Deutsche Bibelgesellschaft

Grotius, Hugo

(1583-1645)

(erstellt: Juni 2017)

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Grotius, Hugo 1
Der Artikel beschäftigt sich mit Hugo Grotius als Bibelwissenschaftler (vgl. dazu auch Kraus 3. Aufl. 1982, 50-53; Graf Reventlow 1997, 211-225; Nellen 2008). Grotius wird insbesondere auf Grund seines großen Kommentarwerks, den Annotationes zum Alten und Neuen Testament, „in der Vorgeschichte der historisch-kritischen Forschung am Alten Testament (…) eine hervorragende Stellung“ zuerkannt (Kraus 3. Aufl. 1982, 50); ihm wird sogar zugeschrieben, „die Grundlage für die moderne Bibelwissenschaft überhaupt“ gelegt zu haben (Hoenderdaal 1983, 57). Anders als seine altprotestantisch-orthodoxen Zeitgenossen betrachtet Grotius nicht die ganze Bibel als verbalinspiriert, sondern behandelt den größten Teil der biblischen Texte als Geschichtsschreibung oder Weisheitsliteratur, die mit entsprechender antiker Literatur verglichen und methodisch ebenso behandelt werden kann wie diese. Von daher enthalten die Annotationes für die damalige Zeit beachtliche historisch-kritische Einsichten.

Grotius’ Beitrag zur biblischen Exegese und Hermeneutik wird jedoch zu einseitig beurteilt, wenn man ihn nur als Vorläufer oder Initiator einer historisch-kritischen Auslegung der Bibel sieht (vgl. dazu auch die Kritik an Kraus bei Reiser 2007, 10). Sein bibeltheologischer Ansatz und sein exegetisches Wirken sind im Horizont einer konfessionsübergreifenden Erforschung und Verteidigung der Grundlagen des christlichen Glaubens zu verstehen. Der Artikel wird daher nach einem biographischen Abriss (1.) Grotius’ Auffassungen zur Einheit des christlichen Glaubens und seiner Begründung im Gegenüber zu anderen Religionen (2.) sowie seine Auffassungen über Glaubwürdigkeit und Bedeutung der Bibel skizzieren (3.). Zu diesen Themen ist Grotius’ Schrift De veritate religionis christianae zu berücksichtigen. Anschließend sollen exemplarisch exegetische und hermeneutische Einsichten aus den Annotationes vorgestellt werden (4.), um abschließend Grotius’ Beitrag zum Bibelverständnis zu würdigen (5.).

Eine umfassende Würdigung der theologischen Arbeit von Grotius liegt außerhalb der Möglichkeiten des vorliegenden Artikels, vgl. dazu Schlüter (1919); Nellen / Rabbie (Hgg.) (1994); Bultmann (2014); Mortimer (2014); auch Mühlegger (2007) mit ausführlichem Forschungsbericht (a.a.O. 6-82).

1. Biographischer Abriss

Zu Grotius’ Biographie vgl. die umfassendere Darstellung von Hoenderdaal (1983); auch Graf Reventlow (1997), 211-216. Zu den politischen und religiösen Auseinandersetzungen in den Niederlanden, in die Grotius verwickelt war, vgl. Lademacher (1993), 246-255; Koch (2000), 145-157.

Huig(h) de Groot – latinisiert Hugo Grotius – wurde am 15. April 1583 in Delft geboren. 1594 begann der Elfjährige ein Studium in Leiden, wo er sich der Philosophie, Philologie und Rechtswissenschaft widmete, aber auch theologische Vorlesungen hörte. Zu den prägenden Lehrern gehörte J. Scaliger, einer der führenden Philologen, bei dem Grotius die wissenschaftliche Erschließung antiker Texte lernte, was sich in seinen exegetischen Arbeiten durchgehend niederschlägt. Ein anderer akademischer Lehrer war der um den Ausgleich der Konfessionen bemühte Theologe F. Junius d. Ä.

Grotius wurde früh mit dem Geist des Humanismus vertraut. Erasmus von Rotterdam gilt als sein wichtigstes geistiges Vorbild. Auch kam er früh mit führenden Kreisen der niederländischen Politik in Kontakt. Zu den prägenden Vorbildern seiner eigenen Lebenszeit zählt der „Ratspensionär“ (zuvor „Landesadvokat“ = juristischer Berater, dessen Amt zu einer politischen Führungsposition geworden war) der Provinz Holland (später von Holland und Seeland), J. Oldenbarnevelt. Dieser ermöglichte dem fünfzehnjährigen Grotius die Teilnahme an einer holländischen Gesandtschaft nach Frankreich, wo Grotius in Orléans zum Doktor der Rechte promovierte (1599). Anschließend nahm Grotius verschiedene juristische und politische Ämter in den Niederlanden wahr (1599 Staatsanwalt am Provinzgericht von Holland, später am obersten Gericht der Provinzen Holland und Seeland in Den Haag; 1613 Ratspensionär in Rotterdam).

Die Zeit war nicht nur vom Befreiungskampf der Niederlande gegen die Spanier bestimmt, sondern auch durch religiöse Unruhen, insbesondere den Streit zwischen Arminianern („Remonstranten“) und orthodoxen Calvinisten (zu den theologischen und politischen Streitpunkten vgl. Hoenderdaal 1979; Kaufmann 1998). Dazu kamen die Auseinandersetzungen zwischen Grotius’ Mentor Oldenbarnevelt und Moritz von Oranien, dem Statthalter der niederländischen Provinzen (mit Ausnahme Frieslands) und Sohn Wilhelms von Oranien. In diesem Streit ging es um die künftige politische Verfassung der Niederlande: föderative Republik (Oldenbarnevelt) oder zentralisierter Staat (Moritz). Der religiöse und politische Gegensatz verband sich mit der Frage der Bekenntnisfreiheit der Remonstranten: Während Oldenbarnevelt für ein nach Provinzen gegliedertes Landeskirchentum plädierte, das in Holland wohl den Remonstranten eine Mehrheit gesichert hätte, wollte Moritz von Oranien im Sinne einer politischen Annäherung an England in den ganzen Niederlanden den orthodoxen Calvinismus durchsetzen. Der Streit eskalierte an der Frage, ob einzelne Städte bewaffnete Mannschaften aufstellen sollten, um religiöse Unruhen und Sondergottesdienste zu verhindern. Diese von Oldenbarnevelt befürwortete Maßnahme hätte zur Existenz bewaffneter Einheiten geführt, die nicht dem Kommando des Statthalters unterstanden, und wurde daher von Moritz als Hochverrat gewertet. Oldenbarnevelt wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet. Grotius, der Oldenbarnevelts Position juristisch verteidigt hatte, wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, die er seit 1619 im Hausarrest auf der Wasserburg Schloss Loevestein verbrachte. 1621 gelang es Grotius, der im Arrest mit Lektüre versorgt wurde, in einer Bücherkiste aus der Burg zu schmuggeln. Er ließ sich als Pensionär des französischen Königs in Paris nieder. 1631/32 kehrte er nach Holland zurück in der vergeblichen Hoffnung, sich nach dem Tod Moritz’ von Oranien (1625) dort wieder niederlassen zu können. Als ein zweiter Haftbefehl gegen ihn erlassen wurde, floh Grotius nach Deutschland, wo er das Angebot des schwedischen Kanzlers A. Oxenstierna annahm, als schwedischer Gesandter nach Paris zurückzukehren. Schweden und Frankreich waren im Dreißigjährigen Krieg Verbündete. Grotius reiste 1645 nach Stockholm, um der Königin Christine seinen Abschied als Gesandter anzubieten. Das Angebot, als Gelehrter am schwedischen Hof zu bleiben, lehnte er ab. Auf der Rückreise erlitt er an der pommerschen Ostseeküste Schiffbruch, reiste krank nach Rostock weiter, wo er am 28. August 1645 starb. Die zu Lebzeiten verwehrte Rückkehr nach Holland wurde dem toten Grotius gestattet: Wie sein Gegner Moritz von Oranien wurde er in der Nieuwe Kerk seiner Geburtsstadt Delft beigesetzt, in der bereits Wilhelm von Oranien bestattet worden war und bis heute die meisten Mitglieder der niederländischen Königsfamilie.

2. Die Begründung des christlichen Glaubens

Grotius war auf Grund seiner juristischen und politischen Ämter in den Niederlanden und als schwedischer Gesandter in Frankreich in die religiösen und politischen Auseinandersetzungen seiner unfriedlichen Zeit verstrickt. Die Begründung und der Erhalt von Frieden, Freiheit und Rechtssicherheit wurden ihm so zum Lebensthema. Sein juristisches Hauptwerk De iure belli ac pacis (1622-1624 in Paris verfasst) legt „die Grundlagen für die moderne, systematische Völkerrechtslehre“ und „für die moderne, humanistische Naturrechtslehre“ (v. Eikema Hommes 1986, 57). Obwohl auch Grotius’ juristisches Denken theologische und bibelhermeneutische Implikationen enthält (Ertz 2014, v.a. 93-133), ist es nicht Gegenstand des vorliegenden Artikels.

Angesichts seiner zeitgeschichtlichen Erfahrungen erschien Grotius auch die Uneinigkeit zwischen den Konfessionen als „a disease like cancer“ (Heering 1994, 49), so dass auch seine theologischen Arbeiten durch einen irenischen Zug bestimmt sind, der das allen Konfessionen Gemeinsame betont. In diese Richtung weist schon seine humanistische Prägung, die ein weniger dogmatisch als ethisch bestimmtes Christentum begründete (vgl. Schlüter 1919, 3-13; zu Recht und Grenze von Schlüters Darstellung vgl. Mühlegger 2007, 21f.).

Die damit verbundene Frage, inwiefern die Betonung des Ethischen bei Grotius den Erlösungs- und Rechtfertigungsglauben so stark in den Hintergrund drängt, dass von einer Heterodoxie gesprochen werden kann (vgl. Mortimer 2014, 87f.90ff.), ist nicht Gegenstand des vorliegenden Artikels. Jedenfalls ist Grotius’ Frömmigkeit anders als die Luthers und vieler seiner Zeitgenossen nicht „durch tiefe innere Erschütterungen hindurchgegangen“, so dass „die Begriffe Sünde und Gnade, Rechtfertigung und Versöhnung“ bei Grotius „nicht im Mittelpunkt (…) stehen“ (Schlüter 1919, 4).

Ein irenischer Einfluss ist auch seinem Leidener theologischen Lehrer F. Junius d.Ä. zuzuschreiben, der in seinem Eirenicum de pace ecclesiae catholicae für die Überwindung der konfessionellen Gegensätze „auf der Basis der Anerkennung der hl. Schrift und des Erlösungstodes Christi“ eintritt (Strohm 2001; zu Junius’ Einfluss vgl. auch Hoenderdaal 1983, 43; v. Eikema Hommes 1986, 56).

Grotius’ theologisches Hauptwerk De veritate religionis christianae (zu Entstehung, Bedeutung und Inhalt vgl. Heering 1994; Heering 2004 [inhaltlicher Überblick, 47-63]; auch Schlüter 1919, 14-25), verschaffte „ihm im 17. Jh. viel allgemeinere Berühmtheit (…) als sein De iure belli ac pacis“ (Huizinga 2007, 171). Das Buch wurde u.a. von Leibniz gerühmt (Huizinga ebd.) und galt bis ins 18. Jh. als Klassiker theologischer Apologetik (Bultmann 2014, 168-173; zur Nachwirkung auch Heering 1994, 51f.). Die Arbeit an De veritate hat Grotius fast zwei Jahrzehnte begleitet: von der Vorlage in niederländischer Sprache, die er im Arrest auf Loevestein verfasste, bis zur letzten, mit einem umfangreichen Anmerkungsapparat versehenen lateinischen Fassung, die 1640 in Paris erschien. In der Vorrede zum ersten Buch, De veritate I, bekennt sich Grotius zu einer missionarischen Absicht: Er will insbesondere den zur See Reisenden Argumente für die Wahrheit des christlichen Glaubens an die Hand geben, um sie in die Lage zu versetzen, in ihren nichtchristlichen Zielländern zur Verbreitung des christlichen Glaubens beizutragen (III 3b,10-4a,5). Implizit kommt damit ein weiterer Grund für die Betonung der überkonfessionellen Einheit des Christentums zur Geltung: Zwar ist es als Hinweis auf Grotius’ Naivität gewertet worden, dass De veritate Seereisende in die Lage versetzen könnte, in ihren Zielländern mit den dortigen Nichtchristen über religiöse Fragen zu diskutieren (vgl. Huizinga 2007, 103); versteht man dieses Anliegen aber als bewusste Idealvorstellung, zeigt sich darin, wie Grotius als Niederländer der Zeit des beginnenden weltweiten Seehandels in einem globalen Horizont dachte. In diesem Horizont sah er, anders als die Reformatoren und ihre orthodoxen Erben, den christlichen Glauben im Gegenüber und im Wettbewerb mit anderen Weltreligionen. In dieser globalen Perspektive verlieren die konfessionellen Unterschiede an Bedeutung, die in einer eurozentrischen Perspektive ein solches Gewicht haben können, dass sie politische Verwerfungen bis hin zum Krieg mitbedingen.

Grotius nimmt den christlichen Glauben im Wesentlichen so wahr, wie er seitdem zunehmend in Europa gesehen werden muss: als Religion oder Weltanschauung neben anderen, deren Geltungsansprüche begründungsbedürftig sind.

Um die Wahrheit des Christentums zu begründen, legt Grotius zunächst die Vernunftgemäßheit des allgemeinen Glaubens an den einen Gott als Schöpfer dar. Dieser allgemeine Glaube ermöglicht aber keine Beziehung des Menschen zu Gott. Diese wird erst durch eine Offenbarung Gottes möglich, wie sie sich in der Geschichte ereignet und im biblischen Zeugnis zugänglich ist (vgl. dazu Mortimer 2014, v.a. 86, die auch den Hintergrund der damaligen theologischen Diskussion beleuchtet). In Verbindung mit dieser geschichtlichen Offenbarung Gottes bezieht sich Grotius schon in den beiden ersten Büchern von De veritate (De veritate I und II) auf die Bibel.

In De veritate I geht Grotius auf die geschichtlichen Erfahrungen des alttestamentlichen Israel ein, um durch sie den Glauben an Gott als Schöpfer und Lenker der Welt zu unterstützen. Dabei betont er die historische Zuverlässigkeit der Traditionen über Exodus und Landnahme: Nur weil diese so fest im Herzen des jüdischen Volkes verankert sind, sei das Überleben des Judentums bis in die Gegenwart überhaupt verständlich (De veritate I 14). Die grundsätzliche Zuverlässigkeit der biblischen Texte begründet er auch mit der Ehrlichkeit des Mose, die u.a. darin zur Geltung komme, dass er eigene Schwächen und Fehler nicht verschweige (De veritate I 15). Von daher sei kein Zweifel an der Glaubwürdigkeit der von Mose verfassten Bücher möglich. Schließlich nennt Grotius eine Reihe alttestamentlicher Weissagungen, die sich schon innerhalb des Alten Testaments erfüllt haben: so den Fluch über den Wiedererbauer Jerichos (vgl. Jos 6,26 und 1Kön 16,34) oder die Vorhersage der siegreichen Kriege des Kyros im 6. Jh. durch den Propheten Jesaja im 8. Jh. (Jes 44,24-45,8) (De veritate I 17). Alle diese Beobachtungen sprechen nach Grotius dafür, dem Alten Testament als der Urkunde der geschichtlichen Offenbarung Gottes zu vertrauen.

In De veritate II wendet sich Grotius den Spezifika des christlichen Glaubens zu. Im Wirken, Sterben und Auferstehen Jesu Christi findet die geschichtliche Offenbarung Gottes ihre Vollendung. Eine wirkliche Beziehung zwischen Gott und Mensch ist erst jetzt gestiftet. Grotius beruft sich in diesem Zusammenhang auf die historische Glaubwürdigkeit der neutestamentlichen Quellen über die Auferstehung Jesu (De veritate II 6).

Den Fragen der Autorität und Glaubwürdigkeit der Bibel sind insbesondere die Ausführungen in De veritate III gewidmet.

3. Zu Glaubwürdigkeit und Bedeutung der Bibel

Zur Begründung des christlichen Glaubens beruft sich Grotius – anders als die zeitgenössische Orthodoxie, von der er heftig kritisiert wurde (vgl. 4.1.3) – nicht auf die Bibel als verbalinspiriertes Wort Gottes. Er behandelt sie vielmehr wie ein historisches Dokument. An anderer Stelle wird er sich, was die Frage der Inspiration der Texte angeht, auf deren Selbstzeugnis beziehen: Der Evangelist → Lukas beruft sich nicht auf den Empfang eines Gotteswortes, sondern auf eigene sorgfältige Forschungen (Lk 1,1-4). Seine Glaubwürdigkeit hängt also wie die der alttestamentlichen Geschichtsschreiber, etwa → Esras, daran, dass sie viri graves, prudentes waren, qui nec fallere vellent, nec falli se sinerent (III, 723a,4-11). Andererseits erkennt Grotius toto animo an, dass die alttestamentlichen Propheten und im Neuen Testament der Seher Johannes sowie die Apostel, wo sie Vorhersagen mitteilen, vom Geist Gottes getrieben sind (III, 722,58-60). Die Erfüllung von Jesajas Kyrosorakel aus dem 8. Jh. – die Unterscheidung von Proto- und Deuterojesaja war noch nicht etabliert (vgl. dazu Graf Reventlow 219; → Deuterojesaja) – kann er deshalb als Beweis göttlicher Providenz anführen. Dass Grotius im Blick auf die Inspirationsfrage „klar zwischen Prophetie, die er entsprechend ihrem Selbstzeugnis als inspiriert anerkennt, und historischer Schriftstellerei“ unterscheidet, kann als „ein für die Zeit beachtlicher Erkenntnisfortschritt“ (Graf Reventlow 1997, 222; vgl. auch Nellen 2008, 814f.) gelten.

Grotius vertritt aber kein blindes Vertrauen in die Glaubwürdigkeit der biblischen Geschichtsschreiber, sondern eines, das mit Gründen untermauert ist.

Schon in De veritate I nennt Grotius die oben erwähnten Gründe für die Glaubwürdigkeit des Mose und damit der von ihm verfassten Schriften – wie die Unterscheidung von Proto- und Deuterojesaja war auch die Bestreitung der mosaischen Verfasserschaft des Pentateuchs noch nicht etabliert. Auch im Blick auf das Neue Testament hält Grotius an den überlieferten Verfasserangaben fest, an denen ihm genauso wenig oder noch weniger Zweifel angebracht scheinen als an der Autorschaft Homers oder Vergils für die ihnen zugeschriebenen Werken (III, 50b,1-6).

Die inhaltliche Glaubwürdigkeit der neutestamentlichen Schriften ergibt sich für Grotius daraus, dass ihren Autoren weder Unwissenheit noch betrügerische Absicht unterstellt werden kann. Unwissenheit ist nach De veritate III 5 auszuschließen, da die neutestamentlichen Autoren Augenzeugen des Berichteten waren oder zumindest Gefährten von Augenzeugen wie Markus von Petrus. Paulus war kein Augenzeuge, wurde aber von Christus selbst berufen. Daher haben sie mehr Vertrauen verdient als Tacitus oder Sueton, die von den von ihnen berichteten Geschehnissen deutlich weiter entfernt sind (III,51a,31-36). Nach De veritate III 6 kann den neutestamentlichen Autoren auch keine betrügerische Absicht unterstellt werden, weil ihnen ihr Zeugnis für Jesus Christus keinen Vorteil brachte, vielfach erfuhren sie sogar das Gegenteil: Ausstoß aus der Gemeinschaft, Leiden, Martyrium.

In den Vergleichen mit antiken Autoren (Homer, Vergil, Tacitus, Sueton) sowie in Überlegungen zur Zuverlässigkeit der neutestamentlichen Textüberlieferung (De veritate III 15) lässt Grotius’ Argumentation seine Prägung durch den Humanismus und die bei Scaliger studierte wissenschaftliche Philologie erkennen. Die Art und Weise, wie er die Unterstellung betrügerischer Absichten gegenüber den neutestamentlichen Autoren als unmotiviert abweist, scheint zugleich von der Prozesserfahrung des ehemaligen Staatsanwalts geprägt.

Über diese historischen Argumente hinaus begründet Grotius die Glaubwürdigkeit der neutestamentlichen Autoren mit beglaubigenden Wundern wie dem Pfingstwunder oder Heilungen (De veritate III 7), ebenso mit erfüllten neutestamentlichen Verheißungen über die Ausbreitung des christlichen Glaubens (III 8) sowie mit der Providenz Gottes: Weil Gott es nicht zugelassen hätte, dass so viele Menschen über Jahrhunderte hin betrogen wurden, muss das neutestamentliche Zeugnis glaubwürdig sein (III 9). Von diesen weiteren Argumenten hängt jedoch die Beglaubigung durch Wunder wiederum von der Glaubwürdigkeit der neutestamentlichen Autoren ab, durch deren Berichte die Wunder bekannt sind.

Nachdem die Glaubwürdigkeit des neutestamentlichen Zeugnisses als gesichert gilt, wird dieselbe Argumentation auf das Alte Testament bezogen (III 16). Auch die alttestamentlichen Bücher tragen die Namen von Propheten und anderen glaubwürdigen Männern, und die historische Zuverlässigkeit alttestamentlicher Aussagen sieht Grotius durch außerbiblische Quellen bestätigt (vgl. dazu die Annotata 1-7 zu De veritate III 16 in: III, 56a-60b). Christen können aber schon deshalb nicht an der Zuverlässigkeit der alttestamentlichen Bücher zweifeln, weil aus fast jedem Buch des Alten Testaments Zeugnisse oder Belege (testimonia) in das Neue Testament aufgenommen sind (III 60a,7-60b,2).

Nachdem die Glaubwürdigkeit beider Testamente vor allem aus historischen Gründen nachgewiesen ist, stellt sich die Frage nach der Bedeutung der Bibel für den christlichen Glauben. Grotius setzt dazu beim Neuen Testament an, aus dem die Geltung des Alten Testaments folgt.

Die Autorität des Neuen Testaments ergibt sich daraus, dass seine Schriften die ältesten Zeugnisse der christlichen Religion sind, deren Vernunftgemäßheit Grotius in den ersten beiden Büchern von De veritate religionis christianae nachgewiesen hatte. Da alle Einzelfragen dieser Religion aus den ältesten Zeugnissen genau zu erkennen sind, ist der, der den christlichen Glauben näher kennenlernen will, nachdem er seine Vernunftgemäßheit anerkannt hat, an das Neue Testament als die libros antiquissimos eam religionem continentes zu verweisen (III 50a,7-10). Diese grundlegende Bedeutung des Neuen Testaments könnte gegenüber dem einmütigen Konsens aller Konfessionen nur mit guten Gründen angezweifelt werden. Nach den Darlegungen in De veritate III bestehen solche Gründe nicht.

Grotius vertritt damit einen intellektuellen Zugang zum Neuen Testament. In diesem Horizont ist auch sein Verständnis des Offenbarungscharakters der biblischen Texte zu sehen. Anders als bei Luther und in der altprotestantischen Orthodoxie geht es ihm nicht darum, ein freisprechendes oder richtendes Wort aus der Bibel zu vernehmen, sondern um die Klärung von Fragen. Aber auch in dieser Hinsicht kann er den Texten eine Art Offenbarungscharakter zuschreiben: Gegenüber der Ablehnung neutestamentlicher Kernaussagen unter Berufung auf die Vernunft verweist Grotius auf die Grenzen vernünftiger Gotteserkenntnis.

Die Vernunft kann sich aber zur Vertiefung ihrer Gotteserkenntnis den als glaubwürdig erkannten biblischen Schriften anvertrauen (III 12): Es gibt keinen göttlichen Spruch (oraculum), dessen Wahrhaftigkeit durch gewichtigere Belege (maioribus testimoniis) festgestellt wäre als die, die das Neue Testament enthält (III, 54a,13-16).

4. Exegetische und hermeneutische Einsichten aus den Annotationes

4.1. Zu Inhalt und Bedeutung der Annotationes

4.1.1. Zur Charakterisierung des Werkes

Die Annotationes zum Alten und Neuen Testament umfassen in der Ausgabe von 1679 die ersten beiden Bände (drei Teilbände) der Opera omnia theologica. Damit bilden sie Grotius’ umfangreichstes theologisches Werk. Es enthält Kommentare zu allen biblischen Büchern in Form von philologischen und sachlichen Anmerkungen zu einzelnen Versen. Die Art der Kommentierung steht in humanistischer Tradition, „die Fülle von Informationen (…) ragt jedoch weit über die Zeitgenossen hinaus“ (Graf Reventlow 216). Grotius geht vom Vulgatatext aus, beachtet aber auch die Ursprachen Hebräisch und Griechisch, im Alten Testament auch die Septuaginta und die Targumim. Darüber hinaus zieht er Kommentare aus der jüdischen und christlichen (v.a. altkirchlichen) Tradition heran sowie Parallelen aus der griechischen und lateinischen Literatur.

Die Annotationes bestehen vielfach nur aus knappen Bemerkungen, können stellenweise aber zu längeren Abhandlungen ausgeweitet werden. So wird die Bezugnahme auf Jes 7,14 in Mt 1,22 mit einer mehrere Druckseiten umfassenden Reflexion über das Verständnis messianischer Weissagungen kommentiert (vgl. 4.2).

4.1.2. Beispiele früher historisch-kritischer Einsichten und ihre forschungsgeschichtliche Würdigung

An einigen Stellen kommt Grotius zu einleitungswissenschaftlichen Ergebnissen, die für die damalige Zeit beachtlich sind. Dazu seien die folgenden Beispiele genannt.

4.1.2.1. Datierung des Hiobbuches

Den unbekannten Schreiber des → Hiobbuches datiert Grotius später als Salomo, auf dessen Schriften er schon zurückgreife, aber vor Ezechiel, der wiederum auf das Hiobbuch zurückgreift (Ez 16,14.20). Gewisse Redeformen, die sich sonst nur bei Daniel, Esra und in den Targumim finden, sprechen für eine Datierung des Hiobbuches in die Exilszeit. Da Hiob als Araber aus → Uz eingeführt wird, vermutet Grotius, der Verfasser habe die von den Babyloniern umgesiedelten „Nachkommen Esaus“ mithilfe dieses Vorbildes ermahnen wollen, an ihrer Frömmigkeit festzuhalten. Dennoch sei der Verfasser Hebräer: Die Bezeichnung Arabiens als „Orient“ (Hi 1,3) ist nach Mt 2,1 unter den Hebräern üblich (das Vorhergehende nach I, 203a,1-29). Grotius begründet seine geschichtliche Einordnung des Hiobbuches mit Argumenten, wie sie bis heute bei Einleitungsfragen verwendet werden. Auch der Versuch, dem Text eine in der mutmaßlichen Entstehungszeit aktuelle Verfasserintention zu unterstellen, entspricht einer bis heute gängigen Praxis innerhalb der historisch-kritischen Bibelwissenschaft.

4.1.2.2. Bestreitung der salomonischen Verfasserschaft des Koheletbuches

Während das Hiobbuch keine ausdrücklichen Hinweise auf seinen Verfasser enthält, wird → Kohelet durch Pred 1,1 und die „Königstravestie“ in Pred 1,12-2,26 indirekt auf Salomo zurückgeführt. Diese Zuschreibung ist nach Grotius aus sprachlichen Gründen historisch nicht glaubhaft. Das Buch enthält viele Vokabeln, die sonst nur in Daniel, Esra und den Targumim vorkommen, was für eine Datierung Jahrhunderte nach Salomo spricht. Zugleich sieht Grotius eine Nähe des Koheletbuches zur griechischen Philosophie: Der hebräische Begriff קֹהֶלֶת qohælæt, den die Septuaginta mit ἐκκλησιαστής ekklēsiastēs „Teilnehmer an einer Volksversammlung“ übersetzt, sei wohl besser mit συναθροιστής synathroistēs (coacervator) „Sammler“ wiederzugeben, da das Buch eine Sammlung verschiedener Meinungen weiser Männer περὶ τῆς εὐδαιμονίας peri tēs eudaimonias (de beatitudine) „über das Lebensglück“ darstelle. Schlussfolgerungen zur geschichtlichen Verortung des Buches oder Intention des Verfassers zieht Grotius daraus aber nicht (das Vorhergehende nach: I, 258a,42-258b,49).

4.1.2.3. Verhältnis von Matthäus- und Markusevangelium

Grotius geht davon aus, dass das Matthäusevangelium entsprechend der altkirchlichen Tradition ursprünglich hebräisch geschrieben war. Die Übereinstimmungen mit Markus erklärt er auf Grund des besseren markinischen Griechisch damit, dass Markus Stellen aus dem hebräischen Matthäus aufnahm und ins Griechische übersetzte und dass diese Partien wiederum in die spätere griechische Übersetzung des Matthäus übernommen wurden, die in der Kirche kanonische Geltung gewann (vgl. II/1, 4a,19ff.; 5b,2-11). Rengstorf (1986, 78f.) hält diese Theorie als Alternative zu der seit dem 19. Jh. etablierten Zweiquellentheorie für diskutierbar.

4.1.2.4. Der Zweite Thessalonicherbrief als ältester Paulusbrief

Grotius glaubt Argumente dafür zu haben, dass der Zweite Thessalonicherbrief der älteste Paulusbrief ist (II/2, 948a,1-948b,17). Forschungsgeschichtlich ist nicht die Frage der Plausibilität seiner Annahme interessant, sondern dass Grotius, indem er sich um die Rekonstruktion der Entstehungsbedingungen bemüht und den Brief aus der rekonstruierten Situation heraus zu verstehen sucht, „eine der neutestamentlichen Wissenschaft unentbehrliche Methode zum erstenmal eindeutig gebraucht“ (Kümmel 2. Aufl. 1970, 32). In 4.4 ist darauf zurückzukommen, weil die Frühdatierung auch theologisch relevante Konsequenzen hat.

4.1.3. Zur Wirkungsgeschichte der Annotationes

4.1.3.1. Kritische Rezeption in der lutherischen Orthodoxie (A. Calov)

Die Bedeutung, die den Annotationes schon im 17. Jh. zukam, kommt u.a. darin zur Geltung, dass sich A. Calov in seiner Biblia Illustrata, dem „bedeutendsten gesamtbiblischen Kommentarwerk der lutherischen Theologie des 17. Jh.s“ (Jung 1999, 129), durchgehend auf die Annotationes bezieht. Da die altprotestantische Orthodoxie der als verbalinspiriert geltenden Bibel eine Sonderstellung gegenüber aller anderen Literatur zuschreibt, sieht sie Grotius’ historisch begründete Kommentierungen sehr kritisch (dazu auch Kraus 3. Aufl. 1982, 53; Nellen 2008, 816). Damit zeigt aber Calovs intensive Bezugnahme auf Grotius, dass auch Vertreter der Hochorthodoxie die Annotationes als epochales Werk betrachteten – allerdings als eines, gegenüber dem die eigene Position verteidigt werden musste.

Dass Grotius das orthodoxe Schriftverständnis nicht teilt, sondern die Inspirationsfrage unter Berücksichtigung des Selbstzeugnisses der Texte flexibel entscheidet (vgl. 3.), entspricht seinem Interesse an philologischer und historischer Genauigkeit. Dem entspricht auch die Verwendung von außerbiblischem Parallelmaterial, das die Texte in einen weiteren kulturgeschichtlichen Zusammenhang stellt, auch wenn das Material zur damaligen Zeit nur der Literatur des klassischen Altertums entnommen werden konnte. Hier setzt eine Kritik von Calov an: Er wirft Grotius z.B. vor, dass seine Hohelied-Kommentierung von falschen Gewährsleuten beeinflusst sei, zu denen er die von Grotius herangezogenen heidnischen Dichter zählt (Calov 1672, 1251a zum Stichwort: Prophani conceptus Grot[ii] de Cantico sanctiss[imo]).

4.1.3.2. Positive Rezeption in der beginnenden historisch-kritischen Bibelwissenschaft

Positiv wurden die Annotationes in der frühen historischen Bibelwissenschaft rezipiert. In der deutschen Universitätstheologie, die in der Ausbildung der historischen Kritik führend war, haben die Annotationes durch → J.A. Ernesti (1707-1781) und seine Schüler zur Entstehung einer von der Dogmatik verselbstständigten Exegese beigetragen (vgl. Rengstorf 1986, 79). Ab 1755 erschien in Erlangen eine Neuauflage der Annotationes zum Neuen Testament, ab 1775 in Halle eine von → J.C. Döderlein mitherausgegebene Neuauflage der Annotationes zum Alten Testament. Wie sich die Haltung zu Grotius gegenüber der Orthodoxie verändert hat, zeigt eine Rezension zu dieser Neuauflage, nach der „der Werth von Grotius Anmerkungen über die Bibel nun wohl zur Genüge entschieden“ sei. Grotius’ Bedeutung liege darin, dass er durch die von Calov noch kritisch gesehene Heranziehung antiker Parallelen „zum Geist und Sinne des Schriftstellers seinen Leser hinreißt, ihn in die alte sinnliche Denkart der Zeiten und der Nation, für die jene Schriftsteller denn doch schrieben, hineinführt, und hierdurch Licht über eine Menge Stellen verbreitet“ (GGA I/1777, 74f.).

Im Folgenden sollen drei Beispiele für die Interpretation theologisch relevanter Texte in Grotius’ Annotiones besprochen werden.

4.2. Zur Auslegung des Hoheliedes

Das → Hohelied war auf Grund seines allegorischen Verständnisses seit der Zeit der Alten Kirche eines der am meisten kommentierten biblischen Bücher. Erst mit der Durchsetzung des nichtallegorischen Verständnisses seit dem 18. Jh. und damit lange nach Grotius verlor es an theologischer Bedeutung. Grotius wird oft als früher Vertreter eines nichtallegorischen Verständnisses genannt.

Zu Beginn seiner Kommentierung (I, 267-270; das Folgende nach: I, 267a,40-267b,40) charakterisiert Grotius das Hohelied als ὀαριστύς oaristys, d.h.: als intimes Gespräch zwischen Liebenden oder Brautleuten (garritus coniugum inter se). Der Begriff ὀαριστύς gehört dem epischen Griechisch an (klassisch: ὄαρος oaros), wird aber als Titel des 2. Eidyllions von Theokrit verwendet. Grotius dürfte dies bekannt gewesen sein, da er zu Hhld 2,1.5; Hhld 3,4; Hhld 4,9 Parallelaussagen von Theokrit anführt. Mit der Charakterisierung als ὀαριστύς ordnet Grotius das Hohelied also zunächst dem Bereich weltlicher Liebespoesie nach Art theokritischer Dichtungen zu. Konkret deutet er das Hohelied als Dialog Salomos mit der ägyptischen Prinzessin, die dieser nach 1Kön 3,1; 1Kön 9,24; 1Kön 11,1 geheiratet hatte. Das Gespräch ist im Schlafgemach vorzustellen, vor dem zwei Gruppen von jungen Männern und Frauen Wache halten, die in der Dichtung als Chöre zu Wort kommen. Grotius denkt also an einen Dialog in der Hochzeitsnacht. Salomo, den Grotius als Verfasser gelten lässt, habe aber Sorge dafür getragen, dass die Dichtung lange in Erinnerung blieb. Deshalb habe Salomo „dieses Schriftwerk“ (hoc scriptum) so kunstvoll verfasst, ut sine multa distortione ἀλληγορίας [latentes sensus] in eo inveniri possent, quae Dei amorem adversus populum Israëliticum exprimerent. Wenn also das Judentum das Hohelied als Allegorie auf die Beziehung zwischen Gott und Israel liest, entspricht dies zwar nicht dem ursprünglichen Sinn und der Verwendung bei Salomos Hochzeit, dennoch war diese Auslegungsweise, wie allgemein angenommen wird, vom Verfasser intendiert. Da die Liebe Gottes zu Israel in christlicher Wahrnehmung zur Vorabbildung (typus) der Liebe Christi zur Kirche wird, haben sich christliche Ausleger „mit lobenswertem Eifer“ (laudabili studio) bemüht, die Worte der Dichtung auf Christus und die Kirche anzuwenden.

Damit ist das christliche Verständnis aus Grotius’ Sicht eine Applikation zweiten Grades: In einem ersten Applikationsschritt wird die Dichtung im Judentum auf das Verhältnis zwischen Gott und Israel bezogen; im zweiten Schritt vermittelt über eine typologische Relation auf das Verhältnis Christi zur Kirche. Die vielen Parallelen, die Grotius aus der antiken Dichtung wie Theokrit heranzieht, zeigen sein Bemühen, die textimmanente Bildwelt des Hoheliedes wie die einer weltlichen Liebesdichtung zu erfassen. Das Geschilderte wird also nicht sogleich als Ausdruck eines allegorischen Bildfeldes erklärt.

4.3. Zum christlichen Verständnis der messianischen Verheißungen des Alten Testaments

Die messianischen Verheißungen bilden ein zentrales Bindeglied zwischen dem Alten und dem Neuen Testament. Von christlicher Seite werden sie als Verweise auf Jesus Christus verstanden und wurden auch als Beweise für die Wahrheit des christlichen Glaubens herangezogen. Daher bildete gerade das Verständnis dieser Texte seit jeher einen Streitpunkt zwischen Judentum und Christentum. → Luthers wütender Antijudaismus war nicht zuletzt in dem Vorwurf begründet, dass die Juden ihre eigene Heilige Schrift nicht recht verstehen oder das rechte Verständnis sogar bewusst verschleiern. Einerseits wird niemand die Unangemessenheit dieses Vorwurfs bestreiten – andererseits gehört es aber zum Kern des christlichen Bekenntnisses, dass Jesus von Nazareth der in alttestamentlichen Texten erwartete oder verheißene Heilsbringer ist. Damit ist der schwierige Problemhorizont angedeutet, in dem nach einer angemessenen Hermeneutik der messianischen Weissagungen zu fragen ist.

Grotius äußert sich dazu grundlegend in der Kommentierung von Mt 1,22f., wo mit dem Verweis auf Jes 7,14 die erste Bezugnahme auf eine messianische Weissagung im Neuen Testament vorliegt (das Folgende nach: II/1,11a,44-14a,45). Seine Überlegungen setzen bei der antiken (Celsus, Julian Apostata) und jüdischen Kritik ein, dass die christologische Deutung die Autorität der Propheten missbrauche. Diese Kritik beziehe sich auf ein Missverständnis: Den Aposteln gehe es nicht darum, die alttestamentlichen Texte gegenüber den Juden als Beweise dafür anzuführen, dass Jesus der verheißene Messias ist. Diese Überzeugung sei im Wesentlichen in den Wundern und der Auferstehung Christi begründet. Die christologische Deutung alttestamentlicher Aussagen soll vielmehr denen, die ohnehin von der Messianität Jesu überzeugt sind, zeigen, dass die von Gott gelenkte Heilsgeschichte (οἰκονομία oikonomia, dispensatio) insgesamt als Vorabbildung Christi und seines Werkes zu verstehen ist. Wie aus 1Petr 1,20; 1Kor 2,7 hervorgeht, gehört die Überzeugung, dass Christus die Vollendung der Geschichte ist, auf die Gott von der Schöpfung an hingewirkt hat, zum Christusglauben, wie er aus der Erfahrung des Wirkens und der Auferstehung Jesu entstanden ist. Auf dieser Basis entwickelt Grotius die Grundlagen eines typologischen Verständnisses alttestamentlicher Aussagen (der folgende Exkurs enthält eine Zusammenfassung nach: II/1, 11b,5-13a,9).

Aus 1Kor 10,11, wonach der Ungehorsam und die Bestrafung Israels in der Wüste τυπικῶς geschehen sind, sowie aus den Aussagen über das Auftreten Christi in der „Fülle der Zeit“ (Gal 4,4; Eph 1,10) leitet Grotius ab, dass die Einrichtungen des Gesetzes und die im Alten Testament berichteten Geschehnisse als Vorabschattungen Christi (umbra Christi) zu verstehen sind. Das gilt ebenso für die sichtbaren (ὁρατά horata) und hörbaren (ἀκουστά akousta) Zeichen dieser Geschehnisse. So steht das Passahlamm als sichtbares Zeichen für die Befreiung aus Ägypten; diese wiederum bildet einen τύπος (wozu Grotius als lateinische Übersetzung „typus sive praefiguratio“ angibt) der Befreiung von den Sünden durch Jesus Christus (1Kor 5,7). Hos 11,1 ist dagegen in Grotius’ Terminologie ein „hörbares Zeichen“, indem es die Befreiung aus Ägypten in Erinnerung ruft. Da diese Befreiung aber nach christlicher Überzeugung insgesamt ein „Probestück“ (rudimentum) der durch Christus erworbenen Befreiung ist, kann nach Mt 2,15 davon ausgegangen werden, dass der Geist des Propheten von Gott so gelenkt war, dass er in Hos 1,11 etwas über Israel sagt, das nicht weniger oder sogar noch besser zu Christus passt. Entscheidend ist dabei, dass sich die Aussage des Propheten zunächst auf Israel bezieht und aus seiner Zeit heraus zu verstehen ist. Auf Grund des Glaubens, dass die göttliche Providenz die im Alten Testament dokumentierte Geschichte Israels in Christus zur Vollendung geführt hat, kann Hos 11,1 auch auf Christus bezogen werden. Damit ist das Wort ein Beispiel für alttestamentliche Aussagen (locutiones), quae ad instans tempus directe pertinebant et tamen Divino consilio ad Christum referebantur.

In alttestamentlichen Abschnitten, für die dieses gilt, müssen nicht alle einzelnen Worte auf Christus bezogen werden können. So sind in der → Nathanverheißung die Aussagen in 2Sam 7,13-14a zwar von Salomo gesagt, provozieren aber mit der Verheißung des für ewig bestätigten Thrones sowie des Vater-Sohn-Verhältnisses zu Gott die Frage, ob hier nicht noch von einem anderen die Rede ist als von Salomo. Aus christlicher Sicht zeigt sich, dass die Verse in einer ausgezeichneteren Weise (eminentiori quodam modo) von Christus handeln: Erst Christus steht in einem wirklichen Vater-Sohn-Verhältnis zu Gott; erst sein Thron ist für immer befestigt. Die folgenden Aussagen in 2Sam 7,14b-15 lassen sich dagegen nur noch auf Salomo und die anderen Nachfolger Davids auf dem Jerusalemer Thron beziehen.

Diese Grundlagen eines typologischen Verständnisses alttestamentlicher Aussagen wendet Grotius auf Jes 7,14 an (das Folgende nach: II/1, 13a,9-14a,45) (zur Einordnung von Grotius’ Position in die Auslegungsgeschichte von Jes 7,14 vgl. Reiser 2007, 287f.294-318, v.a. 312f.). Dabei fragt er zunächst, was das Prophetenwort primo intuito, also wohl: für die ersten Adressaten, bedeutete. Aus diesem Ursprungssinn kann ein zweiter Sinn erhoben werden, der den Zeitgenossen des Propheten noch geheimnisvoll verborgen war, aber seit den Zeiten Christi deutlich erkannt werden kann. Der ursprüngliche Sinn ist aus den historischen Umständen zu erschließen, in die Jes 7,14 seinem Kontext nach gehört. Als König → Ahas von Juda angesichts der Bedrohung des → Syrisch-ephraimitischen Krieges keinen anderen Ausweg sieht, als sich den Assyrern zu unterwerfen, fordert ihn Jesaja zum Gottvertrauen auf. Dabei unterstreicht er die Verheißung, dass das Reich der Davididen vor einer Eroberung bewahrt bleiben wird, durch ein Zeichen: In einem Zeitraum, in dem ein Mädchen, das bisher Jungfrau war, heiratet, ein Kind empfängt, zur Welt bringt und bis zu einem gewissen Alter erzieht, werde Juda von den feindlichen Truppen befreit sein und keinen Mangel an notwendigen Gütern erleiden. Danach werde großes Elend über das Land kommen und Ahas’ Hoffnung auf die Assyrer enttäuschen.

Was die Person des Kindes angeht, das nach Jes 7,14 den Namen „Immanuel“ („Gott ist mit uns“) erhalten soll, lehnt Grotius die von „vielen Hebräern“ vertretene Identifizierung mit Hiskia aus chronologischen Gründen ab. Eher sei an Jesajas eigenen Sohn zu denken, der nach Jes 8,1-4 geboren wird und den Namen „Maherschalalchasbas“ (nach Luther: → „Raubebald-Eilebeute“) erhält. Trotz des abweichenden Namens ergibt sich die Gleichsetzung des → Immanuel mit diesem Sohn, wenn die in Jes 8,2 erwähnten Zeugen Uria und Secharja als Trauzeugen verstanden werden: Dann kann die „Prophetin“ (Jes 8,3) mit der Jungfrau gleichgesetzt werden, die Jesaja heiratet, um den Sohn zu bekommen. Die Geburt und der in Jes 8,1 genannte zweite Name weisen zeichenhaft auf den Untergang der → Aramäer („Damaskus“) und des Nordreichs („Samaria“) (Jes 8,4) hin. Genau dafür steht aber auch der Immanuel von Jes 7,16.

Über dieses historische Verständnis von Jes 7,14 hinaus enthalten die Worte ein Geheimnis von Christus, das sich erst denen erschließt, die Christus anerkennen, und zwar aus vier Gründen. Erstens erscheinen in christlicher Sicht alle im Alten Testament erwähnten Befreiungen Israels als Vorahnungen oder Vorverweise (praesagia) auf die Befreiung in Christus – die Rettung Judas im Syrisch-ephraimitischen Krieg macht da keine Ausnahme. Zweitens erhält der dauerhafte Bestand (stabilitas) des davidischen Reiches, den Jesaja Ahas verheißt, seine wahre Erfüllung erst im ewigen Reich Christi, was nach Grotius aus der Verheißung Gabriels an Maria in Lk 1,32-33 klar hervorgeht. Drittens gewinnt die Ankündigung der Schwangerschaft einer Jungfrau ihren vollen Sinn erst bei der Frau, die auch nach der Empfängnis Jungfrau geblieben ist, d.h.: nur bei Maria. Viertens gewinnt auch der Name „Immanuel“ („Gott ist mit uns“) erst seine volle Bedeutung, wenn er auf Jesus Christus bezogen wird: In ihm sind Gottes Verheißungen erfüllt (2Kor 1,20), ist Gottes Wort Fleisch geworden (Joh 1,14) und wohnt die Fülle der Gottheit leiblich (Kol 11,9). Zugleich steht die Bedeutung des Namens „Jesus“ („Retter“) der von „Immanuel“ nahe: Die rettende Nähe Gottes wird in biblischer Sprache oft als Mit-Sein Gottes bezeichnet (Jos 1,5; Jer 1,8; Apg 18,10).

4.4. Die zeitgeschichtliche Deutung von Ankündigungen des Antichristen

In altprotestantisch-orthodoxen Kreisen wurden neutestamentliche Aussagen über das Kommen des Antichristen auf das Papsttum bezogen. Diesem kontroverstheologischen Verständnis stellt der um Ausgleich bemühte Grotius ein zeitgeschichtliches Verständnis entgegen. Dem dient v.a. seine Commentatio ad Loca quaedam Novi Testamenti quae de Antichristo agunt, aut agere putantur (III, 455-504) (vgl. dazu Schlüter 1919, 31f.), entsprechende Deutungen haben aber auch in die Annotationes Eingang gefunden. In diesem Zusammenhang wird Grotius’ Frühdatierung des Zweiten Thessalonicherbriefes (vgl. 4.1.2) theologisch relevant: Sie erlaubt die Identifizierung des „Mannes des Frevels“, der nach 2Thess 2,3 offenbarwerden soll, mit Caligula, offenbarte dieser doch nach Darstellung Suetons seinen tyrannischen Charakter erst im Laufe seiner Herrschaft (37-41 n. Chr.) (Commentatio: III, 458a,40-458b,44; Annotationes: II/2, 951a,52-62).

Die bekannteste Ankündigung einer künftigen antichristlichen Macht, das Tier mit der Zahl 666 (Apk 13,18), bezieht Grotius auf Trajan (Marcus Ulpius Traianus). Dazu leitet er den Zahlwert vom Gentilnamen des Kaisers in der griechischen Schreibweise ΟΥΛΠΙΟΣ ab (Commentatio: III, 470b,38ff.; Annotationes: II/2, 1205b,56-1204a,31).

Diese Ableitung setzt voraus, dass das Σ (Zahlwert: 200) durch ein „lunares Sigma“ (Gestalt eines „C“ ähnlich der Schlussform ς) ersetzt wird. Das lunare Sigma kann für den Zahlwert 6 stehen. Grotius beruft sich dafür auf einen epigraphischen Beleg aus dem Sammelwerk Inscriptiones anticae totius orbis Romanae, das J. Gruter 1601 unter Mitarbeit von M. Welser und Grotius’ eigenem philologischen Lehrer Scaliger herausgegeben hatte. Das Bemühen um eine historische Erklärung, die auch epigraphisches Material einbezieht, verdient Anerkennung, unabhängig von der Frage, ob die Deutung auf Trajan plausibel ist.

Mit dem Bezug der „666“ auf Trajan ist die Vision von Apk 13 auf dessen Regierungszeit zu beziehen. Auch die folgende Vision vom Lamm und den 144000 auf dem Zion (Apk 14) führt Grotius als nova visio ad tempora Trajani pertinens ein (II/2, 1206a,35f.). Die Visionen von Apk 13f. beziehen sich damit ausdrücklich nicht auf das Papsttum.

5. Würdigung

Grotius wird mit Recht eine hervorragende Stellung in der Geschichte der Bibelwissenschaft zuerkannt. Er hat durch seine Annotationes, in denen er zu für seine Zeit beachtlichen Einsichten kommt (vgl. 4.1.2.), und durch die Wirkung, die die Annotationes gehabt haben (vgl. 4.1.3.), zur Etablierung der historischen Bibelwissenschaft beigetragen. Diese wiederum hat das Verständnis vieler biblischer Aussagen enorm gefördert, so dass der von Grotius mitinitiierte Anstoß einen kaum zu überschätzenden wissenschaftlichen Fortschritt hervorgebracht hat.

Um Grotius’ bibelwissenschaftliches Werk aber nicht einseitig zu würdigen, bleibt zu beachten, dass er im Unterschied zur späteren historisch-kritischen Bibelwissenschaft (v.a. seit dem 19. Jh.) die Trennung von der christlichen Dogmatik nicht vollzieht. Er sieht die Autorität der Bibel in der Anerkennung durch alle christliche Konfessionen begründet. Biblische Exegese dient Grotius’ Anliegen, entgegen dem mörderischen Streit der Konfessionen das Gemeinsame des christlichen Glaubens hervorzuheben. Dies ist aber nur möglich, weil er mit der gesamten kirchlichen Tradition die Einheit der Heiligen Schrift beider Testamente voraussetzt. Es ist daher konsequent, dass die Annotationes Kommentierungen zum Alten und zum Neuen Testament umfassen. Grotius folgt auch darin der Tradition, dass ihm der Glaube an Jesus Christus als Mitte und hermeneutischer Schlüssel zur ganzen Heiligen Schrift gilt. Dass er sich trotz historisch-kritischer Ansätze nicht von der kirchlichen Tradition emanzipiert, führt dazu, dass er gerade in seinen späteren Werken der altkirchlichen Tradition eine gewisse Bedeutung als Maßstab der Schriftauslegung zuerkennt (vgl. Schlüter 1919, 32f.; Graf Reventlow 1997, 224).

Allerdings folgt er der Tradition nicht blind. In zwei Aspekten, die beide auf die Verbindung von historischer Fragestellung und allgemeinchristlicher Tradition zielen, geht er über sie hinaus.

Zum einen ist Grotius bemüht, die geschichtliche Glaubwürdigkeit der neutestamentlichen Aussagen über die einzigartige Gestalt Christi, sein vollmächtiges Auftreten einschließlich Wundern und seine Auferstehung, mit historischen Gründen zu untermauern (vgl. oben 3.). Dazu dient u.a. der Vergleich der neutestamentlichen Schriften mit Werken der antiken Geschichtsschreibung hinsichtlich der Verfasserangaben und der Nähe der Autoren zum Berichteten. Indem aber die Gestalt Christi im Horizont der alttestamentlich berichteten Geschichte Gottes mit Israel verstanden wird, kann sie nur als deren Höhepunkt und Abschluss aufgefasst werden. So gewinnen alttestamentliche Texte aus der Erfahrung der Apostel und Jünger mit Jesus Christus heraus einen anderen, tieferen Sinn, indem sie als Vorverweis auf Christus verstanden werden.

Der zweite Aspekt, in dem Grotius über die Tradition hinausgeht, besteht darin, dass er nicht behauptet, der christologische Sinn alttestamentlicher Texte sei von den Autoren intendiert gewesen: Grotius kann einen ursprünglichen Sinn rekonstruieren, der ganz auf die Entstehungszeit bezogen ist, um nachzuvollziehen, wie im Licht des neutestamentlichen Christuszeugnisses Sinnpotentiale der Texte aktualisiert werden, die zuvor nicht ausgeschöpft worden waren. So kündigt in dem in 4.3 besprochenen Beispiel Jes 7,14 der Prophet die Geburt seines eigenen Sohnes als Zeichen der Rettung Judas vor den Aramäern und dem Nordreich an. Das ursprünglich zeitbedingte Wort kann aber im Licht des Glaubens an Jesus Christus als Ankündigung der Geburt Christi verstanden werden, weil der Name „Immanuel“ in einem ausgezeichneteren Sinn zu Christus passt, ebenso die Ankündigung der Jungfrauengeburt sowie die Verheißung, dass die davidische Herrschaft nicht untergehen wird, auf die Jes 7,14 sachlich zielt. Grotius wendet also ein rezeptionsästhetisches Modell an, um den rekonstruierten ursprünglichen Sinn der Jesaja-Prophezeiung mit ihrem traditionellen christlichen Verständnis zu verbinden. Aus der Sicht des Glaubens – d.h.: aus theologischer Sicht – ist diese Rezeptionsmöglichkeit darin begründet, dass Gott den Geist des Propheten so gelenkt hat, dass die Verheißung einen Sinnüberschuss enthält, der durch die Erfahrung des Lebens und Wirkens Christi christologisch aktualisiert werden kann. Diesen Providenzgedanken hält Grotius in Verbindung mit Hos 11,1 ausdrücklich fest (II/1, 12,17-21).

Die Aspekte, mit denen sich Grotius von einer bloßen Übernahme der Tradition abhebt, sollten bei einer Würdigung seines bibelwissenschaftlichen Werkes nicht übergangen werden, zumal sich die Frage stellt, ob sie nicht ebenso aktuell sind wie der von ihm mitbegründete Ansatz der historischen Kritik. Ein abschließender Exkurs soll einige Klärungen dazu vortragen, welche Anstöße von diesen Aspekten ausgehen könnten.

Die Frage der Aktualität dieser Aspekte stellt sich nicht allein, damit Grotius eine historisch gerechte Würdigung erfährt, sondern weil die Frage der Einheit der Schrift und ihres christologischen Zentrums von bleibender, vielfach nicht genügend beachteter theologischer Aktualität ist. Die mit dem späten 18. Jh. einsetzende, von der Dogmatik abgelöste historische Exegese hat nicht nur ein zuvor ungeahntes Maß an Erkenntnissen über die historischen, religions- und kulturgeschichtlichen Zusammenhänge erarbeitet, von denen die biblischen Texte geprägt sind. Sie hat auch maßgeblich dazu beigetragen, dass die Wahrnehmung der Einheit der Bibel als Heilige Schrift der Kirche in eine tiefe Krise geraten ist. Damit droht aber die allen christlichen Konfessionen gemeinsame Grundlage verlorenzugehen, was umso schwerer wiegt, als der christliche Glaube mittlerweile auch in Europa begründungsbedürftig geworden ist. Grotius nahm diese Nichtselbstverständlichkeit des Christlichen in seiner globalen Perspektive vorweg, die ihm der beginnende weltweite Seehandel eröffnet hatte. Zu seiner Zeit waren die fremden Religionen, mit denen der christliche Glaube im Wettbewerb steht, aber noch hauptsächlich in fernen Ländern anzutreffen; Europa war noch christlich geprägt, obwohl sich schon erste Kritik am biblischen Gottesbild und am Christentum regte.

Indem der christliche Glaube aber mittlerweile auch in Europa seine Selbstverständlichkeit und seine Prägekraft verloren hat, wird die Frage nach der Begründung und der intellektuellen Verteidigung des Christentums unausweichlich. Damit stellt sich unweigerlich die von Grotius besprochene Frage der historischen Glaubwürdigkeit der neutestamentlichen Quellen über das Wirken Jesu Christi. Diese Frage wird zwar theologisch vielfach abqualifiziert. So wird es Grotius als „fundamentalistischer Zug“ angekreidet, dass er „in apologetischer Absicht in Wunder- und Auferstehungsberichten objektive Geschichtswahrheiten finden wollte“ (Graf Reventlow 1997, 222). Auch wird die Auffassung vertreten, die von Grotius angewendete historische Apologetik sei seit Lessing überholt (Bultmann 2014, 182-187), insbesondere durch Lessings Feststellung „zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunftswahrheiten nie werden“ (Lessing 1989, 441; vgl. dazu Bultmann 2014, 186). Dieser Satz aus der Schrift „Über den Beweis des Geistes und der Kraft“ soll zwar dem Kontext nach besagen, dass religiöse Wahrheiten nicht historisch bewiesen werden können; er geht aber am Eigentlichen vorbei, wenn es um die Begründung eines biblisch fundierten Gottesglaubens geht. Dieser zeichnet sich ja durch den Bezug auf Gotteserfahrungen in der Geschichte aus; Gott und seine Eigenschaften werden nur bedingt als „notwendige Vernunftswahrheiten“ verstanden. Also wird Grotius’ Ansatz dem biblischen Gottesverständnis eher gerecht als Lessings Kritik an der historischen Apologetik. Wo es um die Begründung und Verteidigung des christlichen Glaubens geht, ist Grotius damit aktueller als Lessing.

Bei der Frage der historischen Vergewisserung kann es allerdings nicht um naive Wundergläubigkeit gehen, die schon Grotius selbst kaum unterstellt werden kann, der etwa in der Kommentierung von Jos 10,12f. den Sonnenstillstand als poetischen Ausdruck für einen langen Sommertag deutet (I, 106,39ff.; vgl. dazu auch Nellen 2008, 815f.) und darin eine gewisse Offenheit für rationalistische Erklärungen zeigt. Auch versteht es sich von selbst, dass beim heutigen exegetischen und historischen Kenntnisstand in den geschichtlichen Fragen weitaus differenzierter und kritischer geurteilt werden muss, als es Grotius möglich war. Grundsätzlich kann aber bei wichtigen Grundlagen des Glaubens wie dem Selbstverständnis Jesu, seinem vollmächtigen, auch durch Wunder beglaubigten Wirken oder seiner Auferstehung die vergewissernde Frage nach objektiven Geschichtswahrheiten nicht pauschal als „fundamentalistisch“ abgewiesen werden. Dies hat nicht zuletzt W. Pannenberg in Verbindung mit dem historischen Problem der Auferstehung zu Recht betont (vgl. Pannenberg 1999, v.a. 308f.317f.). Auch bleibt der von Grotius herangezogene Vergleich der historischen Auswertung der Evangelien mit der Auswertung anderer antiker Geschichtswerke nach wie vor interessant: Grotius verweist darauf, dass Tacitus und Sueton Vertrauen entgegengebracht wird, obwohl sie weiter von den berichteten Ereignissen entfernt sind als die Evangelisten. Der Vergleich wird auch heute noch bemüht, wenn sich etwa Althistoriker „schockiert“ über die radikale Quellenkritik der neutestamentlichen Forschung zeigen (Botermann 1993, 64). Grotius’ Anregung, die Frage der Glaubwürdigkeit der neutestamentlichen Geschichtswerke im interdisziplinären Vergleich mit der Altertumswissenschaft zu behandeln, dürfte daher noch immer aktuell sein.

Mit der Anerkennung der einen Heiligen Schrift als Grundlage des christlichen Glaubens stellt sich das Problem eines angemessenen christlichen Verständnisses des Alten Testaments. Es geht darum, das historische, also vorchristliche, und das christliche Verständnis alttestamentlicher Aussagen zueinander in Beziehung zu setzen. Indem Grotius zwischen der historischen Bedeutung alttestamentlicher Texte und ihrer christlichen Rezeption unterscheidet, ist er moderner als eine Exegese, die allein den historisch-kritisch zu erhebenden Ursprungssinn eines Textes gelten lässt. Eine Beschränkung auf den Ursprungssinn kann angesichts der mittlerweile unbestrittenen Mitarbeit der Leser bei der Aktualisierung des Textsinns, der Grundeinsicht der Rezeptionsästhetik, heute nur noch als überholt gelten. Umgekehrt erscheint es aus heutiger Sicht angemessen, wenn Grotius’ Hoheliedauslegung zwischen dem ursprünglichen Textsinn als Gespräch zwischen Brautleuten, der nachvollziehbaren jüdischen Applikation und der darauf aufbauenden christlichen Applikation unterscheidet, wobei keine dieser Applikationen hermeneutisch illegitim ist.

Die theologische Relevanz dieses von Grotius vertretenen rezeptionshermeneutischen Zugangs zu alttestamentlichen Texten liegt darin, dass er neben dem christlichen Verständnis Raum lässt für andere Verstehensweisen, v.a. das jüdische Verständnis. Damit ist eine inkriminierende Kritik des jüdischen Umgangs mit dem Alten Testament, wie sie bei Luther vorliegt, ausgeschlossen. Das schließt die Diskussion darüber, ob die christliche oder jüdische Applikation den Sinnpotentialen eines alttestamentlichen Textes eher gerecht wird, nicht aus. So vertritt Grotius in den Annotationes zu Jes 53, dass mit dem leidenden → Gottesknecht ursprünglich Jeremia gemeint sei (I, 323a,42-325a,6). Aus christlicher Sicht sei Jeremia aber als figura Christi zu verstehen, schon im Targum wird der Text messianisch gedeutet (I, 323a,42-44 [zu Jes 52,13]). Im Rahmen seiner Argumentation (refutatio) gegen das Judentum in De vertitate V weist Grotius darauf hin, dass die „neueren Juden“ (recentiores Iudaei) den Gottesknecht von Jes 53 mit dem Volk Israel identifizieren. Diese Deutung lege der Text aber nicht nahe. Grotius sieht die Dinge differenziert genug, um darauf hinzuweisen, dass auch antiqui Hebraeorum Magistri eine messianische Deutung vertraten, die sich auf zwei Messiasgestalten, einen Josephs- und einen Davidssohn, bezog. Die einfachste und dem Text angemessenste Deutung sei es aber, bei dem Gottesknecht, der durch Leiden zur Herrschaft kommt, nur an eine Gestalt zu denken – das aber kann nach dem christlichen Glauben nur Jesus sein (III, 85a,36-85b,22). Damit entscheidet sich die jüdisch-christliche Differenz nicht eigentlich am alttestamentlichen Text, sondern zunächst an der Frage der Glaubwürdigkeit des neutestamentlichen Zeugnisses über Person und Wirken Jesu Christi, die aber auf das Verständnis des alttestamentlichen Textes zurückwirkt.

Grotius’ Arbeit am Alten Testament bietet damit einen Ansatz zum toleranten Neben-, vielleicht auch teilweisen Miteinander von christlichem und jüdischem Umgang mit alttestamentlichen Texten, ohne dass eine der beiden Seiten genötigt wäre, ihr spezifisches Verständnis aufzugeben. Auch darin liegt ein bleibend aktueller theologischer Anstoß, obwohl selbst der Friedensdenker Grotius nicht frei von der Vorstellung war, dass sich die Christen mit den Gegnern ihres Glaubens, darunter ausdrücklich den Juden, in einem Kampf befinden, in dem die impii schlichten christlichen Gemütern verborgenes Gift verabreichen (III, 3b,23-4a,5). Angesichts heutiger Bedingungen, unter denen der Wettbewerb der Religionen und Weltanschauungen nicht mehr vor allem in fremden Ländern stattfindet, sondern auch innerhalb der eigenen Gesellschaft, ist es auf das Ganze seines Werkes gesehen zweifellos in Grotius’ Sinn, das Feindbild, das er noch mit den „Unfrommen“ verband, zu überwinden, die religiösen Differenzen nicht zu verschweigen, sich aber friedlich argumentativ über diese Fragen auszutauschen und es zu respektieren, wenn Andersdenkende und Andersglaubende die eigene Überzeugung nicht teilen.

Literaturverzeichnis

1. Quellenausgaben

1.1. Grotius-Ausgabe

  • I-III: Hugo Grotius, Opera Omnia Theologica. Faksimile-Neudruck der Ausgabe Amsterdam 1679, Stuttgart-Bad Cannstadt 1972

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Abbildungsverzeichnis

  • Hugo Grotius (Gemälde von Michiel van Mierevelt, 1631).

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