Gräuel
(erstellt: November 2016)
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Das deutsche Wort „Gräuel“ bezeichnet etwas Abscheuliches, z.B. eine abscheuliche Tat. In deutschen Bibelübersetzungen gibt „Gräuel“ den hebräischen Begriff תּוֹעֵבָה tōʽevah wieder, der im Alten Testament 117-mal vorkommt. Er ist ein Gegenbegriff zu רָצוֹן rāṣôn „Wohlgefallen“ (→ Wohlgefallen
„Gräuel“ kennzeichnet – auch emotional verstärkt – die Handlungen, Sachen, Personen, Einstellungen und Fremdgötter, die JHWH und / oder seinem Volk ihrem Wesen nach widersprechen. Dabei zeigt sich ein in einzelnen Textbereichen spezifischer Gebrauch: „Gräuel“ bezeichnet Handlungen, die die Familienstruktur sowie den gesellschaftlichen Zusammenhang gefährden und von denen sich die Israeliten deshalb abgrenzen sollen (Heiligkeitsgesetz). Weiterhin qualifiziert „Gräuel“ solche Praktiken, Personen und Zustände, die der Einzigkeit JHWHs bzw. dem Wesen seines „heiligen Volkes“ (→ Volk
1. „Gräuel / Abscheu“ in der Umwelt des Alten Testaments
Der Gedanke, dass eine Person, Sache oder Handlung abgelehnt bzw. sich davon distanziert wird, findet sich auch in der Umwelt des Alten Israel, wenn auch mit anderer Terminologie. So werden im Alten Ägypten Lüge, Usurpation, aber auch bestimmtes Essen verabscheut bzw. ein „Abscheu“ genannt (vgl. Assmann, 142-146), wobei ein besonderes Augenmerk auf unsolidarischem Kommunikationsverhalten liegt, wie die Lüge oder der Aufruhr, der die politische Ordnung gefährdet (sowohl für andere Menschen wie auch für Götter, vgl. Assmann, 157-159.201-212[212!]). In Weisheitstexten, wie der → Lehre des Amenemope
In Mesopotamien kann mit äquivalenten Worten, wie bes. akkadisch ikkibu(m), die Abscheu vor anderen Menschen oder auch Göttern ausgedrückt sein, insbesondere vor Handlungen, die Menschen oder Götter nicht tun sollen. Dazu zählen das Essen bestimmter Speisen, kultische Vergehen (z.B. Betreten eines Kultortes trotz Unreinheit; Gegenwart eines Schweines) und ethisches Fehlverhalten (Lüge, Diebstahl etc.; vgl. DAC I/J 55-57 und die Auswahl der Beispiele bei Preuß, 589-590).
2. „Gräuel / Abscheu“ im Alten Testament
Auch im Alten Testament begegnet der Begriff „Gräuel“ bzw. „Abscheu“ in sehr unterschiedlichen Kontexten. Eine einlinige Ableitung aller Verwendungsweisen aus ein und demselben Kontext, etwa aus dem Kult (z.B. Wildberger, 36; Meinhold 1990, 87) oder – so im Blick auf die Wendung „Gräuel für JHWH“ – aus der Weisheit (so Weinfeld, 296-297), ist angesichts der ganz verschiedenen Verwendungsweisen auch innerhalb eines Textbereiches wenig wahrscheinlich. Der folgende Überblick über Vorkommen von „Gräuel“ orientiert sich vor allem an deren gehäuftem bzw. hervorgehobenem Gebrauch in spezifischen Textbereichen. Sie werden hier in der kanonischen Reihenfolge der Hebräischen Bibel präsentiert, wenngleich der Bereich der alttestamentlichen Weisheit eine hervorgehobene Stellung hat. Denn in der → Weisheit
2.1. „Gräuel“ im Heiligkeitsgesetz (Lev 17-26)
Der Begriff „Gräuel“ kommt im sogenannten → „Heiligkeitsgesetz“
So sind die Sexualbestimmungen in Lev 18,19-23
2.2. „Gräuel“ im Deuteronomium und davon beeinflusster Literatur
Im → Deuteronomium
In Dtn 12,31
Dtn 13,15
Die affektive Ablehnung der Bewohner des Landes, die „Gräuel“ verüben und fremde Götter anbeten, wird in Dtn 14,3
Wie in Dtn 14,3
In Dtn 18,9.12
Das Verbot des Kleidertausches in Dtn 22,5
Die Ablehnung der sogenannten „Qedeschen“ in Dtn 23,18-19
Dtn 24,4
In Dtn 25,16
Außerhalb des Gesetzeskorpus wird die Qualifizierung als „Gräuel“ in wenigen, aber für das Deuteronomium markanten Textbereichen ausschließlich auf die Fremdvölker und ihre Kultpraktiken bzw. den → Abfall
In Dtn 7,25-26
Diese Qualifikation des Abfalls zu fremden Göttern bzw. der Kultpraktiken fremder Völker als „Gräuel“ findet sich dann auch in vom Deuteronomium abhängigen bzw. beeinflussten Textbereichen des Alten Testaments: Die „Gräuel“ der Völker waren der Grund für deren Vertreibung aus dem Land Kanaan (1Kön 14,24
2.3. „Gräuel“ im Buch Ezechiel
Das → Ezechielbuch
2.4. „Gräuel“ im Buch der Sprüche
Im → Sprüchebuch
Einstellungen, die als „Gräuel“ bzw. „Gräuel für JHWH“ qualifiziert werden, beinhalten z.B. die „verschlagenen Herzen“ (Spr 11,20
Im Sprüchebuch taucht neben der allgemeinen Qualifikation als „Gräuel“ auch die Formel „Gräuel für JHWH“ auf (vgl. Spr 11,1.20
Steht im Sprüchebuch die Verwendung von „Gräuel“ für Abgrenzung und Tadel von asozialen Einstellungen und Handlungen, so ist dieser Gebrauch im Zusammenhang mit der Erziehungsrhetorik nicht gegen den Verweis auf Vergeltung und den Zusammenhang von Tun und Ergehen auszuspielen (gg. Clements, 224-225). Vielmehr ist der Tadel gemeinsam mit dem „Tun-Ergehen-Zusammenhang“ Ausdruck der „Verfugung“ aller Vollzüge (Assmann, 58-69 u.ö.; vgl. auch Janowski 2013, 138), die in ihrem Zusammenspiel die „Weltordnung als Gerechtigkeit“ (Assmann, 34) erhalten und ermöglichen: Der „Zusammenhang von Tun und Ergehen“ verknüpft Handlungen, wobei jedes Handeln ein „füreinander Handeln“ ist und dem, der Gutes tut, auch Gutes widerfahren soll (vgl. Assmann; Janowski 1999; als kurzer Überblick: Janowski 2013, 138). Mit der Rede vom „Gräuel“ bzw. „Gräuel für JHWH“ wird im Sprüchebuch die Verknüpfung von „Haltungen“ angesprochen: auf eine unsoziale Einstellung, wie dem Hochmut (Spr 16,5
Insofern thematisiert bzw. problematisiert die Rede vom „Gräuel / Gräuel für JHWH“ im Sprüchebuch die Handlungen und Haltungen bzw. Intentionen, die nicht gerichtlich sanktionierbar waren, die aber als Entzug von Anerkennung in der Erziehungsrhetorik des Sprüchebuches zur Erhaltung der „Weltordnung als Gerechtigkeit“ beitragen sollen.
2.5. Weitere Vorkommen von „Gräuel“ in Erzähltexten und Prophetenbüchern
Wenn man sich die starken Komponenten von „Abgrenzung“ und emotionaler Abscheu im Begriff des „Gräuel“ bewusst macht, verwundert es nicht, dass der Begriff auch in Erzähltexten eine Rolle spielt, die von Identität und Konfrontation handeln: Neben den Viehhirten (Gen 46,34
Weiter ist von „Gräuel“ bei den Propheten angewandt auf andere Götter die Rede, so im Rahmen der Gerichtsszene in Jes 41,24
Eine überraschende und sehr effektive Verwendung von „Gräuel“ begegnet in Jes 1,15
Ist mit dem Deuteronomium und davon beeinflussten Texten vorausgesetzt, dass andere Völker „Gräuel“ begehen (siehe oben), so stellt nach Mal 2,11
Literaturverzeichnis
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Abbildungsverzeichnis
- Gewichtssteine aus der Eisenzeit für die sogenannte Tellerwaage; sie waren oft mit ihrem Maß beschriftet. © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
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