Deutsche Bibelgesellschaft

(erstellt: Mai 2006)

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1. Titel und Ort im Kanon

In der Hebräischen Bibel gehört das Hohelied zusammen mit den Büchern → Rut, → Klagelieder (Threni), → Prediger (Kohelet) und → Ester zu den fünf → Megilloth („Festrollen“) im dritten Kanonteil (→ Kanon). Nach jüdischer Tradition wird es am → Passa verlesen. In der Lutherbibel steht es nach Kohelet und vor Jesaja.

Der Titel des Buches ist der Sammlung sekundär vorangestellt. Er lautet in Hhld 1,1 „Lied der Lieder“ (שׁיר השׁירים; šîr haššîrîm; griech. ἄσμα ἀσμάτων ásma asmátōn), was superlativisch zu verstehen ist und von Luther deswegen mit „das Hohelied“ wiedergegeben wird. Die folgende Zuschreibung „an Salomo“ (לשׁלמה) erinnert an die 3000 Sprüche und 1005 Lieder, die Salomo nach 1Kön 5,12 komponiert haben soll, und berührt sich mit der Zuschreibung einer Reihe von Psalmen (→ Psalter) „an David“ (לדויד). Die Verbindung mit Salomo ist der erste Schritt zu einem religiösen Verständnis, da nun ein weiser Mann als Autor des Buches zu gelten hat, der auch als Verfasser anderer biblischer Dokumente erscheint (vgl. das Buch der → Sprüche Salomos).

2. Aufbau und Form

Das Hohelied ist eine (lockere) Sammlung von profanen Liebesgedichten, die sich einer exakten kultischen und gesellschaftlichen Verortung entzieht. Dies wird insbesondere dann deutlich, wenn man erkennt, dass eine Reihe von Verhaltensweisen etc., die im Hohenlied selbstverständlich sind, im übrigen Alten Testament kritisiert werden (vgl. etwa Hhld 1,16-7 mit Hos 4,13; Hhld 4,9 mit Jes 3,16 sowie Hhld 1,13 und Hhld 4,14 mit Spr 7,17). Der literarisch-soziologische Kontext ist – neben dem Alten Testament – der östliche Mittelmeerraum (Müller, 2005a, 245-259) bzw. die altorientalische und ägyptische Liebespoesie (Exum, 2005, 47-63; Keel, 1992). Es dürfte schwer fallen, eine planvoll angelegte literarische Struktur im Hohenlied zu finden (anders Exum, 2005; Heinevetter, 1988).

Hoheslied 1

Eine Reihe von Gedichten des Hohenliedes lassen sich spezifischen Gattungen zuordnen (grundlegend hierzu Horst, 1935, 176-187). Vermutlich die längste und auch älteste Tradition steht hinter dem sog. Beschreibungslied (arab. waṣf zu dieser Gattung außerhalb des Hohenliedes vgl. Bernat, 327-349), das seinen Ursprung in den kultischen Beschreibungshymnen für Götter haben dürfte (vgl. Foster, 2005, 85-86). Die erotischen Beschreibungen finden sich im Hohenlied sowohl für die Frau (Hhld 2,2; Hhld 4,1-7.12-15; → Frauen in der Literatur des AT 10.6), als auch für den Mann (Hhld 2,3.8-9; Hhld 5,10-16 vgl. auch Hhld 3,9-11). Große Ähnlichkeit hierzu hat das Bewunderungslied, welches den Partner immer direkt anredet und dessen Wirkung auf den Betrachter selbst bezieht (für die Frau Hhld 1,9-11.15; Hhld 3,6-8; Hhld 4,1-7.9-11; Hhld 6,4-7.10; Hhld 7,1-7.8-10; für den Mann Hhld 1,16-17 und Hhld 2,1-3, aber immer nur in wechselnder Bewunderung; vgl. Horst 1935, 176). Dazu gesellen sich Prahllieder (Hhld 6,8-9a; Hhld 8,11-12) und Selbstschilderungen (Hhld 1,5-6; Hhld 2,1; Hhld 8,10). Ebenso begegnet im Hohenlied die sog. Türklage (Paraklausithyron, Hhld 2,10-14; Hhld 5,2b), welche schon aus Ägypten bekannt ist und in Griechenland prominent wird. Neben diesen durch eine feste Form charakterisierten Gattungen finden sich freier gestaltete Sehnsuchtslieder (der Frau: Hhld 1,2-4; Hhld 2,4-16; Hhld 7,12-13; Hhld 8,1-2.6-7, des Mannes: Hhld 8,13-14), Dialoge oder Rollengedichte (Hhld 1,7-8.15-17; Hhld 2,1-3; Hhld 4,12-5,1; Hhld 8,8-10) und eine Reihe von sog. Erlebnisschilderungen, die die Natur als Rahmen für die erotischen Begegnungen hervorheben (für die Frau: Hhld 2,8-14; Hhld 6,2; Hhld 8,5b; für den Mann: Hhld 6,11). Abschließend sei noch auf die beiden Traumschilderungen der Frau in Hhld 3,1-5 und Hhld 5,2-8 hingewiesen.

Diese Liste der Gattungen ließe sich beinahe beliebig erweitern. Das erscheint aber wenig sinnvoll, da bereits die oben angesprochenen Klassifikationen nicht frei von Problemen sind. Diese werden darüber hinaus dem lyrischen Charakter der Gedichte des Hohenlieds nicht gerecht. So ist beispielsweise das Beschreibungslied formal definiert, das Bewunderungslied jedoch inhaltlich, bzw. stimmungsmäßig.

Eine Reihe von kleineren (versprengten?) poetischen Einheiten (Hhld 1,12.13-14; Hhld 2,6-7.15; Hhld 4,8; Hhld 7,11.14), sowie redaktionelle Verse (Hhld 5,9.16b; Hhld 6,1) können nicht eindeutig einer Gattung zugeordnet werden.

3. Motive

Der umfangreichen und detaillierten Studie von Otmar Keel (1984) ist es zu verdanken, dass viele Fehldeutungen bei der Interpretation der verwendeten Bilder und Metaphern nun vermieden werden können. Wichtig ist hierbei, dass bei der Nennung von Körperteilen in der hebräischen Sprache immer ihre Funktion mitgedacht werden muss und nur ganz selten ihre Form im Vordergrund steht. Das Hohelied will keinesfalls nur Äußerlichkeiten beschreiben, und auch die Fremdheit vieler Vergleiche wird so verständlich. Der Schatz der Motive, aus dem die Autoren der Gedichte schöpften, ist neben der Sprache und Kultur Palästinas, die Welt Ägyptens, des Vorderen Orients und Griechenlands. Einseitige Erklärungsversuche aufgrund der Konzentration auf einen Kulturkreis werden der Vielschichtigkeit des Textes nicht gerecht. Ein Beispiel mag genügen, um dies zu verdeutlichen: in Hhld 1,15 (vgl. Hhld 4,1; Hhld 5,12) heißt es „Siehe meine Freundin, du bist schön, siehe du bist schön. Deine Augen (sind) Tauben.“ Dass zu einer Beschreibung der Geliebten die Augen gehören, ist nichts besonderes, da in der antiken Welt das Auge als aktives Organ verstanden wird (vgl. Mt 6,22 „Das Auge ist das Licht des Leibes“). Schwieriger ist der zweite Teil, also der Vergleich der Augen der Geliebten mit Tauben. Da Taubenaugen nicht besonders ausdrucksstark sind und auch keine spezielle Farbe haben, eignen sie sich kaum als tertium comparationis. Erinnert man sich aber daran, dass das hebräische Wort für Auge auch einen dynamischen Aspekt ausdrücken kann (vgl. Ez 1,7; Dan 10,6; Prov 23,31), wird deutlich, dass das Alte Testament hier nicht an die Form denkt. Dementsprechend übersetzt O. Keel „Deine Blicke sind Tauben“ (Keel, 1992, 71). Hinzu kommt, dass die Ikonographie darauf hinweist, dass die Taube das Zeichen der Liebesgöttin sein kann (Abbildungen bei Keel, 1984, 143-152). „Die fliegenden Tauben signalisieren die Liebe der Göttin, sie sind Botinnen ihrer Liebe“ (Keel / Uehlinger, 2001, 36). In ähnlicher Weise ist dann auch die Taube als dynamisches Element zu verstehen. Gedacht ist hier an das Schnäbeln von Taubenpaaren, das Zuneigung suggeriert.

Dann begegnen im Hohenlied Texte, in denen die agrikulturellen Bilder entweder landwirtschaftlich zu erklären sind oder erotische Assoziationen evozieren (sog. double entendre, vgl. Exum, 1999, 71-81). Zu denken wäre hier etwa an Hhld 1,6; Hhld 2,15; Hhld 4,12-13.16; Hhld 8,11-12, also an die Texte, in denen die Frau als ein Garten bzw. Weinberg beschrieben wird. Der Weinberg war in der Antike – ähnlich wie der Brunnen – einer der wenigen Orte, wo sich Mann und Frau begegnen konnten, da sie bei der Rebenernte dort zusammen arbeiteten. Von dort ist es nur ein kleiner Schritt, Weinstock und Weinberg als eindeutige Bilder für weibliche Reize zu verstehen. Der landschaftliche Hintergrund wird zum Ausdruck des sexuellen Begehrens, und es bleibt dem Leser überlassen, ob er sich dieser sexuellen Sehnsucht hingibt oder ein „neutraler“ außenstehender Betrachter der ländlichen Welt bleibt.

Das Hohelied kennt (fast) das ganze emotionale Spektrum – es fehlt eigentlich nur die Eifersucht, die in Hhld 8,6 zwar zum Vergleich herangezogen, aber nicht „praktiziert“ wird.

4. Entstehung und „Sitz im Leben“

Verbindungen zur sog. heiligen Hochzeit, wie sie uns aus altorientalischen Quellen bekannt ist, erscheinen beim Hohenlied unwahrscheinlich. Nicht ausgeschlossen aber ist, dass die Gedichte des Hohenliedes auf Hochzeiten gesungen bzw. vorgetragen werden konnten. Die in der älteren Forschung oft vertretene Ansicht, dass es sich beim Hohenlied um einen Text für die Hochzeitsfeier Salomos mit einer ägyptischen Prinzessin handelt, ist ebenso zurückzuweisen, da Salomo im Hohenlied nie direkt angesprochen wird, sondern von ihm immer nur in der 3. Person die Rede ist (vgl. Hhld 1,5; Hhld 3,7.9.11; Hhld 8,11.12).

Es darf nicht unterschätzt werden, dass sich (Liebes-)Poesie in hohem Maße dazu eignet, sich über gesellschaftliche Konventionen hinwegzusetzen und eine Gegenwelt zu der eigenen zu schaffen. Damit liegt der ursprüngliche „Sitz im Leben“ für das einzelne Gedicht wohl in der Tat da, wo sich die Faszination der Liebe, des Verliebtseins und der Sehnsucht nach dem begehrenden und begehrten Menschen den normalen Konventionen des Lebens entzieht. Auf diese Weise werden die Liebenden des Hohenliedes zum Archetypus des liebenden Menschen, der einer genauen Verortung bzw. Spezifizierung nicht länger bedarf.

Die Annäherung an den Geliebten / die Geliebte kann dann auch als Theomorphie verstanden werden, also die Beschreibung des geliebten Gegenübers in numinoser Terminologie. Hierbei darf jedoch nicht vergessen werden, dass der locus amoenus des Hohenliedes sich an der konkreten agrarischen und kulturellen Geographie Palästinas orientiert und diese durch die Optik einer traditionellen erotischen Symbolik wahrgenommen wird. Die Natur des Hohenliedes ist – bei allen Parallelen – noch keine idealisierte Welt, wie sie es dann in der griechischen Hirtendichtung („Bukolik“) seit Theokrit (3. Jh. v. Chr.) mehr und mehr wird. Palästina ist noch nicht Arkadien. Diese Normalität steht der Entstehung der idealisierenden lyrischen Kunstpoesie aber nicht entgegen, wie etwa die ägyptische Liebeslyrik beweist.

5. Religion und Mythos

Dem profanen Charakter des Hohenlieds entsprechend findet sich der Gottesname (jhwh) kein einziges Mal in den acht Kapiteln. Das theophore Element in שׁלהבתיה (šalhæbæt-jāh) in Hhld 8,6b dürfte nicht mehr als ein Superlativmorphem („starke Flammen“) sein.

Weiterhin kann das Hohelied im Vergleich mit der Skepsis Kohelets als optimistischer Gegenentwurf einer Naturreligiosität gelesen werden. Diese Naturreligiosität schöpft aus mythischen Erinnerungsresten und verklärt die Realität. So entsteht eine Gegenwelt für die Zivilisationsflucht wie sie auch bei Alkaios v. Mytilene (7./6. Jh. v. Chr.) begegnet. Dazu kommen ganz offensichtliche magische Konnotationen, wie etwa der Gebrauch von „Äpfeln“ bzw. „Granatäpfeln“ in Hhld 2,5 (Hhld 8,2b) und die Feststellung des Mannes „Du hast mich verzaubert, meine Schwester, Braut, du hast mich verzaubert mit einem Blick deiner Augen, mit einem Glied deiner Halsketten“ in Hhld 4,9. Ebenso ist zu überlegen, ob die Erotik des Hohenliedes nicht als (magischer) Schutz gegen den allgegenwärtigen Tod gesehen werden kann.

6. Antike Liebeslyrik

Auch wenn der Hauptreferenzrahmen der Interpretation des Hohenlieds die Welt und Sprache des Alten Testaments sein muss, werden eine Vielzahl der Bilder und Metaphern erst lebendig, wenn man die Umwelt Israels in die Auslegung einbezieht. Der Blick auf die Liebeslyrik eben dieser Umwelt ist also unverzichtbar.

6.1. Das Alte Testament

Liebeslyrik außerhalb des Hohenliedes ist im Alten Testament nicht weit verbreitet. Dies ist kaum verwunderlich, wenn man sich bewusst ist, dass in Israel Liebe und Erotik als profane Phänomene betrachtet wurden, von denen man nicht auf das Gottesverhältnis schließen kann. Allerdings blendet das Alte Testament weder in den Rechtstexten (vgl. Dtn 21,15-17) noch in den Erzählungen das Liebesverhältnis aus, auch wenn es sich in der erster Linie auf die Ehe bezieht. Die Liebe lässt einen die Zeit vergessen (Gen 29,16-18.20) und kann über Kinderlosigkeit hinwegtrösten (1Sam 1,5). Es kann sowohl vom Manne als auch von der Frau (1Sam 18,20) gesagt werden, dass er liebt bzw. verliebt ist. Die vielleicht engsten Parallelen zum Hohenlied finden sich in Ps 45.

6.2. Ägypten

Wie die Lyrik des Hohenliedes sind auch die Liebeslieder aus der Zeit des → Neuen Reiches profane Lieder, die sich aber religiöser Sprache bedienen können, um Bewunderung oder Gefühle auszudrücken. So kann z.B. das Mädchen in den Kairoer Liebesliedern ihren Geliebten als „mein Gott“ anreden.

Bei der Durchsicht der ägyptischen Liebeslieder wird deutlich, dass sich eine Reihe von motivlich-inhaltlichen Berührungspunkten hervorheben lassen: so kann der Geliebte König oder Hirt genannt werden, die Liebenden nennen sich Bruder und Schwester und verstehen sich als einzigartig. Ort der Liebe ist der Garten mit seiner Vegetation (bes. Bäume), so dass die Liebenden von Früchten, Blüten, Tieren etc. umgeben sind, die die Sinne stimulieren. Weiterhin kann die Sehnsucht als Krankheit beschrieben werden. Dazu führen die Liebenden Gespräche, in denen sie sich gegenseitig beschreiben. Wie genau die ägyptische Literatur auf das Hohelied gewirkt hat, ist schwer zu bestimmen, man darf aber sicher auf einen langen Zeitraum des ägyptischen Einflusses schließen.

6.3. Alter Orient

Hoheslied Abb 2 Liebe

Aus der Fülle der altorientalischen Quellen (vgl. TUAT II 689-91.740-50) soll hier besonders das Gedicht Nabû und Tašmetu hervorgehoben werden, welches zu Recht als ein assyrisches Hoheslied beschrieben werden kann (Text und Übersetzung in Nissinen,1998, 585-634, vgl. SAA 3, Nr.14). Bei allen Gemeinsamkeiten darf aber nicht vergessen werden, dass es sich bei Nabû und Tašmetu um die Liebe zweier Götter handelt und wir bei einem Vergleich paralleler Motive die unterschiedlichen religiösen Konzeptionen zu beachten haben.

Ein weiterer – noch nicht einschlägig untersuchter – Textkomplex, der zu Vergleichen herangezogen werden könnte, sind möglicherweise die Texte zur babylonisch-assyrischen Morphoskopie, also der Omentexte, die Vorhersagen aus physiognomischen Phänomenen des männlichen und weiblichen Körpers treffen wollen. Eventuell lassen sich aus den hier genannten Körperteilen weitere Einsichten in die Auffassung des gendered body im Hohenlied gewinnen.

6.4. Griechenland

Die neuere Forschung am Hohenlied hat sich erneut daran erinnert, dass auch die Welt der griechischen Liebeslyrik (z. B. Sappho, Alkaios v. Mytilene und Theokrit) in die Interpretation der Texte des Hohenliedes einbezogen werden muss. Die Suche nach Parallelen aus dem griechischen Schrifttum ist noch nicht abgeschlossen, und die aufmerksame Lektüre wird weitere Texte zum Vergleich zu Tage fördern. Auch in diesen Texten steht die profane Liebe zwischen Mann und Frau (bzw. die gleichgeschlechtliche Beziehung) im Vordergrund, die sich dem streng gefassten Rahmen der sozialen Normen entzieht. Auch die griechische Liebeslyrik will versuchen, das Verhältnis der Geschlechter zueinander zu definieren, und so gelingt es ihr, den konservativen Gegensatz von maskuliner und femininer Welt durch neue Deutungsparadigmen zu ergänzen bzw. zu ersetzten.

7. Datierung

Eine genaue Datierung der Sammlung als Ganzes bzw. einzelner Gedichte des Hohenliedes ist selbstverständlich schwierig. Es ist sicher nicht auszuschließen, dass einzelne Passagen aus vorexilischer Zeit stammen können (vgl. etwa Hhld 1,9-11; Hhld 6,4-7), aber daraus eine Datierung der nun vorliegenden Sammlung in die frühe Königszeit abzuleiten, dürfte dem sprachlichen Befund nicht gerecht werden. Eine detaillierte sprachliche Analyse kann zeigen, dass die Sprache des Hohenliedes am ehesten als „spätes Hebräisch“ bezeichnet werden kann, welches sich bereits auf dem Wege zum Hebräisch der Mischna befindet – dies ist auch dann noch möglich, wenn man das vermeintlich griechische Lehnwort אפריון (’appirjôn) = φορεῖoν (phoreíon) in Hhld 3,9, bzw. das altiranische Fremdwort פרדס (pardes) in Hhld 4,13 nicht zu Datierungsfragen heranzieht. Weitere Indizien für eine späte Datierung der endgültigen Sammlung des Hohenliedes sind die frappierenden thematischen Parallelen aus dem griechischen Umfeld, die vielleicht nach Alexandria als Entstehungsort weisen. Jericke stützt diese Datierung mit Beobachtungen zu den im Hohenlied genannten Ortsnamen und den vorausgesetzten territorialgeschichtlichen Verhältnissen.

8. Das Verhältnis der Geschlechter

Aufgrund der formalen Beobachtung, dass die Frau im Hohenlied öfter und intensiver über Liebe zu sprechen scheint, ist die Überlegung angestellt worden, ob das Hohelied nicht von einer Frau verfasst sein könnte und so ein Manifest der weiblichen Sicht der Dinge in der Hebräischen Bibel ist. Dieser strikte Formalismus verkennt jedoch, dass die Frau des Hohenliedes durchaus eine Kreation – um nicht zu sagen eine sexuelle Phantasie (so Clines, 1995, 102-106) – männlicher Autoren sein kann.

Der Mann des Hohenliedes scheint für den Leser das Bild der Frau zu schaffen und den Leser einzuladen, seinem Blick (gaze) zu folgen. Dabei bleibt es dem Leser überlassen, ob er die Frau wie ein Voyeur anstarren will und sie so zum (Lust-)Objekt macht oder ob er dem erotischen Blick des Mannes folgt und so an dessen Bewunderung, Sehnen und Wunsch nach Vereinigung teilhaben möchte, in der die Frau zum Subjekt der Liebe wird. Demgegenüber konstruiert die Frau ihren Geliebten fast nur durch ihre Stimme: sie zitiert ihn (etwas, was der Mann des Hohenliedes nie tut), und natürlich blickt auch sie ihn an, aber dies geschieht völlig anders, als es beim Mann der Fall ist.

Ähnlich problematisch ist der Versuch, das Hohelied als (biblisches) Manifest der Pornographie zu sehen (Boer, 1999, 53-70), da diese Art der Lektüre dem Charakter und Ansinnen des biblischen Textes kaum gerecht wird.

Wie sich das Hohelied schon bei der Frage nach dem Sitz im Leben einer genauen gesellschaftlichen Verortung entzieht, ist dies auch bei der Frage nach dem Verhältnis der Geschlechter der Fall. Das Hohelied will die Liebe zelebrieren, will zeigen, dass Mann und Frau ihre Liebe unterschiedlich ausdrücken, der Text will eine Einladung an den Leser sein, einzutauchen in die Welt des Hohenliedes, sich im Text wiederzufinden – jedoch ohne sich Gedanken zu machen, ob bereits der Text uns eine maskuline oder feminine Brille aufsetzen will, mit der wir ihn zu lesen haben.

9. Auslegungsgeschichte

Die Auslegungsgeschichte des Hohenliedes beginnt bereits in der hebräischen Bibel selbst, indem die anonymen Liebeslieder König Salomo zugeschrieben werden.

Die allegorische Auslegung scheint bereits in früher Zeit angelegt gewesen zu sein – so wird z.B. in 4Esra 5,24.26 „Lilie“ und „Taube“ als Bezeichnung für das auserwählte Volk verwandt. Daneben werden Motive, die an das Hohelied erinnern, zur Beschreibung überirdischer Schönheit gebraucht (vgl. Joseph und Aseneth 18,9-11; Text Pseudepigraphen) und noch im 2. Jh. n. Chr. weist die Polemik Rabbi → Akibas gegen das Singen des Hohenliedes in der Kneipe auf einen profanen Gebrauch der Schrift (Tosefta Sanhedrin 12,10; vgl. Babylonischer Talmud, Traktat Sanhedrin 101a; Text Talmud).

In der jüdischen und christlichen Tradition dominiert bis in die Neuzeit die allegorische Deutung auf die Liebe zwischen Gott und Israel bzw. der Kirche. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass Ausleger wie etwa Moses ibn Tibbon das Hohelied im 13. Jh. dazu benutzen konnten, um in scholastische Kontroversen einzugreifen und eine Anti-Philosophie zu schaffen, die Deutungen initiiert und für alle offenstehend ist. In der christlichen Tradition erlangte die allegorische Auslegung in den 86 Sermones des Bernhard v. Clairvaux ihren Höhepunkt (sog. Brautmystik). Auf protestantischer Seite seien hier noch zwei Kantaten Johann Sebastian Bachs aus den Jahren 1726 und 1731 genannt („Ich geh’ und suche mit Verlangen“, BWV 49 [21. Sonntag nach Trinitatis] und „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ BWV 140 [27. Sonntag nach Trinitatis]), die in einfühlsamer Weise die Intimität der Liebenden, also Christi und seiner Kirche, musikalisch darstellen.

Nachdem die Aufklärung das Hohelied als Paradigma für eheliche Treue interpretiert hatte (so jetzt wieder Horine, 2001), rückt mit den grundlegenden Arbeiten Johann Gottfried Herders das profane Verständnis bzw. die Verortung der Lieder in ihrem orientalischen Kontext in den Vordergrund. Allerdings trifft die Bestimmung des Sitzes im Leben als Hochzeitslieder, die Herder u.a. vorschlagen, sicher nicht zu, da sich hier viel zu sehr die romantische Sichtweise widerspiegelt, in den Bauern Syrien-Palästinas die Nachfahren der biblischen Menschen sehen zu wollen.

Literaturverzeichnis

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Abbildungsverzeichnis

  • Salomo und Sulamith; Initiale der Winchester-Bibel (12. Jh.)
  • Liebespaar auf einem Bett (altbabylonische Terrakotte) Aus: U. Winter, Frau und Göttin. Exegetische und ikonographische Studien zum weiblichen Gottesbild im Alten Israel und in dessen Umwelt (OBO 53), Freiburg (Schweiz) / Göttingen 1983, Abb. 360; © Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz

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