Gewalt (AT)
(erstellt: Mai 2021)
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1. Vorbemerkungen
1.1. Was ist Gewalt?
Gewalt ist eine menschliche Grunderfahrung und immer ein ambivalentes Phänomen: Jeder Mensch hat das Potenzial, Gewalt auszuüben, und ist zugleich von Gewalt bedroht. Das gilt unabhängig davon, ob man allein den physischen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit als Gewalt versteht oder einer weiten Definition folgt, die auch andere Formen der äußeren Einwirkung auf Individuen und Gruppen (z.B. verbale, psychische oder strukturelle Gewalt) einschließt (Christ / Gudehus 2013, 2-4). Im deutschen Sprachgebrauch ist Gewalt nicht nur negativ konnotiert. Das zeigt sich schon an der semantischen Überschneidung von „Gewalt“ mit den Begriffen „Autorität“, „Macht“ (→ Stärke
Bei der Interpretation von literarischen Gewaltdarstellungen, wie sie im Alten Testament begegnen, ist grundsätzlich zu berücksichtigen, dass die Bewertung von Gewalt sowie die Frage danach, was überhaupt als Gewalt verstanden werden kann, kontextuell und kulturell bedingt und einem ständigen Wandel unterworfen ist. Deshalb ist Gewalt immer ein „kulturspezifisches Phänomen“ (Baumann 2006, 28). Das erschwert jede Auseinandersetzung mit den Gewaltdarstellungen des Alten Testaments, denn „[n]icht alles, was uns heute als Gewalt erscheint, wäre auch von Menschen zu biblischer Zeit als Gewalt bezeichnet worden“ (Baumann 2015, 88).
1.2. Gewalt im Alten Testament: Ein Überblick
Bereits die Erzählung vom Brudermord in Gen 4 (→ Kain und Abel
Das Alte Testament benennt allerdings nicht nur die Abgründe, in die Gewalttaten führen können, sondern weiß auch um die ordnungsstiftende Funktion von Gewalt (vgl. Kapitel 3.1.). So kann der Einsatz von Gewalt nötig sein, um sich zu verteidigen, um Unrecht zu bekämpfen oder um Konflikte zu begrenzen. Eine solche Funktion zeigt sich unter anderem in der gewaltvollen Bestrafung von Unrecht in Rechtstexten (→ Todesstrafe
In Anbetracht dieser vielfältigen und ambivalenten Perspektiven auf Gewalt stellt jede pauschale Abwertung des Alten Testaments als brutal oder gar gewaltverherrlichend das Ergebnis einer selektiven, verkürzten Lektüre dar. Die seit Markion anhaltende moralisch-theologische Kritik am Alten Testament reduziert die Vielfalt der Gewaltbilder auf besonders drastisch anmutende, meist aus dem Kontext gerissene Spitzensätze und projiziert diese auf das Ganze zurück. Ein solches Vorgehen wird der Heterogenität der alttestamentlichen Gewaltdarstellungen nicht gerecht. Die jüngere bibelwissenschaftliche Forschung weist auch die etablierte Gegenüberstellung des Alten Testaments als besonders gewaltvoll und des Neuen Testaments als besonders friedlich zurück (Dietrich / Mayordomo 2005, 25). Eine pauschale Kritik des Alten Testaments aufgrund seiner vermeintlich durch die Literatur des Neuen Testaments überholten Gewalttexte ist auch deshalb problematisch, da sie stets Gefahr läuft, „antijudaistische Denkmuster zu verwenden oder ungewollt zu perpetuieren“ (Baumann 2013, 48). In der religionswissenschaftlichen und exegetischen Diskussion hat schließlich auch die von Jan Assmann aufgestellte These vom besonderen Gewaltpotenzial des biblischen → Monotheismus
Die gegenwärtige Forschung betont deshalb die Wichtigkeit einer differenzierten Auslegung, die die Heterogenität alttestamentlicher Gewaltbilder ernstnimmt, und versucht, die unterschiedlichen Vorstellungen unter anderem in ihren literarischen und historischen Kontexten zu verorten, um so die Grundlage für eine textgemäße und hermeneutisch verantwortungsvolle Interpretation der Gewaltdarstellungen zu ermöglichen (vgl. Kapitel 4.).
2. Hebräische Terminologie
Im biblisch-hebräischen Sprachgebrauch gibt es kein Äquivalent für das deutsche Abstraktum „Gewalt“, sondern eine Vielzahl von Ausdrücken, die jeweils unterschiedliche gewaltvolle Handlungen beschreiben. Am ehesten lässt sich noch das hebräische Lexem ḥms, das sowohl als Nomen („Gewalt / Gewalttat“) als auch als Verb (Qal „gewalttätig handeln“ / Nif. „Gewalttat erleiden“) begegnet, mit dem deutschen Begriff „Gewalt“ in Beziehung setzen. Es hat jedoch ein eindeutig negativ gefärbtes Bedeutungsspektrum. Es bezeichnet primär die Unrechtmäßigkeit bestimmter menschlicher Taten. Gott erscheint an keiner Stelle als Subjekt von ḥms (umstritten: Hi 19,7
Der Begriff bezeichnet gewaltvolle Taten, die die soziale, psychische und physische Unversehrtheit des menschlichen Lebens angreifen (Haag 1997, 1056-1058). Er erscheint deshalb unter anderem im Parellelismus zu → „Unheil
Neben ḥms gibt es verschiedene Nomen, die unspezifische Formen der Gewaltausübung bezeichnen.
So wird zum Beispiel die Zwangsarbeit der Israeliten durch die „Gewalt“ (פֶרֶךְ pærækh in Ex 1,13-14
Zu den häufigsten zählen נכה nkh, „erschlagen / schlagen“, הרג hrg und מות mwt, „töten“, רצח rṣḥ, „töten / morden“ und לחם lḥm, „kämpfen / bekriegen“. Aber auch Handlungen wie עשׁק ‘šq, „unterdrücken“ (z.B. Lev 19,13
Gewaltausübende Subjekte sind in den alttestamentlichen Texten meist menschliche Individuen, Gott oder Kollektive (z.B. Gruppen, Banden oder Heere). Dass Tiere beziehungsweise Raubtiere für Menschen eine Gefahr darstellen, ist selbstverständlich und wird kaum thematisiert (z.B. Gen 9,5
3. Legitime und illegitime Formen von Gewalt
3.1. Legitime Formen von Gewalt
Das Alte Testament kennt verschiedene Formen institutionalisierter Gewalthandlungen, die bestimmten gesellschaftlichen Konventionen folgen und deshalb in ihren historischen und literarischen Kontexten als legitim gelten.
Die Anwendung von Gewalt erscheint zum Beispiel in der Erziehung als ein legitimes Mittel, durch das Lehrer ihre Schüler „züchtigen“ (Spr 22,15
Eine im kultischen Denken verankerte Sonderform stellt das Phänomen der ritualisierten Gewalt dar (Olyan 2015). In diesen Vorstellungsbereich lässt sich unter anderem der sogenannte → „Bann
Schon das Alte Testament selbst spiegelt dabei eine Diskussion um die Legitimität bestimmter Gewalthandlungen wider. So finden sich in unterschiedlichen Textbereichen voneinander abweichende, sogar gegensätzliche Bewertungen von Gewalt (z.B. Jes 2,4
Die nachfolgenden Teilbereiche institutionalisierter Gewaltanwendung zeigen, dass das Alte Testament Gewalt auch in einer ordnungsstiftenden Funktion wahrnimmt.
Dennoch bleiben auch viele dieser Gewaltdarstellungen offen für ambivalente und kritische Töne. So erzählt das Richterbuch zwar stolz von den großen Siegen und ruhmvollen Gewalttaten der frühen israelitischen Helden gegen ihre Feinde, jedoch zeigt schon die brutale Erzählung von Ri 19, dass „[o]hne staatliche Kontrolle und Regulierung […] ein heilloses Gewaltchaos“ (Dietrich 2006, 297) droht. Doch selbst die spätere Königszeit steht unter dem Vorbehalt des Missbrauchs von Recht, Macht (→ Stärke
3.1.1. Gewalt im Recht
In alttestamentlichen Rechtstexten (→ Recht
Der berühmte Fall der Vergeltung, nach dem ein „Auge für ein Auge“ (Ex 21,24
In Ausnahmenfällen findet allerdings auch körperliche Gewalt als Straffolgebestimmung im alttestamentlichen Recht Erwähnung. In Dtn 25,1-3
Unklar ist auch, ob die im Alten Testament mehrfach belegte → Todesstrafe
3.1.2. Gewalt im Krieg
Die alttestamentlichen Darstellungen entsprechen dabei im Allgemeinen der Schilderung kriegerischer Handlungen in den altorientalischen Nachbarkulturen. Sie sind nicht brutaler oder zurückhaltender in der Beschreibung militärischer Gewalt als diese. Sie erfüllen ähnliche Funktionen (z.B. Geschichtsschreibung, Herrschaftslegitimation oder Identitätsbildung) und nutzten eine ähnliche Bild- und Symbolsprache, zu der sowohl eine Tendenz zum Übertreiben, als auch die Drastik des Dargestellten gehört. Eine erfolgreiche Kriegsführung war im Alten Orient grundsätzlich Ausdruck gelingender → Herrschaft
Kriegerische Auseinandersetzungen werden im Alten Testament oft recht anschaulich dargestellt. Dabei werden vielfältige Formen gewaltvoller Handlungen beschrieben.
Kriegerische Gewalt kann sich zum einen gegen Gebäude und gegnerische Wehranlagen (Türme, Mauern, Tore und Schlösser) oder gegen feindlichen Besitz richten. Auch Plünderungen werden mehrfach erwähnt (z.B. Gen 34,27
3.1.3. Gott und Gewalt
Wie oben dargelegt (Kapitel 2), wird Gott in der hebräischen Bibel allerdings nicht mit dem Begriff ḥms in Verbindung gebracht, der die unrechtmäßige Gewaltanwendung bezeichnet. Gott verurteilt solche Gewalttaten (z.B. Ps 11,5
Ein Eingreifen Gottes kann nach alttestamentlicher Vorstellung einerseits nötig werden, wenn die Schöpfung gefährdet ist – um sie zu erhalten, muss Gott zum Beispiel Chaosmächte gewaltsam in Schach halten (z.B. Jes 27,1
Ein zweites Feld bildet das kriegerische Gewalthandeln Gottes. Gott wird in vielen alttestamentlichen Texten als kriegerisch aktive Figur gezeichnet. Bekannt ist das Diktum von Ex 15,3
3.2. Illegitime Formen von Gewalt
In nahezu allen Textbereichen des Alten Testaments werden Gewalttaten erwähnt, die nicht an bestimmte Konventionen gebunden sind und die sozusagen aus niederen Beweggründen geschehen. Solche Gewaltformen gelten immer als illegitimer Angriff auf die psychosoziale Unversehrtheit des menschlichen Lebens. Eine positive Bewertung von Gewalt, die unter anderem durch Willkür, → Zorn
Als illegitime Gewaltakte können Formen psychischer Gewalt wie z.B. der Spott (z.B. Ps 140,3
Auffällig viele Gewaltakte ereignen sich im Alten Testament innerhalb der eigenen Familie. Neben dem Brudermord Kains ließe sich hier an die Vertreibung von Hagar und Ismael (Gen 21) oder an den Verkauf von Joseph durch seine Brüder (Gen 37) denken. Als grundsätzlich problematisch erscheinen zwischenmenschliche Auseinandersetzungen mit Todesfolge. Sowohl in erzählenden Texten (z.B. Gen 34; Gen 37; Ex 2) als auch im Recht (z.B. Ex 21; Dtn 27,24
Das hier verwendete hebräische Verb רצח rṣḥ, „töten / morden“, wird nur in Bezug auf Menschen verwendet, ist allerdings nicht in militärischen Auseinandersetzungen belegt. Es bezieht sich deshalb nicht auf das Töten von Soldaten im Krieg, sondern auf Gewaltakte im zwischenmenschlichen Nahbereich. Nach dem Dekalog-Gebot sind solche Handlungen verboten, die bewusst den Tod von Menschen herbeiführen, das heißt die „vorsätzliche, allenfalls fahrlässige, nicht aber unbeabsichtigte Tötung“ (Köckert 2007, 76). Obwohl sich dieses Gebot im Kontext der Gesetzgebung am → Sinai
Texte wie Gen 9,6
Die von priesterlichem Denken geprägte Passage Gen 9,1-6
Gesonderte Erwähnung verdient das Thema sexualisierter Gewalt, insbesondere Gewalttaten, die Männer Frauen antun. Dabei stellen sich zwei Probleme. Das erste ist sprachlicher Natur: Das biblische Hebräisch kennt keinen Begriff, der dem heutigen Verständnis von „Vergewaltigung“ genau entsprechen würde (Gavett 2004). Das hebräische Verb ענה ‘nh, das häufig als „vergewaltigen“ beziehungsweise „Gewalt antun“ übersetzt wird, wird mehrheitlich in Kontexten verwendet, in denen es vor allem um eine soziale, weniger um eine physische Schädigung geht (im Sinne von „entehren,“ „erniedrigen,“ oder „demütigen“ erscheint es z.B. in Gen 16,6
Dafür ist das alttestamentliche Recht ein gutes Beispiel. Der Geschlechtsverkehr – das „Liegen“ (שׁכב škb) – eines Mannes mit einer bereits verlobten Frau (Dtn 22,23-24
Besonders umstritten ist die Auslegung erzählender Texte, in denen sexuelle Handlungen und Gewalttaten miteinander in Beziehung gesetzt werden. Neben den bereits genannten Problemen weisen viele Erzählungen Leerstellen oder Ambivalenzen auf, weshalb eine eindeutige Interpretation der dargestellten Handlungen als (sexualisierte) Gewalt nicht immer möglich ist (z.B. Gen 12,15
4. Hermeneutischer Ausblick
Die Allgegenwart der Gewalt im Alten Testament sowie seine zum Teil drastischen, verstörenden und nach heutigen moralischen Vorstellungen vielfach problematischen Darstellungen von Gewalt stellen Leserinnen und Leser vor die wichtige Frage, wie diese Texte verstanden oder textgemäß ausgelegt werden können. Diese Frage ist Bestandteil der Bibelauslegung (→ Bibelauslegung, Epochen der christlichen
Als nicht gangbar haben sich in der Vergangenheit unter anderem solche Ansätze erwiesen, die a) das Problem der Gewalt kleinreden oder beschönigen, b) problematisch empfundene Texte einfach übergehen, c) die entsprechenden Passagen durch spätere Traditionen wie das (vermeintlich friedlichere) Neue Testament als überholt ansehen, d) die Texte als Aufrufe zur Gewalt missbrauchen oder sie e) unmittelbar, das heißt ohne Übersetzung, Kontextualisierung und Interpretation auf das Heute übertragen wollen (Fuchs 2004). In der jüngeren Bibelwissenschaft wurden verschiedene alternative Auslegungstypen entwickelt, die von unterschiedlichen Standpunkten aus versuchen, zwischen den alttestamentlichen Gewalttexten, ihren antiken Entstehungskontexten und der heutigen Leserschaft zu vermitteln.
Textzentrierte Interpretationen nehmen ihren Ausgangspunkt an der literarischen Gestalt der Gewalttexte des Alten Testaments und betonen, dass es sich dabei immer um „eine sprachlich-mediale Inszenierung“ von Gewalt handelt (Bernhardt 2014, 16). Bei diesen Zugängen steht deshalb die Untersuchung philologischer, textpragmatischer oder narratologischer Aspekte im Vordergrund, wobei unter anderem auch die Metaphorik der Gewalttexte oder ihre Kommunikationssituation beziehungsweise Gattung (z.B. Rechtsfall, Klage, Beispielerzählung) analysiert wird (z.B. Michel 2003; Baumann 2006; Levenson 2014). Im Zuge einer solchen literarischen Analyse kann sich unter anderem zeigen, dass Gewalterzählungen auch warnende Negativbeispiele enthalten können oder dass manche vermeintlich universal gültigen Aussagen über Gewalt nur innerhalb des unmittelbaren erzählerischen Kontexts gelten, weshalb auch eine Deutung als Aufforderung zur Nachahmung von Gewalt nicht textgemäß wäre.
Eine etwas andere Richtung schlagen hermeneutische Zugänge ein, die in Aufnahme literaturwissenschaftlicher Theorien zu der Einsicht gelangen, dass alttestamentliche Gewaltdarstellungen auch subversive, gewalt- oder herrschaftskritische Aussageabsichten enthalten können. So wurde z.B. die gewaltvolle apokalyptische Sprach- und Bildwelt als Ausdruck einer Kritik an der Macht von Großreichen interpretiert (Portier-Young 2011), während das gewaltsame Ende der Estererzählung (Est 9,1-16
Stärker historisch ausgerichtete Auslegungsrichtungen widmen sich z.B. der religions- und traditionsgeschichtlichen Analyse alttestamentlicher Gewalttexte. Dabei zeigt sich unter anderem, dass die altorientalische Bild- und Sprachwelt großen Einfluss auf die Entstehung alttestamentlicher Gewaltdarstellungen hatte. Die Beschäftigung mit den kulturellen Hintergründen der alttestamentlichen Literatur leistet so einen wichtigen Beitrag zu einem vertieften Verständnis biblischer Gewalttexte. Ferner verweisen historische Arbeiten zum Alten Testament darauf, dass gewaltvolle Erzählungen wie z.B. die Darstellung der kriegerischen Eroberung des gelobten Landes in Jos 1-12 nicht als Berichte über realhistorische Ereignisse zu verstehen sind. Im Falle des Josuabuches sprechen archäologische Erkenntnisse dagegen, dass die geschilderten Kriegszüge sich tatsächlich so zugetragen haben, wie im biblischen Text beschrieben (Finkelstein / Silberman 2006). Die Forschung versucht deshalb zu klären, welche anderen Funktionen und Aussageabsichten diese Texte in ihrer Abfassungszeit gehabt haben können. So wurde vorgeschlagen, die Landnahmeerzählung als eine literarische Reaktion auf die kriegerische Gewalt zu interpretieren, die die Israeliten historisch durch das Großreich der Assyrer erfahren haben. Damit kann die Gewaltdarstellung des Josuabuches als eine Art „Gegenerzählung“ verstanden werden, „die die erfahrene assyrische Gewalt literarisch ausgleicht“ (Gaß 2013, 169).
Auch andere hermeneutische Zugänge fragen primär nach der kulturellen bzw. sozialpsychologischen Funktion und Wirkung von Gewalttexten. In diesem Zusammenhang ist besonders auf traumahermeneutische Ansätze (→ Trauma / Traumatheorie
Vergleichbare Interpretationen alttestamentlicher Gewalttexte wurden auch unabhängig vom Einfluss der Traumatheorie entwickelt. Zum Beispiel wurde die in den Klage- oder Feindespsalmen versprachlichte Hoffnung auf ein unter Umständen gewaltvolles Eingreifen Gottes als Ausdruck einer literarischen Bewältigungsstrategie von Gewalterfahrungen interpretiert (Zenger 1994, 129-163). Eine „Hermeneutik der Delegation“ ermögliche dabei ein alternatives Verständnis der Gewalt, insofern sich in diesen Texten „Trost und Hilfe dadurch einstellen, dass man die Vernichtung der Feinde, unter denen man abgrundtief leidet, Gott überlässt“ (Hieke 2014, 66). Eine solche Deutung lässt es zu, den alttestamentlichen Gewalttexten sogar das Potenzial zur Prävention von Gewalt bzw. zur Überwindung der zwischenmenschlichen Dynamik von Gewalt und Gegengewalt zuzusprechen.
In der hermeneutischen Diskussion wird schließlich auch auf die bleibende Notwendigkeit der Sachkritik verwiesen (Oeming 2005, 80-81). Eine kritische Auseinandersetzung mit biblischen Gewalttexten dürfe nicht dazu führen, die dargestellte Gewalt zu relativieren oder gar gutzuheißen. Im Gegenteil bringe die vertiefte Auseinandersetzung mit den Texten und ihren Entstehungskontexten auch die Verantwortung mit sich, aus der Geschichte zu lernen, um so jede Form des Unrechts oder der Gewalt (damals wie heute) benennen, hinterfragen und gegebenenfalls kritisieren zu können: „Gegen das Verschweigen erzählen schon die biblischen Schriften selbst, und gegen die Endgültigkeit der Gewalttat legen heutige Leserinnen und Leser die Texte aus“ (Müllner 1999, 74).
Literaturverzeichnis
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Abbildungsverzeichnis
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- Kain ermordet seinen Bruder (Rubens 1577-1640). Aus: Wikimedia Commons (public domain). Zugriff: 04.03.2021
- Die Eroberung von Lachisch und die Deportation der Einwohner (Relief aus Ninive 8. Jh. v. u. Z.). Aus: H. Gressmann, 2. Aufl., 1927, Altorientalische Bilder zum Alten Testament, Berlin / Leipzig, Abb. 141
- Schreitender Gott mit Waffe (Megiddo, Grab 4.; Bronze; 14.-12. Jh. v. u. Z.; H. 13 cm). Aus: O. Keel / Chr. Uehlinger, Götter, Göttinnen und Gottessymbole (QD 134), 5. Aufl., Freiburg 2001, Abb. 57; © Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz
- The Great Day of His Wrath (John Martin 1789-1854). Aus: Wikimedia Commons (public domain). Zugriff: 04.03.2021
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