Gnade / Barmherzigkeit
(erstellt: September 2019)
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Die deutschen Begriffe „Barmherzigkeit“, „Gnade“ und „Erbarmen“ geben das hebräische Lexem חֶסֶד ḥæsæd sowie die beiden Wurzeln רחם rḥm und חנן ḥnn samt ihren Derivaten wieder. Dabei lässt sich keine eindeutige Zuordnung vornehmen, da die Lexeme im Hebräischen vielfach synonym verwendet werden. Die deutschen Begriffe besitzen ebenfalls Bedeutungsüberschneidungen, so dass sich sowohl im Hebräischen als auch im Deutschen ein Begriffsfeld mit Bedeutungsnuancen ergibt.
1. Gnade / Barmherzigkeit in der Umwelt des Alten Testaments
In den Nachbarkulturen des Alten Israels finden sich mehrere Begriffe, die vergleichbare Phänomene bezeichnen. Das akkadische enēnu A bedeutet wie חנן ḥnn Hitp. „um Gnade / Barmherzigkeit bitten / flehen“ und besitzt damit einen Anrufungscharakter (CAD IV, 162-164; AHw I, 217). enēnu C entspricht hebr. חנן ḥnn Qal „eine Gunst erweisen“. Als enēnu D (EA 137,81; 253,54) wird in Bittschreiben das „Erbarmen“ eines Königs / Fürsten formelhaft bezeichnet. Von diesem Begriff abgeleitet wird das Nomen ennanātu „Gnade / Gunst / Erbarmen“; CAD IV, 168-170).
In den westsemitischen Sprachen ist die Wurzel חנן ḥnn ebenfalls belegt. Im Ugaritischen (→ Ugarit
Wie hebräisch רֶחֶם ræḥæm bedeutet akkadisch rêmu sowohl „Mutterleib“ als auch „Erbarmen“, und dem hebräischen Verb רחם rḥm entspricht akkadisch râmu / rêmu „ergeben / zugetan / treu / gnädig sein“ (AHw 951f.970f.). Diese Bedeutung trägt rḥm auch im Ugaritischen (hier als Eigenname KTU 1 23,13.16.28; 1 15,II,6) und Phönizischen („Mutterschoß“, KAI 27,23). Auch im Moabitischen ist die Wurzel belegt, wobei in KAI 200,13f. eine Konjektur nötig ist, um rḥm „Gnade“ lesen zu können (zum Gesamten vgl. Healy 1998, 349-354).
2. Gnade / Barmherzigkeit im Alten Testament
2.1. Ursprung der alttestamentlichen Vorstellung
Der Ursprung der alttestamentlichen Vorstellung von Gnade / Barmherzigkeit wird entweder aus dem Sozial- bzw. Rechtssystem Israels oder aus der Gottesvorstellung abgeleitet. Im Zuge formgeschichtlicher Studien und der aus diesen resultierenden Sozialgeschichte Israels legte Nelson Glueck 1926 (veröffentlicht 1927) eine Dissertation zur Bedeutung des Begriffs ḥæsæd im Alten Testament vor, in der er die These vertritt, dass mit dem Terminus ein Rechte- und Pflichtenverhältnis beschrieben wird, das dazu dient, die eigene Sozialgruppe (Familie, Stamm) zu schützen. Seinem Wesen nach ist „Gnade / Barmherzigkeit“ ein gemeinschaftsförderndes Verhalten, das respondierend ist (Gen 21,23
Gnade / Barmherzigkeit kann aber auch als voraussetzungslose Verhaltensweise erfahren werden. Als solche bezeichnen sie ein Entgegenkommen, das situationsspezifisch oder aufgrund der sozialen Rollen nicht erwartet werden kann. Die Texte, die ein solches Verhalten beschreiben, führen Stoebe (1952, 244-254) und in seiner Folge auch Kellenberger (1982, 185) und Clark (1993, 267) zu der These, dass der Ursprung dieses Verhaltens im Gottesbild zu suchen ist. Gott wird als „barmherzig / gnädig“ erfahren. Sein Verhalten wird zum Vorbild menschlicher Handlungen. „Wo Menschen von Gottes חֶסֶד umgeben sind, darf von ihnen Hingabe an Gott und Güte untereinander erwartet werden (Hos 6,4.6; Mi 6,8)“ (Spieckermann 2000, 1024). Für diese These spricht, dass Gnade / Barmherzigkeit als Wesenszug im Mesopotamischen nur von Gottheiten ausgesagt wird, während von Menschen allein einzelne Handlungen als solche beschrieben werden (Franz 2003, 76). Die Diskussion um den Ursprung von Gnade / Barmherzigkeit verdeutlicht, dass im Alten Testament Gottesbild und Ethik korrelieren. Einen Rückschluss auf einen Bedeutungsursprung, wie er in der Forschung gesucht wurde, lassen die alttestamentlichen Schriften jedoch nicht zu.
2.2. Gnade / Barmherzigkeit unter Menschen
Das innerhalb der Sozialgemeinschaft respondierende Verhalten, das auf gegenseitiger Hochschätzung basiert (Zobel 1982, 52f), wird im Alten Testament vor allem in Erzählungen zum Ausdruck gebracht, in denen Kontingenzerfahrungen sichtbar werden (Janowski 2019, 195f). Der etymologisch begründete Zusammenhang von Physis und Emotion, wie er an der Verwendung von רחם rḥm „barmherzig / gnädig sein“ und רֶחֶם ræḥæm „Mutterleib“ besteht, wird motivisch auf die Sozialgemeinschaft übertragen, die metaphorisch als Körper verstanden wird (Dietrich 2015, 228). Wie in der Psalmensprache (s.u. 2.3.) wird in der → Weisheit
Das mit Gnade / Barmherzigkeit einhergehende Ideal der israelitischen Sozialkörper (Familie, Stamm) zielt auf einen dauerhaften Bestand der Gruppe in allen ihren Einzelbezügen (physische, soziale und moralische). Während die „Rechtssprüche“ (מִשְׁפָּטִים mišpāṭîm) einen rechtlichen Charakter besitzen und damit justiziabel sind (→ Recht
Im Gastrecht erhalten Barmherzigkeit und Gnade einen Schutzcharakter. Sie können sowohl vom Gastgeber als auch vom Gast gewährt werden. Dabei wird sichergestellt, dass die eine Seite von der anderen weder physisch noch materiell geschädigt wird.
2.3. Gnade / Barmherzigkeit Gottes
Der Gott des Alten Testaments wurde in der Rezeption alttestamentlicher Texte in der christlichen Theologie lange Zeit einseitig als zorniger Gott verstanden, der im Neuen Testament dann als gnädiger Gott erscheint (→ Gottesbild
Die Erwartung göttlicher Zuwendung wird nicht nur in Gebeten, sondern auch in Eigennamen ausgedrückt (→ Name / Namensgebung
In den Erzählungen des Alten Testaments kann Gottes Handeln als gnädiges / barmherziges dargestellt werden, ohne dass der eigentliche Akt der Gnade / Barmherzigkeit als solcher bezeichnet wird. Schon in der → Urgeschichte
Schließlich wird Gottes Gnade / Barmherzigkeit auch von den Propheten betont. Während in der vorexilischen → Eschatologie
Außerbiblisch ist die Vorstellung der Gnade / Barmherzigkeit einer Gottheit in der akkadisch-altaramäischen Steleninschrift von Tell Feḫerīje (Koordinaten: N 36° 50' 30'', E 40° 04' 12''
Die Erfahrung heilvoller göttlicher Zuwendung wird in exilisch-nachexilischer Zeit (Sackenfeld 1978, 235f) in der → Gnadenformel
Die Gnadenformel wird innerhalb des Alten Testaments an verschiedenen Stellen wieder aufgenommen (Jos 2,13
Literaturverzeichnis
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Abbildungsverzeichnis
- Bei der Eroberung einer Stadt durch assyrische Truppen flehen die Bewohner, wie die Armhaltung der auf den Türmen stehenden Repräsentanten zeigt, um Gnade (Zentralpalast von Kalchu; um 730 v. Chr. (BIBEL+ORIENT Datenbank Online
). © Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz
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