Deutsche Bibelgesellschaft

Girgaschiter

(erstellt: Mai 2022)

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1. Name und Herkunft

Mit den Girgaschitern wird im Alten Testament ein nichtisraelitischer kanaanäischer Stamm bezeichnet (Masoretischer Text: גִּרְגָּשִׁי girgāšî; LXX: Γεργεσαῖος Gergesaios; Vulgata: Gergesaeum). Er steht im Alten Testament an sieben Stellen: Gen 10,16; Gen 15,21; Dtn 7,1; Jos 3,10; Jos 24,11; Neh 9,8; 1Chr 1,14. Er begegnet dabei immer als Gentilicium Sg. m. + Artikel.

Im Ugaritischen erscheint grgš als Personenname bn grgš (UT 145:15) und als Ortsname grgš (UT 328:14; vgl. Benz 1972, 299). Eine genaue etymologische Ableitung ist bisher nicht gelungen. Das Nomen könnte mit gr „Fremdling, Schutzbefohlener“ zusammenhängen (Gröndahl 1967, 129), für gš / gs fehlt bisher eine semitische Etymologie. Steht vielleicht eine Genitivverbindung im Hintergrund: grgš = der Schutzbefohlene des ?

Ebenso bleibt die Frage nach der Herkunft der Girgaschiter umstritten. J.P. Brown bringt die Girgaschiter mit den im Reisebericht des Wenamun genannten ṯkr-Leuten in Verbindung. Hier heißt es „Ich gelangte nach Dor, einem Hafen der Siker“ (Weippert 2010, 216). In diesen Leuten erkennt Brown ein Seefahrervolk (→ Seevölker), das mit dem Schiff vom östlichen Mittelmeer aus nach Palästina gelangt sei. Diese „Teukrer“ verbindet Brown mit den Girgaschitern und sieht in ihnen eine Untergruppe der Teukrer. Dieser Identifikation hat M. Görg heftig widersprochen. Zum einen sei diese aus philologischen Gründen ausgeschlossen und zum anderen lassen alle Nachrichten über die Girgaschiter keinen Zusammenhang dieser Volksgruppe mit den Teukrern erkennen. Görg bringt die Girgaschiter mit der aus hethitischen Texten bekannten Region Karkiša in Kleinasien in Verbindung. Zudem sieht er sie im Zusammenhang mit dem aus ägyptischen Texten geläufigen Völkernamen qrqš. Die Präsenz der Girgaschiter in Palästina müsse im Übrigen nicht erst auf die Bevölkerungsmigrationen zurückgehen, die auf Druck der Seevölkerbewegungen im mediterranen Raum zustande gekommen seien, sondern könnte schon als eine Folgeerscheinung der Beziehungen Ägyptens mit dem Hethiterreich (→ Hethiter) im 13. Jh. v. Chr. betrachtet werden. Görg gesteht jedoch zu, dass diese These alles andere als sicher sei.

2. Der alttestamentliche Befund

Girgaschiter 01
Die Girgaschiter werden im Alten Testament ausschließlich in Listen zusammen mit anderen nichtisraelitischen kanaanäischen Völkern genannt (Abb. 1, vgl. Ishida 1979, 461-490, der auf die Girgaschiter jedoch nicht eingeht). Zweimal stehen die → Amoriter unmittelbar vor (Gen 10,16; 1Chr 1,14) und zweimal unmittelbar nach den Girgaschitern (Dtn 7,1; Jos 3,10). Dreimal stehen die → Hiwiter (Gen 10,16; 1Chr 1,14; Jos 24,11) und einmal die → Jebusiter (Gen 15,21) hinter den Girgaschitern. Jeweils einmal stehen die → Kanaanäer (Gen 15,21), → Perisiter (Jos 3,10) und Jebusiter (Neh 9,8) vor den Girgaschitern. Zweimal ist dies bei den Hethitern der Fall (Dtn 7,1; Jos 24,11). Jeweils zwei Texte sind aufeinander bezogen: 1Chr 1,14 rezipiert Gen 10,16 und Neh 9,8 nimmt Gen 15,21 auf. In Gen 10,16; 1Chr 1,14 und Gen 15,21 werden keine Gentilicia, sondern Orts- und Eigennamen genannt: Kanaan, → Sidon, Chet (Gen 10,16), Rephaim (Gen 15,21). In der Tabelle fällt das Nebeneinander von Kanaan (Gen 10,16; 1Chr 1,14) und Kanaanäer (Gen 15,21; Dtn 7,1; Jos 24,11; Neh 9,8) auf. Es fällt schwer, der Tabelle historische, geographische oder topographische Angaben entnehmen zu können.

2.1. Gen 10,16

Die Nennung der Girgaschiter fällt in den Abschnitt „Kanaan“, sie werden als Nachkommen bzw. zu Kanaan gehörige Gruppe angesehen (vgl. Gen 10,15-19). Folgende Volksgruppen werden genannt: Gen 10,15 a) Kanaan: Kanaan wird hier nicht aus der Sicht des Volkes Israel, sondern als Glied der Völkerfamilie gesehen; b) Sidon: die Stadt am Mittelmeer steht wohl für ganz Phönizien (vgl. 1Kön 16,31); c) Chet: sie sind mit den in Gen 15,20 genannten „Hethitern“ identisch und siedeln verstreut zwischen → Libanon, Antilibanon und Palästina. In Gen 10,16f werden Gentilicia aufgezählt: die Jebusiter, die Bewohner Jerusalems und Umgebung (Jos 15,8; Ri 1,21); die Amoriter, die Bewohner Mittelpalästinas (Dtn 1,44) bzw. die vorisraelitische Bevölkerung als ganze (Gen 15,16) und die Hiwiter bei Gibeon und Sichem (Jos 9,7; Jos 11,19). Damit ist die Liste der kanaanäischen Völker abgeschlossen. Es folgt eine Reihe von fünf phönizischen Städten (vgl. Gen 10,17b.18a).

Zusammenfassung: Nach Gen 10,16 sind die Girgaschiter ein kanaanäisches Volk der vorisraelitischen Bevölkerung Palästinas. Eine genaue geographische Zuordnung ist nicht möglich.

2.2. 1Chr 1,14

Gen 10,16 wird in 1Chr 1,14 aufgenommen: „[…] und den Jebusiter und den Amoriter und den Girgaschiter […].“ 1Chr 1,14 zählt zu der Beschreibung der Söhne Kanaans in 1Chr 1,13-15. Hier werden ähnlich wie in Gen 10,15-19 Sidon, Chet, Jebusiter, Amoriter und Hiwiter genannt. Es geht dem Chronisten in 1Chr 1 darum, den Bestand der sich auf der Erde ausbreitenden Völkerwelt zu beschreiben. Ebenso wie in Gen 10,16 werden die Girgaschiter als ein kanaanäisches Volk der vorisraelitischen und israelitischen Bevölkerung Palästinas angesehen. Aus 1Chr 1,14 lässt sich keine genauere geographische Zuordnung herauslesen.

2.3. Gen 15,21

Die Girgaschiter stehen hier im Kontext des Landes mitsamt seinen Volksgruppen. Es geht um den → Bund Jahwes mit Abram (→ Abraham). Inhalt und Ziel des Bundes ist die Landgabe an Abrams Nachkommenschaft. Der Umfang des Landes mitsamt seinen Volksgruppen wird auf folgende Weise umrissen: Westlichster Punkt wird der → Bach Ägyptens (Gen 15,18) und östlichster der → Euphrat sein (Gen 15,18). Im Anschluss daran werden zehn Volksgruppen genannt. Die Girgaschiter werden zusammen mit den Amoritern, den Kanaanäern und den Jebusitern erwähnt (Gen 15,21).

2.4. Dtn 7,1

In Dtn 7,1 findet sich eine Predigt, in der es um das künftige Verhältnis Israels zur kanaanäischen Landbevölkerung geht. Mit folgenden Völkern darf Israel in keinerlei Gemeinschaft treten: Hethiter, Girgaschiter, Amoriter, Kanaanäer, Perisiter, Hiwiter und Jebusiter. Diese sieben Völker wird Jahwe in die Hand Israels ausliefern (Dtn 7,1), und diese sollen von Israel „gebannt“ werden (Dtn 7,2). Dieses Bannen (→ Bann) ist als Übergabe an Jahwe zu verstehen. Das Verbot der Gemeinschaft mit den Kanaanäern heißt konkret, dass Israel sich nicht mit ihnen verschwägern darf. Auf diese Weise soll die Abkehr von Jahwe und die Hinwendung zu den fremden Göttern ausgeschlossen werden (Dtn 7,3f). Israel darf mit ihnen keinen Bund schließen.

2.5. Jos 3,10

Die Nennung der Girgaschiter in Jos 3,10 gehört in den Bericht des Zuges durch den → Jordan (Jos 3,3f). Hier wird Israels Übergang aus der Wüste ins Land beschrieben. Josua teilt den Israeliten das Wort Jahwes mit. Es enthält die Mitteilung der Vertreibung von sieben Völkern: Kanaaniter, Hethiter, Hiwiter, Perisiter, Girgaschiter, Amoriter und Jebusiter.

2.6. Neh 9,8

Der Vers gehört zu dem in Neh 9,5-37 greifbaren Gebet Nehemias. Dieses ist deutlich gegliedert: Neh 9,6-31 die Schuld der Väter; Neh 9,32-37 der Blick in die Gegenwart. In Neh 9,8 wird der von Jahwe erwählte Abraham genannt, mit dem Jahwe einen Bund schloss und ihm das Land der Kanaaniter, Hethiter, Amoriter, Perisiter, Jebusiter und Girgaschiter schenkte. Neh 9,8 bezieht sich inhaltlich auf Gen 15,18-21 (Bundesschluss und Landverheißung) zurück. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Bußgebet als bereits formulierter Text aus einer Sammlung von liturgischen Texten zur Feier des Bundeserneuerungsfestes stammte.

3. Girgaschiter im Neuen Testament – Lukas 8,26?

In der Heilungsgeschichte des besessenen Geraseners (Lk 8,26-39; Mt 8,28-34; Mk 5,1-20) wird in Lk 8,26; Mk 8,1 das Gebiet der Gerasener genannt: τὴν χώραν τῶν Γερασηνῶν tēn chōran tōn Gerasēnōn. Lässt sich dieses Gebiet mitsamt seinen Bewohnern mit den „Girgaschitern“ in Verbindung bringen? Mk 5,1; Lk 8,26 schreiben nach den besten Textzeugen „vom Gebiet der Gerasener“. Sie meinen damit das zur → Dekapolis gehörende Gerasa, ca. 50 km südöstlich des → Sees Genezareth im Ostjordanland. Mt 8,28 spricht vom „Gebiet der Gadarener“: τὴν χώραν τῶν Γαδαρηνῶν tēn chōran tōn Gadarēnōn. Matthäus meint offenbar die Stadt Gadara, die ebenfalls zur Dekapolis gehört und ca. 10 km vom Südende des Sees Genezareth entfernt ist. Origenes hat die Lesart „Gergesa“ Γεργεσά vertreten und von einer „alten Stadt“ mit einem Felsabsturz zum See hin gesprochen (Origenes, comm. in Joh 7,41 §§ 208-211). Euseb bezeichnet „Gergesa“ als „Dorf auf einem Berg am See von Tiberias“ (Euseb, Onomasticon, 74; Eusebs Onomastikon).

Die Textüberlieferung ist höchst unsicher. Offenkundig war der Ort „Geresa“ nicht mehr bekannt, weshalb man es mit dem bekannten Gerasa verwechselt hat. Die Unsicherheiten der Textüberlieferung lassen es deshalb als ratsam erscheinen, Lk 8,26 und Parallelen mit der Nennung des Geraseners nicht mit den Girgaschitern in Verbindung zu bringen. Für diese These spricht auch, dass die Girgaschiter im Alten Testament nie mit dem Ostjordanland, sondern deutlich mit dem Westjordanland in Verbindung gebracht werden.

4. Fazit

Mit den Girgaschitern wird im Alten Testament (Gen 10,16) ein nichtisraelitischer kanaanäischer Stamm der vorisraelitischen und israelitischen Bevölkerung Palästinas bezeichnet. Der Name begegnet dabei immer als Gentilicium Sg. m. + Artikel. Eine genaue etymologische Ableitung ist bisher nicht gelungen. Ebenso bleibt die Frage nach der Herkunft der Girgaschiter umstritten. Ihre Herleitung aus dem ägyptischen oder hethitischen Raum bleibt höchst unsicher. Die Girgaschiter begegnen im Alten Testament ausschließlich im Kontext der Völkerlisten zusammen mit folgenden Völkern bzw. Volksgruppen: Amoriter, Hiwiter, Jebusiter, Kanaanäer, Perisiter, Hethiter und Arkiter. Nach Dtn 7,1 darf Israel keine Verschwägerung mit den Girgaschitern eingehen. – Es ist angesichts der unsicheren Textüberlieferung schwerlich möglich, Lk 8,26 und Parallelen mit der Nennung des Geraseners mit den Girgaschitern in Verbindung zu bringen, denn diese werden im Alten Testament immer im Westjordanland lokalisiert.

Literaturverzeichnis

  • Benz, F.L., 1972, Personal Names in the Phoenician and Punic Inscriptions (Studia Pohl 8), Rom
  • Bovon, F., 1989, Das Evangelium nach Lukas (Lk 1,1-9,50), EKK III/1, Zürich u.a.
  • Brown, J.P., 1981, The Mediterranean Seer and Shamanism, ZAW 93, 374-400
  • Delekat, L., 1962, Girgasiter, in: B. Reicke / L. Rost (Hgg.), Biblisch-Historisches Handwörterbuch, Bd. 1, Göttingen, 573
  • Eusebius, 1904, Das Onomastikon der Biblischen Ortsnamen, hg. v. E. Klostermann, Leipzig (Nachdruck Hildesheim 1966)
  • Görg, M., 1989, Dor, die Teukrer und die Girgasiter (1985), in: ders., Beiträge zur Zeitgeschichte der Anfänge Israels. Dokumente – Materialien – Notizen (Ägypten und Altes Testament 2), Wiesbaden, 141-148
  • Görg, M., 1991, Girgaschiter, in: ders. / B. Lang (Hgg.), Neues Bibel-Lexikon, Bd. 1, Zürich, 849
  • Gordon, C.H., 1965, Ugaritic Textbook (AnOr 38), Rom (Revised Reprint 1998) (UT)
  • Gröndahl, F., 1967, Die Personennamen der Texte aus Ugarit (Studia Pohl 1), Rom
  • Ishida, T., 1979, The Structure and Historical Implications of the Lists of Pre-Israelite Nations, Biblica 60, 461-490
  • Origenes, 1903, Werke, Bd. 4: Der Johanneskommentar, hg. v. E. Preuschen (GSC 10), Berlin
  • Origène, 1970, Commentaire sur Saint Jean II (Livres VI et X), hg. v. C. Blanc (SC 157), Paris
  • Simons, S.J., 1959, The Geographical and Topographical Texts of the Old Testament. A Concise Commentary in XXXII Chapters, Leiden
  • Weippert, M., 2010, Historisches Textbuch zum Alten Testament (Grundrisse zum Alten Testament 10), Göttingen

Abbildungsverzeichnis

  • Die Girgaschiter in den Völkerlisten des Alten Testaments.

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