Deutsche Bibelgesellschaft

(erstellt: April 2014)

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1. Die Begriffe

Die Begriffe, die in der Hebräischen Bibel die „Gemeinde“ bezeichnen, sind v.a. קָהָל qāhāl und עֵדָה ‘edāh. Als Primärnomen der hebräischen Sprache hat קָהָל qāhāl die Grundbedeutung „Versammlung, versammelte Menschenmenge“ (Müller, 609); das von der Wurzel יעד j‘d Nif. „sich versammeln“ abgeleitete Nomen עֵדָה ‘edāh bedeutet zunächst „Gruppe“ oder „Ansammlung“. Mit diesen beiden Substantiven wird Israel zwar auch als Volks-, Heeres- und Rechtsgemeinschaft gedeutet, doch ihre Verwendung und die literarische Traditionsgeschichte der Texte zeigen, dass das Volk hiermit zumeist als Kultgemeinde angesehen wird. Politische, militärische und juristische Vorgänge erscheinen als Aktionen der Gemeinde JHWHs. In der → Priesterschrift bezeichnet מִקְרָא־קֹדֶשׁ miqrā qodæš zudem „die aktuelle festzeitliche Sakralversammlung“ (Müller, 617).

Die → Septuaginta übersetzt קָהָל qāhāl vorrangig mit ἐκκλησία ekklēsia, aber auch mit συναγωγή synagogē, עֵדָה ‘edāh fast ausschließlich mit συναγωγή synagogē. Davon ist der neutestamentliche Sprachgebrauch der griechischen Begriffe nicht linear abzuleiten.

2. Die Kontexte

2.1. Zugehörigkeit zur Gemeinde

An verschiedenen Stellen werden die Grenzen der Kultgemeinde definiert. Grundsätzlich ist die Zugehörigkeit auf Männer beschränkt, nur in Neh 8,2 wird der קָהָל qāhāl ausdrücklich auch auf Frauen, in Esr 10,1 auf Frauen und Kinder ausgeweitet. Nach der Gemeinderegel Dtn 23,2-9* dürfen weder durch Zerquetschung Entmannte und Kastraten (Dtn 23,2) noch Nachkommen aus verbotenen Ehen (Dtn 23,3; → Ehe) noch → Ammoniter und → Moabiter (Dtn 23,4) in die Gemeinde Israels aufgenommen werden. Neh 13,1-3 wiederholt die Restriktion der Ammoniter und Moabiter; und Esr 10; Neh 13,23-31 kennen ein striktes Verbot von Ehen mit ausländischen Frauen. Ferner ist damit zu rechnen, dass etliche Definitionen des Volkes Israel auch als Bestimmungen der Kultgemeinde zu verstehen sind. Das betrifft das Konzept „Juda und Benjamin“ nach Esr 1,5 etc., aber auch die Engführung auf die Gola (→ Exil) → Jojachins und deren Nachkommen in den golaorientierten Redaktionssichten des Jeremia- und Ezechiel-Buches (programmatisch Jer 24; → Jeremia; → Ezechiel). All diesen rigoristischen Konzeptionen steht die Idee einer Ausweitung der Gemeinde gegenüber, wie sie durch späte Überarbeitungen in das Großjesajabuch eingebracht wurde. Nach Jes 56,1-8 (→ Tritojesaja) gehören auch Nichtisraeliten und Eunuchen zur Gemeinde, sofern sie Schabbat und Bund halten, denn „mein Haus soll ein Bethaus heißen für alle Völker“ (Jes 56,7), vgl. Jes 66,21. Nach der Idee der Völkerwallfahrt zum → Zion (vgl. z.B. Jes 2,2-4 par Mi 4,1-3 etc.) strömen die Völker freiwillig zum Gottesberg, um Recht und Wort JHWHs zu lernen.

2.2. Rolle der Gemeinde

Die Gemeinde nimmt an kultischen Vorgängen und Handlungen teil, als deren Zeugin sie fungiert. So erfährt sie die Gesetzesoffenbarung am Sinai (Ex 19Num 10) und feiert die Weihe des Ersten Tempels (1Kön 8; → Tempelweihe). Nach den Ergänzungen der Priesterschrift (Ps) erlebt die Gemeinde die Einsetzung und Weihe von → Priestern und → Leviten sowie den Vollzug der ersten Opfer (Lev 8f.). Ps gestaltet außerdem die Wüstenwanderung als Prozession der Kultgemeinde ins verheißene Land: Denn Ps schreibt nicht nur die Masse der Kultgesetze → Mose zu, sondern führt mit der → Stiftshütte auch das Konzept eines transportablen Heiligtums durch, das wahren Gottesdienst bereits auf dem Weg in Land möglich macht. Dieser Idee ähnelt die enge Verbindung, in der der Entwurf des Zweiten Tempels, die verschiedenen Regelungen zum Kult und die neue Landverteilung im sog. Verfassungsentwurf Ez 40-48 stehen. Diese Kapitel sind durch weit ausgreifende priesterliche Überarbeitungen geprägt. Die Verlesung des Gesetzes durch Esra (Neh 8) schließlich macht die Gemeinde zur Zeugin der Konstitution zur Zeit des frühen Judentums.

3. Der Begriff „Gemeinde“ zur Bezeichnung Judas in persischer Zeit

Den Begriff „Gemeinde“ für Juda in persischer Zeit schlechthin zu verwenden, wie es gelegentlich geschieht (vgl. etwa Gerstenberger, 88-93, 334-339), ist in mehrfacher Hinsicht problematisch. Zwar wird damit der Verlust der staatlichen Selbstbestimmung reflektiert, aber auch erheblich vom ursprünglichen Begriffskonzept abgewichen. Wenn „Gemeinde“ nämlich für eine Organisationsform oder politische Struktur wie etwa die Bürger-Tempel-Gemeinde im Sinne Weinbergs verwendet wird, löst man den Begriff von seinem eigentlichen theologischen Sinn als „Kultgemeinde“. Dasselbe gilt, wenn die Konzeption aus Esra und Nehemia übernommen wird (→ Esra- und Nehemiabuch), die die Gemeinde als genealogisch bestimmte Exilsheimkehrerschaft und damit als ethnische Größe definiert (vgl. Rüterswörden, 611).

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Stuttgart 1933-1979
  • Biblisch-historisches Handwörterbuch, Göttingen 1962-1979
  • Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Stuttgart u.a. 1973ff
  • Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, 5. Aufl., München / Zürich 1994-1995
  • The Anchor Bible Dictionary, New York 1992
  • Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament, 2. Aufl., Stuttgart u.a. 1992
  • Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Freiburg i.Br. 1993-2001
  • Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2007
  • Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament, Darmstadt 2006

2. Weitere Literatur

  • Blum, E., Volk oder Kultgemeinde?, KuI 10 (1995), 24-42
  • Gerstenberger, E.S., Israel in der Perserzeit. 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. (BE 8), Stuttgart 2005
  • Müller, H.-P., Art. קָהָל qāhāl, in: Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, Bd. II, 5. Aufl., München / Zürich 1995, 609-619
  • Rost, L., Die Vorstufen von Kirche und Synagoge im Alten Testament. Eine wortgeschichtliche Untersuchung (BWANT 76), Stuttgart 1938
  • Rudnig, Heilig und Profan. Redaktionskritische Studien zu Ez 40-48 (BZAW 287), Berlin / New York 2000
  • Rüterswörden, U., Art. Gemeinde II. Altes Testament, in: RGG 4. Aufl., Bd. 3, Tübingen 2000, 611
  • Weinberg, J., The Citizen-Temple Community (JSOT.S 151), Sheffield 1992
  • Willi, T., Kirche als Gottesvolk?, ThZ 49 (1993), 289-310

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