Gericht / Gerichtswesen (AT)
(erstellt: März 2014)
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Das Gerichtswesen des Alten Israel hat im Lauf seiner mehr als tausendjährigen Geschichte mannigfaltige Wandlungen erlebt. Die feststellbare Strukturlinie führt von der Entscheidungsgewalt des Familienoberhauptes und einer vorstaatlichen intergentalen Gerichtsbarkeit, die also hauptsächlich zwischen einzelnen Sippenverbänden stattfand, über eine königliche Verwaltungsgerichtsbarkeit bei gleichzeitigen regulären und zunehmend professionalisierten Lokalgerichten hin zu einer Gerichtsbarkeit der Familienhäupter und des Hohenpriesters der substaatlichen Zeit nach dem Exil. Rechtsentscheide an Heiligtümern, die Ältestengerichtsbarkeit in Sachen des Familienrechts und das Jerusalemer Zentralgericht fügen sich in dieses Raster ein.
1. Historische Entwicklung des Gerichtswesens im Alten Israel
1.1. Die vorstaatliche Gesellschaft
1.1.1. Die richterliche Funktion des Familienoberhauptes
Diese Periode der Geschichte Israels, die bis zum Jahr 1000 v. Chr. dauerte, war dadurch geprägt, dass es keine Zentralinstanz gab, die Herrschaftsansprüche hätte durchsetzen können. Für das Gerichtswesen herrschten ähnliche segmentäre Verhältnisse, in denen Rechtsfälle innerhalb einer Familie und zwischen Familien entschieden werden mussten (→ Familie
Innerhalb einer Familie griff die Autorität des Familienoberhauptes, des Pater familias. Dieser hatte zwar ein Besitzrecht über seine → Sklaven
Die Tatsache, dass in Gen 4,1-16
1.1.2. Das Ältestengericht
Neben der Autorität des Familien- oder Sippenoberhauptes ist für die vorstaatliche Zeit auch mit einer örtlichen Ältestengerichtsbarkeit zu rechnen, also den Repräsentanten einer Ortschaft, nicht aller ihrer Bewohner. Die Ältestenjudikatur griff bei intergentalen Streitfällen, also solchen zwischen verschiedenen Familien, und fällte Schlichtersprüche zur Streitbeendigung, die jedoch aufgrund des sozialen Standes der Ältesten oftmals verpflichtenden Charakter hatten (s. den späten Reflex in Hi 29,17
1.1.3. Die priesterliche Gerichtsbarkeit
Nicht nur aufgrund der engen Verflechtung des öffentlichen Lebens mit dem religiösen, sondern auch wegen immer wieder mangelnder Beweise gab es auch das Mittel des JHWH-Eides bzw. des Gottesurteils. Beim Depositenrecht Ex 22,6-7
Ein besonderer Fall ist die Sakralasylie Ex 21,12-14
1.2. Die staatliche Epoche vor Josia
1.2.1. Die Gerichtsbarkeit des Pater familias und der Ältesten
Im Verlauf der staatlichen Zeit Israels zogen die Lokalgerichte den größten Teil der richtenden Funktion des Familienoberhauptes an sich. Das Familienrecht des → Deuteronomiums
Die Ältesten haben mithin an Einfluss in der Rechtsprechung gewonnen (auf politischem Gebiet durch die Instanz des → Königtums
1.2.2. Rechtsprechung durch königliche Beamte
Die Torgerichtsbarkeit der Ältesten blieb auch im Laufe der vordeuteronomischen Königszeit erhalten. Teilweise professionalisiert und königlichen Beamten unterstellt wurde sie wahrscheinlich nur in Jerusalem (→ Verwaltung
Zur Zeit Josias hatte sich dann in der Hauptstadt eine ganze Schicht verschiedener Amtsträger herausgebildet. Eine umfassende Zusammenschau bietet Zef 3,1-4
1.2.3. Der König als Richter
Die bekannteste Erzählung von einem König, der als Richter fungiert, die vom salomonischen Urteil, ist rechtshistorisch unergiebig, da eine umlaufende Erzählung vom Streit zweier Frauen um ein Kind erst im Zuge der Komposition des gesamten Salomostoffs sekundär auf Salomo übertragen wurde (→ Salomo
Die königliche Gerichtsbarkeit war also keine ordentliche Rechtsprechung für die Hauptstadt, sondern für die genannten Fälle zuständig, in denen die Krone selbst involviert war.
1.3. Die Reform König Josias
Unter König → Josia
Fälle, die mit den normalen Mitteln nicht aufgeklärt werden können, werden an ein priesterliches Zentralgericht in Jerusalem verwiesen, das einen Gottesbescheid verkündet, an den die Lokalgerichtsbarkeit gebunden ist. Die Erwähnung von Richtern neben den levitischen Priestern ist sekundär (Dtn 17,8-13
1.4. Die nachexilische Zeit
1.4.1. Familienoberhäupter und Gemeindeversammlung
Die substaatliche Epoche war geprägt vom Verschwinden des Pater familias aus der Rechtsprechung. Ebenfalls nahm die Bedeutung der Ältestengerichtsbarkeit ab. So werden die Ältesten und Richter (die hier wie eine Art „Bürgermeister“ erscheinen) der israelitischen Städte in der Frage der Mischehen nach Jerusalem zitiert, wo das entscheidende Organ die Oberhäupter der Väterhäuser (רָאשֵׁי הָאָבוֹת r’āšê hā’āvot), also die Chefs von generationenübergreifenden Großfamilien sind (Esr 10,7-17
Die Versammlung der Väterhäuser bzw. der Bürger wurde עֵדָה ‘edāh genannt (→ Gemeinde
1.4.2. Die priesterliche Rechtsprechung
Der Verlust des Königtums wurde, vorbereitet durch Verfassungsentwürfe der Exilszeit (so Ez 40-48
1.4.3. Das Gericht der Gerusia und des Synhedriums
In ptolemäischer Zeit und unter den Hasmonäern stand der Hohepriester nicht mehr allein, sondern an der Spitze der Gerusia („Ältestenrat“), die sich neben der Priesterschaft auch aus Vertretern des Adels, der Großgrundbesitzer und der Familienoberhäupter zusammensetzte. Im Laufe der Zeit nahm die priesterliche Macht deutlich ab (1Makk 12,6
2. Struktur und Ablauf des Rechtsstreits
2.1. Die unterschiedlichen Rechtsfälle
Die uns geläufige Unterscheidung in Offizial- und Antragsdelikte gab es in der Antike nicht. Das Fehlen einer staatlichen Strafverfolgung und Anklageerhebung bedeutet, dass auch in der Bibel sämtliche Rechtsstreitigkeiten als Antragsdelikte und somit als Privatfälle zu betrachten sind. Innerhalb dieser gab es Unterschiede aufgrund der strittigen Sache. So geht es beim Depositen- und Leihrecht um eine Streitsache, die nicht über das Interesse der beiden Kontrahenten hinausgeht (→ Leihrecht
Das religiös motivierte Todesrecht im Fall von Götzendienst ganzer Städte (Dtn 13,13-19
2.2. Die Parteien des Rechtsstreits
Für den Rechtsstreit in der Hebräischen Bibel ist es bezeichnend, dass „Ankläger“ und „Zeuge“ mit demselben Wort bezeichnet werden: עֵד ‘ed. Der Grund dafür ist, dass der Zeuge eines Verbrechens Anklage erhebt (נגד ngd bzw. ענה ‘nh); kommt die Klage vom Opfer des Verbrechens oder Delikts, gilt das Opfer ebenfalls als Zeuge. Aus diesem Grund kann ein Fall nicht aufgrund der Aussage eines einzigen Zeugen entschieden werden, sondern erst durch das Zeugnis von zwei oder drei Personen (Num 35,30
In extremen Fällen konnten Konstellationen entstehen, bei denen Ankläger bzw. Angeklagter und Richter miteinander identisch waren. Es gibt dafür keine direkten Textzeugnisse in gesetzlicher Form, sondern zum einen narrative und metaphorische Texte (1Sam 22,6-19
2.3. Der Ablauf der Verhandlung
Die gewöhnliche Bezeichnung eines Rechtsstreits und Prozesses bzw. der inhaltlichen Streitsache war רִיב rîv, die nicht ursprünglich forensisch ist, sondern zuerst wohl jeglichen, auch den handgreiflichen Streit (so Ex 21,18
Aufgrund der nicht spezifizierten und in den verschiedenen literarischen Werken des Alten Testaments variierenden Terminologie lässt sich kein typischer Verlauf einer Gerichtsverhandlung mehr rekonstruieren; Hinweise geben neben dem „Modellprozess“ Dtn 17,2-7
3. Gott als Richter
Neben dem Gebot Gottes, gerechtes Gericht zu halten, wird Gott selber schon in frühen Texten als Richter angerufen, wodurch Kläger oder Beklagte ihre Position zu festigen suchen (Gen 16,5
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