Deutsche Bibelgesellschaft

Genesis-Apokryphon

(erstellt: Februar 2008)

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1. Form und Inhalt

1.1. Die Einzigartigkeit des Genesis-Apokryphon

Das aramäische Genesis-Apokryphon (1QapGen = 1Q20; Übersetzung) ist eine in hellenistischer Zeit redigierte Sammlung von aramäischen Erzählungen zu Noah und Abram, die außer zur → Genesis auch zum → Jubiläenbuch, zur → Henochliteratur und zu Dan 2-7 (→ Daniel) enge Beziehungen aufweist. Vom Genesis-Apokryphon ist nur eine einzige, allerdings nicht vollständig erhaltene, Handschrift bekannt, die in herodianischer Zeit angefertigt, später zusammen mit anderen Schriften in Höhle 1 bei → Qumran deponiert und 1947 dort wiederentdeckt worden ist.

Die erhaltenen Teile des Genesis-Apokryphon bilden das mit Abstand umfangreichste in Qumran gefundene aramäische Dokument und sind damit ein wichtiger Zeuge für das vortargumische palästinische Aramäisch.

Das Genesis-Apokryphon vermag einen einzigartigen Einblick in die lebendigen Noah- und Abraham-Traditionen der hellenistischen Zeit zu geben, wobei es anders als die Pescharim keinen Kommentar zum biblischen Text enthält, sondern (u.a. wegen der fiktiven Autorenschaft von Lamech, Noah und Abram, darin der Testamentsliteratur verwandt) eine der kanonischen Genesis mindestens ebenbürtige Autorität für sich reklamiert. Das Verhältnis zur kanonischen Genesis variiert von Passage zu Passage, in Abhängigkeit von den jeweils verwendeten Quellen, sehr stark; im Vergleich zu Jubiläen- (2. Jh. v. Chr.) und Henochbuch (4.-1. Jh. v. Chr.) repräsentiert das Genesis-Apokryphon ältere Traditionsstadien.

1.2. Datierung

Terminus ante quem der Komposition des Genesis-Apokryphon ist das 1. Jh. v. Chr. (Datierung des einzigen bekannten Exemplars), terminus post quem das 3. Jh. v. Chr. (aramäische Danielerzählungen), wobei die Forschung, vor allem aufgrund des inzwischen veröffentlichten größeren Vergleichsmaterials aus Qumran, zu einer relativen Frühdatierung tendiert (Machiela, 314: 200-150 v. Chr.).

1.3. Inhalt

1.3.1. Lamech- und Noah-Erzählung

In den ersten, nur teilweise entzifferbaren Kolumnen erzählen zunächst Lamech (1QapGen II - 1QapGen V,28) und → Noah (1QapGen V,29 - 1QapGen XVII), meist in der Ich-Perspektive, ihre Geschichte.

Themen sind die wunderbare Geburt Noahs, wobei allein Henoch die Zeichen zu deuten weiß (1QapGen II - 1QapGen V), die Vorgeschichte der Flut, mit visionären Ausblicken (1QapGen VI-IX), die Flut mit dem Aufsetzen der Arche auf dem Ararat und dem dargebrachten Opfer, mit dem Noah für die ganze Erde sühnt (1QapGen X-XI; → Flut / Fluterzählung), anschließend Verheißungen einschließlich einer Speiseordnung, und das Anlegen eines Weinbergs (1QapGen XII). Schließlich geht es, zunächst in einer Baumvision (1QapGen XIII-XV), dann in einer detaillierten Grenzbeschreibung, um die Landverteilung an die Nachkommen Noahs (1QapGen XVI-XVII).

1.3.2. Abram-Erzählung

Wie der Übergang zwischen Noah- und Abramgeschichte erfolgt, ist nicht mehr erkennbar, da Kol. XVIII nicht mehr lesbar ist. In den vier letzten, am besten erhaltenen Kolumnen, folgt eine Ich-Erzählung → Abrams (1QapGen XIX - 1QapGen XXI,22). Hier wird vor allem die Ägyptenepisode breit ausgeschmückt, unter anderem mit einer Traumvision Abrams und einer ausführlichen Beschreibung der Schönheit → Sarais (1QapGen XIX,10-XX,34, vgl. Gen 12,10-20), ebenso dann die Landverheißung bei → Bethel nach der Trennung von → Lot, die durch eine Beschreibung und Begehung des dem Abram verheißenen Landes vom Nil bis zum Euphrat ergänzt wird (1QapGen XXI,8-22, vgl. Gen 13,14-18).

Die Fortsetzung der Abramgeschichte mit den Kriegszügen der Kedorlaomer-Koalition, der Befreiung Lots, der Begegnung mit → Melchisedek und der Nachkommenverheißung für Abram (1QapGen XXI,23-1QapGen XXII,34, in enger Parallele zu Gen 14,1-15,4), erfolgt in der Er-Perspektive, bis der Text mit der letzten Kolumne unvermittelt abbricht.

Gemeinsame Charakteristika in allen Teilen des Genesis-Apokryphon sind, im Kontrast zur Genesis, die ausführlichen nächtlichen Traum-Offenbarungen (1QapGen VI-VII; XIII-XV; XIX,14-21; XXI,8-14), die Hochschätzung Henochs (1QapGen II,19–V,23; XIX,25–27) und die von Gott bestimmte Landverteilung nach der Flut, in der bereits Arpachschad, dem Sohn Sems (also nicht Kanaan, dem Sohn Hams), das spätere Land Israels zugesprochen wird (Thema in 1QapGen XIV, XVI und XVII, vgl. auch XIX,11–13; XXI,10–19.23f., zu Kol. XVIf. s.u.). Das chronologische System erscheint gegenüber der (priesterlich geprägten) Genesis und dem Jubiläenbuch ursprünglicher (VI,10; XII,10–15; XXII,27–29), ebenso die unbefangene Schilderung von Opfern Noahs (Sühne, Blutritus, verschiedene Opfertiere und Räucheropfer werden 1QapGen X,13–17 erwähnt) und Abrams (in Bethel und Hebron, 1QapGen XXI,1f.20f.).

2. Verhältnis zu anderen Literaturwerken

2.1. Beziehungen zu außerkanonischer Literatur

Auf eine auch sonst benutzte (hebräische?) Quelle weist die Überschrift „[Abschrift des] Buches der Worte Noahs“ (1QapGen V,29) hin; Abram kennt ein (aramäisches?) „Buch der Worte Henochs“ (1QapGen XIX,25).

Enge Parallelen, die sich nur mit literarischen Abhängigkeitsverhältnissen erklären lassen, bestehen zu den Anhangskapiteln des 1. (äth.) Henoch (Geburtsgeschichte Noahs, 1QapGen II-V und 1Hen 106-107) und zum Jubiläenbuch (Landverteilung an die Söhne und Enkel Noahs, 1QapGen XVI-XVII und Jub 8,11-9,15). In beiden Fällen scheint der ursprüngliche literarische Zusammenhang im Genesis-Apokryphon besser erhalten zu sein. Die Aufteilung der durch die Flüsse Tina (= Tanis / Don) und Gihon (= Nil) sowie durch das Mittelmeer voneinander getrennten drei Erdteile an die drei Söhne Noahs im Genesis-Apokryphon führt (bei Annahme von Priorität gegenüber dem Jubiläenbuch) erstmals die ionische Weltkarte in die jüdische Literatur ein (Eshel, Machiela), wobei → Jafets Anteil Europa, → Sems Anteil Asien und → Hams Anteil Lybien (Afrika) entspricht.

Die Lokalisierung der Landverheißung an Abram in ramat-chaṣôr (רמת חצור), nördlich von Bethel (1QapGen XXI,8-10), beweist zudem Vertrautheit mit der regionalen Geographie; Beziehungen zur Sektenliteratur aus Qumran sind dennoch nicht erkennbar.

2.2. Verhältnis zur kanonischen Genesis

Die Noah-Geschichte des Genesis-Apokryphon steht trotz des gemeinsamen Stoffes und vieler gemeinsamer Details selbständig neben der Genesis, die demnach nicht im eigentlichen Sinne als literarische Vorlage bezeichnet werden kann, und berührt sich in Stil und Motivik teilweise mit den aramäischen Danielerzählungen (vgl. 1QapGen XIII-XIV mit Dan 4).

Auch in der Abram-Geschichte lässt sich das Genesisapokryphon keinesfalls als Nacherzählung der Genesis charakterisieren, auch wenn die Nähe zum Genesis-Text hier sehr groß ist. Letzteres hat zu Vergleichen mit einem haggadischen Midrasch (Vermes, zu 1QapGen XX) oder einem Targum (Kuiper, zu 1QapGen XXII) Anlass gegeben; für beide Gattungen wäre das Genesis-Apokryphon der mit Abstand älteste Vertreter. Doch fehlen auffälligerweise die aus der Genesis bekannten endkompositionell-„priesterlichen“ Systematisierungen ebenso wie einige der Glossen in Gen 14, was auf die Zugrundelegung einer älteren Fassung der Abramgeschichte schließen lassen könnte (Ziemer). Der Schlussabschnitt des Genesis-Apokryphon (ab 1QapGen XXI,23) ist im Wesentlichen eine Wort-für-Wort-Übertragung einer Vorlage, die lediglich mit einigen Glossen, die vorrangig dem geographischen System des Genesis-Apokryphon dienen, angereichert ist. Diese Vorlage muss ihrerseits auf eine Vorlage der kanonischen Genesis zurückgehen, weshalb es mit Hilfe des Genesis-Apokryphon möglich wird, die Redaktionsgeschichte eines Ausschnitts der Genesis empirisch über mehrere Stufen zurückzuverfolgen.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • The Anchor Bible Dictionary, New York 1992
  • Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2007
  • vgl. in anderen Lexika auch die Artikel zu „Qumran“

2. Textausgaben, Kommentare und Übersetzungen

  • Avigad, N. / Yadin, Y., 1956, A Genesis Apocryphon. A Scroll from the Wilderness of Judaea, Jerusalem (Erstausgabe)
  • Beyer, K., 1984 / 2004, Die aramäischen Texte vom Toten Meer, 2 Bde., Göttingen
  • Fitzmyer, J.A., 2004, The Genesis Apocryphon of Qumran Cave I. A Commentary, Rom, 3., erweiterte Auflage (Standardwerk, Bibliographie)
  • Machiela, D.A., 2007, The Genesis Apocryphon (1Q20): A Reevaluation of its Text, Interpretive Character, and Relationship to the Book of Jubilees, Diss. Notre Dame (Text inklus. Transkription und engl. Übersetzung unter http://etd.nd.edu/ETD-db/theses/available/etd-07022007-205251/)
  • Maier, J., 1995, Die Qumran-Essener. Die Texte vom Toten Meer. Band I: Die Texte der Höhlen 1-3 und 5-11, München / Basel

3. Weitere Literatur

  • Baxter, W., 2006, Noachic traditions and the Book of Noah. In: Journal for the Study of the Pseudepigrapha 15,3, 179-194
  • Bernstein, M.J., 2005, From the watchers to the flood: Story and exegesis in the early columns of the Genesis Apocryphon. In: Chazon, E.G. (Hg.), Reworking the bible: apocryphal and related texts at Qumran, 39 - 63
  • Eshel, E., 2007, The Imago Mundi of the Genesis Apocryphon. In: LiDonnici, L., Heavenly tablets. Interpretation, identity and tradition in ancient Judaism, 111-131
  • Kuiper, G.J., 1968, A Study on the Relationship Between A Genesis Apocryphon and the Pentateuchal Targumim in Gen 14,1-12, in: Black, M. / Fohrer, G. (Hgg.), In Memoriam Paul Kahle (BZAW 103), Berlin, 149-161
  • Morgenstern, M., 1996, A New Clue to the Original Length of the Genesis Apocryphon, in: Journal of Jewish Studies 47, 345-347
  • Muraoka, T., 1993, Further Notes on the Aramaic of the Genesis Apocryphon, in: Revue de Qumran 61, 39-48
  • Osswald, E., 1960, Beobachtungen zur Erzählung von Abrahams Aufenthalt in Ägypten im „Genesis-Apokryphon“, ZAW 72, 7-25
  • Steiner, R.C., 1995, The Heading of the Book of the Words of Noah on a Fragment of the Genesis Apocryphon: New Light on a „Lost“ Work, in: Dead Sea Discoveries 2, 66-71
  • VanderKam, J.C., 1978, The Textual Affinities of the Biblical Citations in the Genesis Apocryphon, in: Journal of Biblical Literature 97/1, 45-55
  • Vermes, G., 1961, Scripture and Tradition in Judaism. Haggadic Studies (StPB 4), Leiden
  • Ziemer, B., 2005, Abram – Abraham. Kompositionsgeschichtliche Untersuchungen zu Gen 14, 15 und 17 (BZAW 350), Berlin / New York
  • Ziemer, B., 2007, Der orientreisende Abram des Genesis-Apokryphon im literarischen Grenzbereich, in: Kuyt, A. / Necker, G. (Hgg.), Orient als Grenzbereich? Rabbinisches und außerrabbinisches Judentum (AKM 60), Wiesbaden, 11-35

Abbildungsverzeichnis

  • 1QapGen XI (Rekonstruktion Machiela). Aus: Machiela, 2007, 87
  • 1QapGen XXI,1-22 (Rekonstruktion Machiela). Aus: Machiela, 2007, 97

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