Gier (AT)
(erstellt: April 2020)
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1. Wortbedeutungen
Das deutsche Wort „Gier“ geht auf mittelhochdeutsch gir[e], althochdeutsch girī zurück, eine Nominalbildung zu dem durch „gierig“ verdrängten Adjektiv mittelhochdeutsch gir, althochdeutsch giri „begehrend / verlangend“. Das Verb „gieren“ im Sinne von „heftig verlangen“ (14. Jh.), das nach heutigem Sprachgefühl auf „Gier“ zurückgehen müsste, ist vermutlich eine davon unabhängige Verbalbildung der Wurzel gern (Duden, 242). Die heute verbreitete Bedeutung des Wortes „Gier“ stammt erst aus dem 18. Jh. In seiner ursprünglichen Bedeutung entspricht es dem → „Begehren
Dazu heißt es im Deutschen Wörterbuch von Jacob Grimm: In alter Sprache meint gir „eine seelische grundkraft, ohne das gewicht auf eine besondere stärke des begehrens zu legen (…) mehr gelegentlich als ein verlangen allgemeinster art, fast soviel wie bedürfnis.“ … „der moderne intensive Gebrauch setzt reichlicher erst vom mittleren 18. Jh. an ein; … nunmehr bezieht sich das wort in weitem ausmasz in meist abschätziger Wertung auf bestimmte sachbereiche, besonders der besitzgier und des animalischen triebes (…); das legt nahe, hierin einen einflusz des nd. gīr zu suchen: dieses bedeutet gerade meist ‚habgier‛ und ‚geiz‛ und ihm steht auch das raffende und unmäszige, auch dumpfe, triebhafte, leidenschaftliche (gewissermaszen ‚mit aufgesperrtem rachen‛) in der modernen bedeutung von gier am nächsten.“ (DW Bd. 7 Sp. 7357-59)
Zur Differenzierung weist der Autor des Deutschen Wörterbuchs dem Begehren im Lateinischen die concupiscentia zu, der Gier die cupiditas; πλεονεξία pleonexia bezeichnet die unstillbare Gier (Busse, 322). Gesenius führt im Index seines Wörterbuchs (18. Aufl.) für Gier die hebräischen Äquivalente הַוׇּה hawwāh, נֶפֶֶשׁ næfæš, תַּאֲוָה ta’ǎwāh auf. Damit ist ein Großteil der Lexeme erfasst, die von deutschen Bibelübersetzungen mit „Gier“ und seinen Derivaten wiedergeben werden. Darüber hinaus gibt es eine Anzahl biblischer Passagen, die das thematisieren, was wir „Gier“ nennen, und dafür Narrative und Metaphern verwenden. Ein Spezialfall der Metapher ist die Prosopopöie (griech. προσωποποιία prosōpopoiía), mittels derer die Gier in mythischen Figuren ihr Gesicht erhält. Das Bild desjenigen, der den Hals nicht voll kriegen kann, illustriert in der Sprache der Gegenwart gierige Maßlosigkeit und findet in der Mythologie des Alten Orients bemerkenswerte Analogien. Vor diesem Hintergrund erlangt auch manch alttestamentlicher Text eine eindrucksvolle Deutung.
2. Eine religionsgeschichtliche Spur in Ugarit
Die im 14. Jh. v. Chr. geschriebenen und zwischen 1930-33 entdeckten sechs Tafeln des Baal-Zyklus (→ Baal
„… 5 Ich will dich gefangen setzen, ich werde dich verzehren in 6 blutigen Stücken von zwei Ellen! Du wirst hinabsteigen 7 in den Rachen des göttlichen Mot, in den 8 Schlund des Geliebten Els, des Helden.“ (Dietrich / Loretz, 1174)
Die gewaltigen Stücke von zwei Ellen zeigen die Größe des geöffneten Rachens bzw. die Gier, diese unzerkaut zu verzehren; die Betonung des Gierorgans wird durch den Parallelismus verdoppelt. In den folgenden Versen wird Mots Schlund als die schier entgrenzte Supermacht alles vernichtender Gier ins Bild gesetzt.
„… Mein Schlund ist der Rachen der Löwen 15 in der Wüste, ja, der Rachen des Wals (Hais, vgl. Gulde, 88) 16 im Meer. Siehe, 17 die Stiere (Büffel, vgl. Gulde, 88) jagen nach dem Teich, ›ja‹, die Hindinnen hetzen nach der Quelle. 18 Siehe, wahrlich, wahrlich mein Schlund verschlingt 19 Lehm (Esel, vgl. Gulde, 88), ja, wahrlich mit meinen 20 beiden Händen will ich essen! Siehe, meine sieben 21 Teile in der Schüssel, ja in meinem Becher wird ein Fluss gemischt!“ (Dietrich / Loretz, 1174f)
Die im Reich des Mythos gefräßigsten und durstigsten Vertreter dienen der Analogie unaufhaltbarer Bedürftigkeit, der rohe Zustand der Gierobjekte der Darstellung von Wahllosigkeit, die Portionenanzahl der Maßlosigkeit des Hungers. Mot ist in seiner unersättlichen, grenzenlosen Gier, sich Welt und Leben einzuverleiben, die Leben fressende Todesmacht, die nicht einmal vor den eigenen Geschwistern halt macht (KTU 1.6 VI,7+8), der Feind des Lebens.
Die im Mythos beschriebene Pattsituation setzt die Notwendigkeit der wechselseitigen Selbstbeschränkung (Xella, 292) beider Kräfte ins Bild. Sommerlicher Wassermangel, Hitze und Dürre erst machen das Reifen und die Ernte möglich, gleichwie Regen und Potenz für das Keimen der Saat und die Vermehrung des Viehs unverzichtbar sind. Mot, der „Gierig-Unersättliche, hat eine lebensdienliche Funktion und bleibt trotz dieser Funktion lebensfeindlich.“ (Döhling, 167)
3. Metaphern und Lexeme der Gier im Alten Testament
3.1. Die Bildwelt der Gier im Alten Testament
Metaphern der Gier begegnen auch im Alten Testament. Durch die Zeugnisse aus Ugarit wird eine Spur sichtbar, die den alttestamentlichen Bildern von der Gier der Feinde einen motivgeschichtlichen Kontext bietet. Die Gierigen verkörpern Lebensfeindlichkeit, sind Gefährder und potenzielle Vernichter des guten, toragemäßen Lebens. Der Aspekt der mythischen Meteorologie und des damit verbundenen lebensnotwendigen Zyklus von Werden und Vergehen im Kreis der Jahreszeiten tritt zurück. Das Motiv aus Ugarit wird entpersonalisiert und sozialkritisch transformiert. Die Gier begegnet in Bildern vom weit geöffneten Mund (פֶּה pæh), der Lippen (שְׂפָתַיִם śəfātajim), des Rachens (נֶפֶשׁ næfæš, גָּרוֹן gārôn), besonders des Schlingens (בלע bl‘, siehe dazu Döhling) und Verschlingens (שׂרב śrb Pu, להט lhṭ II). Vom Gebrauch der Giermetaphorik lässt sich paradigmatisch in der Erzählung von → Jakob
Entsprechend wird die Giermotivik in Num 16
3.2. „Gier“ in deutschen Bibelübersetzungen und ihre hebräischen sowie griechischen Äquivalente
Um dem Sachverhalt Rechnung zu tragen, dass das Wort „Gier“ in der heute geläufigen Bedeutung aus dem 18. Jh. stammt, werden in einem zweiten Gedankengang anhand von sieben ausgewählten Übersetzungen die hebräischen Lexeme vorgestellt, die mit „Gier“ übersetzt wurden (ELB = Elberfelderbibel, 2006; EIN = Einheitsübersetzung, 2017; GNB = Gute Nachricht Bibel, 1997; Hfa = Hoffnung für alle, 2015; LUT = Lutherbibel; NGÜ = Neue Genfer Übersetzung, 2000ff; ZÜR = Zürcher Bibel, 2007). Darüber hinaus gibt es Passagen im Alten Testament, die vom dem erzählen, was heute „Gier“ genannt wird, ohne dass die oben gezeigten Bilder oder eines der hebräischen Lexeme verwendet wären, wie z. B. Gen 34,2
- Ex 15,9
: נֶפֶשׁ næfæš, EIN, ELB, ZÜR; - Num 11,4.34
: הִתְאַוּוּ תַּאֲוָה hit’awwû ta’ǎwāh; קִבְרוֹת הַתַּאֲוָה qivrôt hatta’ǎwāh, EIN, ZÜR, Hfa; - Hi 38,39
: חַיַּת כְּפִירִים ḥajjit kefîrîm, ELB, ZÜR, GNB; - Ps 27,12
: נֶפֶשׁ næfæš, ELB, EIN, ZÜR; - Ps 41,3
: נֶפֶשׁ næfæš, ELB, EIN, ZÜR; - Ps 59,8
: erg. ohne Äquivalent Hfa; - Ps 78,30
: תַּאֲוָה ta’ǎwāh, EIN, ZÜR, Hfa, GNB, NGÜ; - Ps 106,14
: וַיִּתְאַוּוּ תַאֲוָה wajjit‘awwû ta’ǎwāh, ELB, ZÜR, Hfa, GNB, NGÜ; - Spr 6,30
: נֶפֶשׁ næfæš, LUT 2017+1984; - Spr 10,3
: הַוׇּה hawwāh, LUT 2017+1984, EIN, ELB, ZÜR, Hfa, GNB; - Spr 11,6
: הַוׇּה hawwāh, LUT 2017+1984, EIN, ELB, ZÜR, Hfa; - Spr 21,26
: הִתְאַוָּה תַאֲוָה hit’awwāh ta’ǎwāh, LUT 2017+1984, EIN; - Jes 57,5
: חמם ḥmm Nif, EIN; - Jer 51,39
: חמם ḥmm Qal, LUT 2017+1984, EIN, Hfa; - Ez 7,19
: נֶפֶשׁ næfæš, EIN, ELB; - Ez 16,27
: נֶפֶשׁ næfæš, ELB, ZÜR, GNB; - Ez 23: עַגְבָתׇהּ ‘agəvātāh (v. 11); עגב ‘gb Qal (v. 16.20); נֶפֶשׁ næfæš (v. 17), EIN in 10.16.20, Hfa in 16.17.20;
- Hos 8,13
: Wiedergabe der figura etym. der Wurzel זבח zbḥ mit „Gier“, LUT 2017, GNB; - Mi 7,3
: הַוׇּה hawwāh, ELB, Zür; - Sach 11,16
: erg. ohne Äquivalent Hfa, GNB; - Weish 19,11
: ἐπιθυμίᾳ epithymía, LUT 2017+1984, EIN, GNB; - Sir 6,2.4
: ἐν βουλῇ ψυχῆς σου en boulē psychēs sou; ψυχὴ πονηρὰ psychē ponērá, EIN - Sir 19,3
: ψυχὴ τολμηρά psychē tolmērá, EIN; - Sir 23,6
: ψυχῇ ἀναιδεῖ psychē anaideí, EIN; - Sir 23,17
(Lutherbibel: Sir 23,22 ): ψυχὴ θερμὴ psychē thermē, LUT 1984.
3.2.1. Grenzenloses Begehren
נֶפֶֶשׁ næfæš (→ Hals / Kehle / Person
Hingegen wird in vier Fällen Jhwh als Beschützer gegen die Gier von Feinden gerühmt oder angerufen (Ex 15,9
Ez 7,19
Die → Septuaginta
3.2.2. Potenziertes Begehren
3.2.2.1. Die Giergräber (Num 11). תַּאֲוָה ta’ǎwāh, das Begehren, Verlangen, der Wunsch hat seinen Gründungsmythos in Gen 3,6
3.2.2.2. Psalmen und Sprüche. Das Gieren nach den Fleischtöpfen Ägyptens bringt auch תַּאֲוָה ta’ǎwāh in Ps 78,30
Interessant ist, dass תַּאֲוָה ta’ǎwāh in Spr 21,25
3.2.3. Verhängnisvolles Verlangen
הַוׇּה hawwāh entspricht am ehesten dem deutschen Wort „Gier“. Der antithetische Parallelismus in Spr 10,3
3.2.4. Heißes Verlangen
Die EIN gibt in Jes 57,5
3.2.5. Sexuelles Verlangen
Die Allegorie von den zwei nymphoman dargestellten Schwestern (Greenberg) → Ohola und Oholiba
Literaturverzeichnis
1. Lexikonartikel
- Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bde. in 32 Teilbänden. Leipzig 1854-1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971 (Online-Version vom 25.03.2020) (= DW)
- Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Stuttgart u.a. 1973-2015
- Duden. Das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache. 2. Aufl., Mannheim u.a. 1989
- Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, 6. Aufl., München / Zürich 2004
- Herders Neues Bibellexikon, Freiburg u.a. 2008
2. Weitere Literatur
- Busse, U., 2011, Gier, Geiz und Gewinn. Lk 12,13-34[41-48], die Reichtumsparänese, in verschiedenen Kontexten, in: ders. / M. Reichardt / M. Theobald (Hgg.), Erinnerung an Jesus: Kontinuität und Diskontinuität in der neutestamentlichen Überlieferung (BBB 166), Göttingen, 309-330
- Dietrich, M. / Loretz, O., 2005, Mythen und Epen in ugaritischer Sprache (Bd. III/6), Gütersloh (TUAT CD-ROM)
- Döhling, J., 2013, Gott und die Gier: Altorientalisch-alttestamentliche Erkundungen eines aktuellen Begriffs, Biblica 94, 161-185
- Greenberg, M., 2005, Ezechiel 21-37 (HThKAT), Freiburg / Basel / Wien
- Gulde, S.U., 2007, Der Tod als Herrscher in Ugarit und Israel (FAT 2, 22), Tübingen
- Huizing, K., 2011, Gier!: Versuch einer Aushöhlung, NZSTh 53, 251-264
- Kessler, R., 2005, „Du sollst nicht begehren ...“. Kleine biblische Sozialgeschichte der Gier, in: ders., Studien zur Sozialgeschichte Israels (SBAB 46), 108-112
- Meinhold, A., 1991, Die Sprüche. Teil 1: Sprüche Kapitel 1-15 (ZBK.AT 16.1), Zürich
- Seebass, H., 1986, Art. נֶפֶֶשׁ næfæš, in: Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Bd. 5, Stuttgart u.a., 531-555
- Wolff, H.W., 2010, Anthropologie des Alten Testaments, hg. von B. Janowski, Gütersloh
- Xella, P., 1999, Die ugaritische Religion. Methodologische und kulturhistorische Betrachtungen, in: M. Kropp / A. Wagner (Hgg.), „Schnittpunkt“ Ugarit, Frankfurt u.a., 285-302
Abbildungsverzeichnis
- Der gierige Höllenschlund ist eine mittelalterliche Transformation der Vorstellung vom aufgerissenen Rachen der Scheol (Tympanonrelief am Freiburger Münster; 13. Jh.). Mit freundlicher Erlaubnis von © Jan Kühle
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