Gericht Gottes (AT)
(erstellt: Januar 2008)
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1. Gott als gerechter Richter auf Erden
Nicht selten trägt der alttestamentliche Gott das Attribut des Richters oder übt die Tätigkeit des Richtens aus. Meist wird dies mit Hilfe des hebräischen Wortstamms špṭ ausgedrückt. Dieser verfügt, jedenfalls in seiner Anwendung auf Menschen, über eine recht große Bedeutungsbreite. Das Verb špṭ schillert zwischen „richten“ und „herrschen“, der šôfēṭ kann „Richter“ sein, aber auch allgemeiner der für die Geschicke einer Gemeinschaft (z.B. eines Stammes) Verantwortliche, die Nominalbildung mišpāṭ kann den „Rechtssatz“ meinen, aber auch umfassend das „Recht“ oder das „Gericht“ (→ Gericht / Gerichtswesen
Mit den in diese Begriffe gefassten Rechtsvorstellungen wird auch Jhwh in Verbindung gebracht: grundlegend schon dadurch, dass laut Hebräischer Bibel er es ist – und nicht, wie sonst im Alten Orient, der König –, der das → Recht
Zuweilen wird Jhwh ausdrücklich aufgerufen, sich als Richter zu betätigen. Dies geschieht namentlich dann, wenn keine menschliche Instanz in Sicht ist, die an seiner Stelle das Recht wahren könnte. Dann soll Jhwh „zwischen“ zwei menschlichen Rechtsparteien „richten“ (Gen 16,5
Die Bücher der Vorderen Propheten (→ Kanon
Konflikte zwischen Propheten und Königen zeichnen sich auch in den Büchern der Hinteren Propheten ab (z.B. Jes 7,1-17
Hinter dieser Erwartung steht der im ganzen Alten Orient (und nicht nur dort und damals!) gültige Grundsatz, dass Tun und Ergehen sich entsprechen sollten (→ Tun-Ergehen-Zusammenhang
Was für das Binnenleben Israels gilt, gilt auch für seine Außenbeziehungen. Eine verfehlte, weil ohne Rücksicht auf den Willen Jhwhs betriebene Außen- bzw. Kriegspolitik führt ins politische und militärische Desaster (z.B. Jes 30,1-5
An den ins Apokalyptische übergehenden Rändern der Hebräischen Bibel erscheint Jhwh schließlich als Richter der gesamten Völkerwelt (z.B. Jo 4
Der positive Aspekt des Richtens Jhwhs steht durchweg in den Klageliedern des Einzelnen im Vordergrund; da erhoffen sich Menschen, denen ihr Recht vorenthalten wird, das Recht schaffende Handeln Gottes (vgl. die Wurzel špṭ in Jer 11,20
Religionsgeschichtlich könnte Jhwh in seiner Funktion als Richter den Sonnengott beerbt haben, der nach altorientalischer Vorstellung nach jeder Nacht Dunkel und → Chaos
2. Gott als gerechter Richter auch im Jenseits
Nicht selten machen einzelne Menschen, größere Gruppen und ganze Völker Erfahrungen, die an der Durchsetzbarkeit des Rechts auf Erden Zweifel wecken. Gläubige Menschen verstehen dies als Anfechtung. Gibt es etwa doch keinen „Gott, der Richter ist auf Erden“? Der Beter des 73. Psalms beschwert sich über „Frevler“, denen es gut gehe, die sich nicht plagen müssten und doch alles hätten – und die obendrein großmäulig verkündeten: „Wie sollte Gott es wissen? Gibt es ein Wissen beim Höchsten?“ (Ps 73,11
Die → „Weisheit Salomos
Im alten Ägypten gab es den Glauben an ein Jenseitsgericht schon längst (→ Totengericht
Hat sich die Vorstellung eines Jenseitsgerichts erst im nachalttestamentlichen Judentum (und im frühen Christentum! vgl. Mt 25,31-46
3. „Tag Jhwhs“ und „Jüngstes Gericht“
Zur Vorstellung vom „Gericht Gottes“ gehört auch der Motivkreis → „Tag Jhwhs
1) Wurzeln. Die Wurzeln des Motivkreises vom „Tag Jhwhs“ liegen im politisch-militärischen Bereich. Die markantesten Erfahrungen des frühen Israel mit dem Gott Jhwh waren solche der Rettung vor überlegenen Feinden: vor den Ägyptern am Schilfmeer (Ex 14f
2) Amos. Gegenläufig zu der Hoffnung auf einen heilvollen „Tag Jhwhs“ gibt es in der Hebräischen Bibel indes Texte, die ihn gerade als Unheilstag beschreiben. Der Erste, der diese irritierend neue Sicht entwickelte, war anscheinend → Amos
3) Jesaja. Die Amos-Linie setzt sich in der prophetischen Literatur fort. Im → Jesajabuch
4) Zefanja. In der Prophetie → Zefanjas
5) Joel. Noch ausgeprägter als das Zefanja- entwickelt das → Joelbuch
In dem Weltendrama des Joelbuchs zeichnen sich die Weltuntergangsszenarien ab, die spätere Visionäre und Künstler in immer flammenderen Farben an den düsteren Himmel ihrer jeweiligen Gegenwart gemalt haben. Die schaurigen Bilder und Kompositionen vom „Dies irae, dies illa“ sollten indes nicht vergessen machen, dass die Triebfeder der jôm jhwh-Erwartung (und letztlich der gesamten jüdischen und christlichen Endzeiterwartung) nicht in morbiden Angstphantasien und perverser Katastrophenlust liegt, sondern im sehnsüchtigen Warten auf die Gerechtigkeit. Was jetzt so schmerzlich vermisst wird – dass Gott seine Widersacher niederringt und seine Getreuen zu sich nimmt –, soll im „Jüngsten Gericht“ endlich wahr werden.
4. Messias, Menschensohn und Endgericht
1) Messias. Laut biblischer Überlieferung hat → David
Aus der Reihe der sog. messianischen Weissagungen (Jes 9,1-6
2) Menschensohn. In der apokalyptischen Bewegung der spätalttestamentlichen Zeit wollte man solche Zukunftshoffnung offenbar nicht gar so eng an das (davidische) Königtum gebunden sehen. Hier trat an die Stelle der königlichen eine betont unkönigliche Hoffnungsfigur: der → „Menschensohn
Literaturverzeichnis
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