilt mit Recht der all- und festtägliche Kultbetrieb am / an den staatlichen Tempel(n). Doch schließt dies zum Einen ältere Ursprünge nicht aus (dass z.B. Ex 15,21
Inhaltlich repräsentiert der Hymnus „die Form des Gebetes, die sich am reinsten auf das Gegenüber des Beters, auf Jahwe, konzentriert“ (Reventlow, 1986, 308). Der Hymnus lenkt den Menschen somit von sich selbst ab und auf sein göttliches Gegenüber; so fügt sich der preisende Mensch nach Meinung der Psaltertheologie adäquat in die göttlich geprägte Wirklichkeit ein und wird so seiner geschöpflichen Funktion in herausragender Weise gerecht.
3. Geschichtliche Entwicklungen
Eine umfassende Geschichte des Gebets im alten Israel stellt zur Zeit ein Desiderat dar, u.a. weil das alttestamentliche und epigraphische Material noch nicht auf dem aktuellen Forschungsstand, der sich seit Reventlow, 1986 fundamental gewandelt hat, aufgearbeitet ist. Hier müssen einige vereinfachende und partielle Aspekte genügen.
3.1. Sitz im Leben bzw. in der Literatur
Von grundlegender Bedeutung ist in religions- und theologiegeschichtlicher Hinsicht der mehrfach angesprochene Sitz im Leben bzw. in der Literatur (→ Psalmen
Sieht man einmal von der Quellenproblematik ab, dass über die beiden ersten Bereiche (fast) nur von der zuletzt genannten Basis aus Aussagen möglich sind, dürfte folgende Gesamtentwicklung charakteristisch sein: Im Verlauf der Königszeit (ca. 1000-587 v. Chr.) bestehen private und offizielle Gebetspraxis an dem / den Tempel(n) nebeneinander, nähern sich im Blick auf Formen und Inhalte aber an, wobei der Tempelkult zunehmend an Einfluss gewinnt.
Dies gilt in der → Exilszeit
In der nachexilischen Ära (ab 537 / 520 v. Chr.) kommt es im Schmelztiegel von Jerusalem mit dem erneuerten Tempelbetrieb zunächst zu einer ähnlichen Tendenz wie in der vorexilischen Epoche, doch führt der Traditionsrückgriff nun zur Ausbildung von Schriftgelehrsamkeit und damit – zumindest im Bereich des Psalters – zu einer grundlegenden Neuerung: Die ehemals kultisch gebundenen Gebete werden unter verschiedenen Gesichtspunkten zu literarischen Sammlungen formiert und theologisch zunehmend reflektiert und eigenständig fortgeschrieben. Derart wandelt sich der entstehende Psalter zu einem von der Klage zum Lob fortschreitenden Lese- und Meditationsbuch schriftgelehrter Kreise (von Tempelsängern?), das vorab nicht- bzw. nachkultisch verwendet wird; dass die Psalmen dabei frommen „Laien“ „von schriftgelehrten Leviten vorgetragen und ausgelegt wurden, dass die Psalmen auch zum elementaren ,Lernstoff‘ der ,Lehrhäuser‘ (vgl. Sir 51,23
3.2. Jhwh-Monolatrie bzw. -Monotheismus
Eine Vielzahl von Verschiebungen in den Gebetstexten wird im Horizont des Aufkommens von Jhwh-Monolatrie bzw. Jhwh-Monotheismus verständlich (→ Monotheismus
(1.) Das betrifft zuvorderst, aber bei weitem nicht allein den (bzw. die) Adressaten der Gebete. Ergibt sich im Alten Orient ein wesentlicher Teil der Gebetsdynamik durch das Neben- und Gegeneinander verschiedener Gotteswillen, so entfällt dies im Alten Testament (s. analog etwa die altorientalischen und alttestamentlichen → Fluterzählungen
(2.) Der Jhwh-Monotheismus tendierte dazu, die Distanz Gottes zur Welt zu vergrößern, was gravierende Folgen zeitigte: Es kam nicht nur zur Aufwertung von Vermittlungsinstanzen, sondern beim Gebet vermutlich auch zu einer hymnischen Ausweitung der Gottesanrede (z.B. Ps 136
(3.) Die erhabene Souveränität Gottes führt innerhalb der deuteronomistischen bzw spätdeuteronomistischen Tradition (→ Deuteronomismus
(4.) Umgekehrt führt Gottes Jenseitigkeit im weisheitlichen Kontext dazu, grundsätzlich über die Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Gotteserkenntnis zu reflektieren (s. Schellenberg, 2002). Insbesondere das → Hiobbuch
3.3. Einzelentwicklungen
Eine Durcharbeitung des Materials erbrächte eine Fülle von weiteren Entwicklungstendenzen, von denen hier zwei besonders deutliche ergänzt seien:
(1.) Die Untergangsklagen der KV entwickeln sich aus den KE heraus, wie der parallele Formaufbau zeigt. Um die kollektiv-geschichtliche Krisensituation des Exils zu bewältigen, werden Motive und Themen der KE wie mesopotamischer Klagen rezipiert und judäisch adaptiert. Mit der allmählichen Restitution wurden diese Texte freilich nicht einfach obsolet, sondern historisiert (z.B. durch die Zuweisung an David; später, in makkabäischer Zeit, freilich unter Umständen abermals punktuell aktualisiert [s. die Diskussion zu Ps 74
(2.) Während in der vorexilischen Zeit die Gebetspraxis der KE und DE üblicherweise wohl in Ritualzusammenhänge (Bittzeremonien mit Opfern, Dankopferfeiern u.ä.) eingebunden waren, konnte es im Rahmen von darauf reagierender Kultkritik geradezu zur Ersetzung des Opfers durch das Gebet kommen, wie einige nachexilische Psalmpassagen in aller Schärfe belegen: „Die Opfer, die Gott ‚gefallen’, sind ein zerbrochener Geist, ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verachten“ (Ps 51,19
4. Theologische Aspekte
(→ Psalmen
4.1. Die Psalmen als Antwort Israels
Einem bekannten und häufig zitierten Diktum → Gerhard von Rads
Damit hat v. Rad die Pointe des vorliegenden Psalters prägnant summiert, doch sind wenigstens zwei präzisierende Kommentare zu diesem Urteil erforderlich:
(1.) Zumindest die – m.E. als eine der beiden Urformen alttestamentlichen Betens qualifizierbaren – älteren KE stellen, soweit sie real gebetet wurden, in erster Linie eine auf Jhwh ausgerichtete elementare menschliche Reaktion auf Negativerfahrungen dar, die erst in zweiter Linie als Antwort an Jhwh gedeutet werden kann: Denn die Notlage gilt ja in den ältesten Texten nicht selten als durch feindliche Mächte verursacht, während Jhwh allenfalls indirekt für sie verantwortlich ist (durch Abwesenheit, Ferne, Unachtsamkeit u.ä.). Dementsprechend ist die Klage und Bitte zuvorderst keine Antwort, sondern ein Hilferuf an Jhwh, der als passiv (und nicht als aktiv agierend bzw. „redend“) erfahren wird. Es ist dann vielmehr Jhwh, der dem Beter mit der Notwende „antworten“ soll.
Allerdings provoziert dies (ebenso wie Notlagen, die dezidiert als durch Jhwh verursacht gelten) dann seinerseits menschliche Antworten in den DE, KV und Hymnen (welch Letzteren als – gar anfänglichem? – Staunen ja ein besonderer Antwortcharakter inhärent ist). Und sofern die literarischen KE resultativ und d.h. erfahrungsverarbeitend formuliert sind (s.o. 2.2.1. zum Stimmungsumschwung), trifft der Antwortcharakter dann auch für die im Psalter erhaltenen KE zu.
(2.) Zum Zweiten ist gegen v. Rad zu betonen, dass die Psalmen, die als Einzeltexte nur sehr selten Bezüge auf die geschichtlichen Heilstaten Jhwhs an und für Israel aufweisen, sich primär und hauptsächlich auf die individuellen Lebenserfahrungen (ggf. freilich des Königs) beziehen: Sie reagieren somit auf die vielfältigen Lebenserfahrungen Israels (als der syn- bzw. diachronen Gemeinschaft von Israeliten), aber nicht auf Unheils- bzw. Heilsgeschichte (vgl. Saur, 2005, 10f). Die Psalmen antworten auf Erfahrungen von Freud und Leid, Scheitern und Erfolg, Reichtum und Armut, Krieg und Frieden usw.
Freilich kommt auch hier im Zuge der Psalter-Formierung mit ihrem historisierenden Ablauf sekundär ein Geschichtsbezug prominent hinzu. Insofern antwortet der Psalter dann durchaus auf Jhwhs geschichtliche Heilstaten, wobei der kanongeschichtliche Rückbezug von Ps 1,2
So eingeholt bilden die Psalmen dann in der Tat die Antwort Israels: die durch die Dynamik von Klage und Lob geprägte menschliche Kommunikation mit Jhwh, dem Gott Israels.
4.2. Veränderlichkeit Gottes
Es wurde soeben abermals deutlich: Im Unterschied zur pointiert aufklärerischen Einschätzung, nach der „es ein ungereimter und zugleich vermessener Wahn [ist], durch die pochende Zudringlichkeit des Bittens zu versuchen, ob Gott nicht von dem Plane seiner Weisheit … abgebracht werden könne“ (Immanuel Kant, [1793 / 1794] 5. Aufl. 1983, 872), gilt es der altorientalischen Welt als selbstverständlich, dass der Mensch auf den göttlichen Willen Einfluss nehmen kann und soll: „Der Mensch versteht sich … als abhängig von den Entscheidungen der Götter. Diese Entscheidungen erfährt er allerdings nicht als statisch und unveränderlich, sondern er selbst kann als Partner im Dialog mit den Göttern auftreten“ (Zgoll, 2009, 122; vgl. dies., 2003).
Dies trifft mutatis mutandis für die alttestamentlichen Gottes- (vgl. etwa die Motive von Gottes → Reue
Eine solche Konzeption ist auch systematisch-theologisch anschlussfähig, wenn Gott (etwa von der Rechtfertigungslehre her) nicht als unwandelbar weil allwissend gilt (und so gleichsam „der Gefangene seiner eigenen Göttlichkeit“ wäre [Jüngel, 1990, 402; vgl. Mostert, 2008, 284ff]), sondern als veränderlich – wie immer man sein weltliches Handeln dann unter neuzeitlichen Verstehensbedingungen näher fasst. Auf der internen, menschlichen Wahrnehmungsebene der betenden Personen zielt das Gebet dann jedenfalls darauf, in einer zuvor gott-los erfassten, externen Situation das Wirken Gottes wahrzunehmen (Tietz, 2009, 341f, wobei unentschieden bleibt, ob ein externes Ereignis auch ohne Gebet eingetreten wäre).
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Abbildungsverzeichnis
- Pharao Echnaton (1353-1336 v.Chr.) und hinter ihm seine Frau Nofretete beten den Sonnengott Aton an. © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
- Ein Schasufürst aus dem Ostjordanland bekundet dem ägyptischen Pharao vor ihm seine Verehrung, hinter ihm steht eine Schutzgöttin (Stele aus Balua in Jordanien; 13./12. Jh. v. Chr.). © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
- Zum Beten hat man im Knien oder Stehen die Hände erhoben oder sich niedergeworfen (ägyptische Kalksteinskizze, die zeigt alle drei Gebetshaltungen nebeneinander zeigt; Neues Reich, 1440-1170 v. Chr.). © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
- Beterstatue (Tell Asmār; Frühdynastisch l). Aus: Wikimedia Commons; © Rosemaniakos, Wikimedia Commons, lizenziert unter CreativeCommons-Lizenz cc-by-2.0 US-amerikanisch; Zugriff 19.4.2009
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