Gedächtnis
(erstellt: Februar 2017)
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1. Allgemein
Die Begriffe „Gedächtnis“, „gedenken“ und „Erinnerung“ beziehen sich in unterschiedlicher Weise auf ein psychisches Phänomen. Gedächtnis ist eine Leistung des Gehirns, die in einem dynamischen Prozess Informationen speichert und organisiert. Die Abrufung und Verarbeitung von Informationen kann als Prozess des Erinnerns bezeichnet werden, während die Erinnerung auch die Information(en) selbst bezeichnet. Da das Gedächtnis sowohl Informationen des Organismus als auch der Umwelt verarbeitet, hat es eine grundlegende anthropologische und kulturelle Bedeutung. Dabei ist es mit verschiedenen Formen externer Informationsorganisation und Informationssicherung (verschiedene Medien und Institutionen) verbunden. Sprache und Schrift kommt dabei als Kommunikationsmitteln besondere Bedeutung zu.
2. Sprachgebrauch
Die gemeinsemitische Wurzel זכר zkr und die abgeleiteten Nomina זִכָּרוֹן zikārôn „Erinnerung / Gedächtnis“ (Gesenius, 18. Aufl.) und זֵכֶר zekær „Gedenken / Erinnerung / Gedächtnis“ (Gesenius, 18. Aufl.) bezeichnen das Gedenken und das Erinnern. Das Verb זכר zkr hat im Qal die Hauptbedeutung „an etwas denken / gedenken“. Die anderen Stämme (Hif. „erwähnen“, Nif. „genannt werden“) lassen erkennen, dass es im Hebräischen semantisch mit der Wurzel ידע jd‘ „wissen“ verwandt ist (→ Erkennen / Erkenntnis
Die Rede vom „Gedenken“ bzw. „Sich-Erinnern“ impliziert ein mögliches Vergessen. Semantische Überschneidungen gibt es auch mit קרא qr’ „nennen / erwähnen“. Dass זכר zkr im Hif. eine sprachliche Äußerung bezeichnen kann, zeigt, dass man das Erinnern in einer Affinität zum Memorieren gesehen hat (Schottroff 1964, 340). Bezeichnet wird dabei ein individuelles oder kollektives Erinnern von Ereignissen, Dingen, Beziehungen, Personen oder einer Gottheit. Antonymisch stehen זכר zkr die Verben שׁכח škḥ „vergessen“ (Gen 40,23
3. Gedenken und Erinnern in der Hebräischen Bibel
Wie das Verhältnis von „Sich-Erinnern“ und „Vergessen“ gedacht ist, kann man in der → Josefsgeschichte
Wie das Erinnern in den verschiedenen profanen Kontexten positive und negative Effekte haben kann, so ist dies auch beim theologischen Gebrauch von Verb und Nomina. So kann das Gedenken der Gottheit darin bestehen, dass → Fruchtbarkeit
Die Gottesbeziehung wird aber auch aktiv vom Frommen durch ein Gedenken Gottes aufrechterhalten. Das ist der Grund, warum die biblischen Texte das Heilshandeln Jhwhs einschärfen (Ex 13,3
Eigentümlich mutet zunächst die Aufforderung von Dtn 25,19
Eine kulturbildende Bedeutung des Erinnerns und die Notwendigkeit, das Vergessen zu vermeiden, wird in Texten deutlich, die den Tod als Grenze des Erinnerns im Blick haben. So wird in Ps 31,13
Das Erwähnen des Namens einer Person wirkt dem Vergessen entgegen (vgl. Jer 11,19
Formen von institutionalisierter Erinnerung im Alten Israel wie seiner Umwelt, die zum Teil auch mit der Erinnerung der Vorfahren im Zusammenhang stehen, sind auch aufgestellte Steine (de Moor, bes. 19f; → Mazzebe
Konstruierte Genealogien stehen (in der Genesis) in einem engen Zusammenhang mit den genealogischen Erzählungen (Hieke, 347). Dass die Genealogien in der Erzählstruktur oft einen „hermeneutischen Rahmen literarischer Überlieferungen“ (Lux 1995, 249) bilden, lässt darauf schließen, dass das Erzählen in den biblischen Erzähltexten eine vergleichbare Erinnerungsfunktion hat. Dafür spricht auch die Nutzung ätiologischer Elemente in den biblischen Erzählungen.
Das Erzählen diente wie in den Nachbarkulturen allgemein der Erinnerung (→ Erzählende Gattungen
4. Die Hebräische Bibel und das kulturelle Gedächtnis des Alten Israels
In Bezug auf die Hebräische Bibel waren die Arbeiten von Jan Assmann zum „kulturellen Gedächtnis“ von großer Bedeutung. Er rezipierte dabei Konzepte von Maurice Halbwachs und hat die Unterscheidung von kommunikativem und kulturellem Gedächtnis betont: „Das kommunikative Gedächtnis kennt keine Fixpunkte, die es an eine sich mit fortschreitender Gegenwart immer weiter ausdehnende Vergangenheit binden würden. So etwas ist nur durch kulturelle Formung zu erreichen und fällt daher aus dem informellen Alltagsgedächtnis heraus“ (Assmann 1988, 11). Davon unterschied Assmann das kulturelle Gedächtnis: „Das kulturelle Gedächtnis hat seine Fixpunkte, sein Horizont wandert nicht mit dem fortschreitenden Gegenwartspunkt mit. Diese Fixpunkte sind schicksalhafte Ereignisse der Vergangenheit, deren Erinnerung durch kulturelle Formung (Texte, Riten, Denkmäler) und institutionalisierte Kommunikation (Rezitation, Begehung, Betrachtung) wachgehalten wird“ (ebd., 12). Entsprechend definiert er: „Das ‚kulturelle‘ G. umfaßt den Überlieferungsbestand an Texten, Bildern, Kunst- und Bauwerken, Liedern, Riten, Bräuchen usw., welche den Erinnerungs- und Identifikationsraum einer Kultur bilden“ (Assmann 2000, 524). Assmanns Einfluss auf die Bibelwissenschaft beruht auf seiner Beschäftigung mit Erinnerungsfiguren des Judentums (vgl. Assmann 1997, 196-228). Er macht entsprechend den in den kanonischen Texten erinnerten Auszug aus Ägypten und den daraus resultierenden Gegensatz zwischen Israel und Ägypten aus und bezieht sich dabei insbesondere auf biblische Texte, die das Memorieren dieser Ereignisse betreffen (z.B. Dtn 6,10-12.20ff
Auch der Ansatz bei kanonischen Texten erscheint als eine Engführung. Denn die Diachronie der biblischen Texte und ihre über weite Strecken erkennbare Intentionalität zeigen, dass von einem autoritativen Charakter der Texte in ihrer Entstehung und während ihrer literarischen Geschichte nicht gesprochen werden kann (vgl. Heckl, 14ff). Die biblische Traditionsliteratur ist über Generationen entstanden. An den biblischen Texten wurde immer wieder gearbeitet, und immer neue Fassungen wurden hervorgebracht. Diese Literargeschichte der biblischen Texte eröffnet in kulturgeschichtlicher Hinsicht einen Zugang zu den Generationen übergreifenden Kommunikationsprozessen. Sie zeigt, wie man damals Texte verstanden hat und wie man sie verstanden wissen wollte. Die Existenz der biblischen Texte lässt umgekehrt aber auch erkennen, wie diese sich über Generationen erstreckenden Prozesse verlaufen sind und welche Ergebnisse sie hatten. Parallel zu den Veränderungen an den Texten veränderten sich die Identitätskonzepte des Alten Israel.
Zur Analyse dieser intentionalen und zum Teil programmatischen Literatur lohnt sich die Zuhilfenahme eines diskursanalytischen Konzeptes, das darauf beruht, dass die zu analysierenden biblischen Texte Teil von antiken Diskursen gewesen sind. In diesem Sinne sind die biblischen Texte als Diskursfragmente anzusehen (vgl. Heckl, 20ff). Über die Intentionalität der Texte, über die enthaltenen Präsuppositionen, vor allem aber aufgrund der in den Texten enthaltenen hermeneutischen Strategien können die Diskurse erschlossen werden. Die Rezeption der Texte in neuen Fassungen und anderen späteren Texten ermöglicht es, die Veränderungen der Diskurse zu verfolgen. Denn das kulturelle Gedächtnis hat sich in den verändernden Diskursen geformt und in einem dynamischen Prozess verändert. Man muss das damit verbinden, dass in den literarischen Texten Identitätskonstrukte entwickelt und vermittelt werden. Die Texte enthalten eine Fülle von Hinweisen darauf, dass man mit ihnen zwar einen autoritativen Anspruch verfolgte, man aber die intendierten Adressaten (noch) von den dargestellten Inhalten überzeugen musste. Als normativ wurden die Texte erst sehr spät angesehen. Die Rede von einer allmählichen Herausbildung des Kanons ist nicht adäquat für die Beschreibung dieses dynamischen Prozesses. Assmann selbst spricht von Kanonisierung als einer besonderen Form der Verschriftung, bei der die Autorität der Texte gesteigert wird, indem „alles, was der Text sagt, schlechthin normative Geltung besitzt“ (Assmann 2004, 82), was zugleich auch den Text unantastbar macht, so dass dieser „weder fortgeschrieben noch um weitere Texte ergänzt werden kann, sondern daß fortan aller weiterer Sinn aus dem Text selbst gewonnen werden muß“ (ebd.). In diesem Sinne lassen sich nur die Endtexte der biblischen Traditionsliteratur betrachten, und ihre Geltung war auch nicht von Anfang an gegeben.
Bezogen auf den von Assmann breit thematisierten Auszug aus Ägypten (→ Exodustradition
Literaturverzeichnis
1. Lexkonartikel
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- Calwer Bibellexikon, 2. Aufl., Stuttgart 2006
2. Weitere Literatur
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- Assmann, J., Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen (Beck'sche Reihe 1307), München 1997
- Assmann, J., Art. Gedächtnis. I. Religionswissenschaftlich, in: RGG 4. Aufl., Bd. 3, Tübingen 2000, 523-525
- Assmann, J., Die mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München 2004
- Assmann, J., Fünf Stufen auf dem Wege zum Kanon: Tradition und Schriftkultur im alten Israel und frühen Judentum, in: ders., Zehn Studien, 2. Aufl. (Beck'sche Reihe 1375) München 2004, 81-100
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