Inkubation
(erstellt: Juli 2013)
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Bei der Inkubation handelt es sich um eine spezielle Praxis der → Divination
Die griechischen sowie die aus der „Spätzeit“ Ägyptens bekannten Varianten prägten lange Zeit unser Verständnis und unsere Definition von Inkubation. Inzwischen hat die altorientalistische Forschung vielfältige und zum Teil wesentlich ältere schriftliche Zeugnisse aus Mesopotamien, Ugarit und dem Hethiterreich beigebracht. Die neolithischen Figurinen „schlafender Frauen“ aus Malta sind wohl als die ältesten archäologischen Belege anzusehen. Die weltweit verbreitete Praxis des „Traumsuchens“ war in allen antiken Kulturen des Mittelmeerraums und Mesopotamiens sehr beliebt.
Umstritten ist, ob und wie in der Bibel Inkubationen literarisch vorkommen und ob auch im Alten Israel Inkubation praktiziert wurde. Der von Opfern begleitete Traum → Salomos
Wer fragt, was Inkubation ist, sollte daher drei Ebenen unterscheiden (Kim, 6): erstens eine lexikalische Bestandsaufnahme, die unter Heranziehung archäologischer Daten bereits Hinweise auf die reale Praxis liefert, zweitens deren religionsgeschichtliche Rekonstruktion und drittens die literarische Repräsentation der Inkubation als Motivkomplex, die hier nur an einigen biblischen Texten expliziert wird.
1. Begrifflichkeit
1.1. Lateinische und griechische Begriffe
1.2. Sumerische, akkadische und hethitische Inkubationsformeln
Obwohl die altorientalischen Sprachen keinen festen Begriff für „Inkubation“ kennen, ist das Phänomen gut erkennbar: Die sumerische Formel „sich niederlegen, um einen Traum zu sehen“ (ma-mu[2]-de[3]/-da ba-nu[2]) umschreibt genau die Praxis der Inkubation (Zgoll, 311). Belege begegnen in dem Lugalbanda-Epos, in Dumuzis Traum und Tod, der Sargon-Legende und dem Ochsenpflügerlied. Das Wort für „Traum“ (ma-mu[2].d) bezeichnet dabei ein geprüftes Omen (Zgoll, 60-62.312-314).
Die akkadischen Formeln ähneln den sumerischen, variieren aber in der grammatischen Person und dem Verb für das „Sehen“ (Zgoll, 314-317). Formulierungen in der 3. Person „er lag nieder, um einen Traum zu sehen“ (utūl-ma inaṭṭal šutta) finden sich z.B. in den Assurbanipal-Inschriften, dem Unterweltstraum eines assyrischen Kronprinzen sowie im Gilgamesch- und Etana-Epos. Das Verb „sehen“ (naṭālu) wird in Kombination mit „Traum“ (šuttu) für eine überprüfte Traumoffenbarung gebraucht. Die Formel für die 2. Person „du legst dich hin, um einen Traum zu sehen“ (tanâl-ma šutta tammar) verwendet ein anderes Verb für „sehen“ (amāru) in Kombination mit „Traum“ (šuttu). Damit wird ein noch ungeprüfter Traum bezeichnet. Alternativ kann formuliert werden: „du legst dich hin, um eine Entscheidung zu sehen“ (tanâl-ma purussâ tammar); gemeint ist jene, die der Traum bringen soll. Belege finden sich in den Rituals to obtain a purussû (Butler, 51.68.84; Zgoll, 316).
Die hethitischen Inkubationen, z.B. in der Legende von Naram-Sin und dem Plagengebet Murschilis II., kennen einen festen Ausdruck šuppa / šuppaya šeš „schlafen an einem heiligen Ort bzw. in einer heiligen Art“ (Mouton, 73f.).
1.3. Ugaritische und biblisch-hebräische Formulierungen
In ugaritischen literarischen Träumen, z.B. im Keret-Epos (KTU 1.14 1:26ff) oder Aqhat-Epos (KTU 1.17 1:2ff) „legt“ jemand „sich nieder“ (škb) und ein Gott „nähert sich“ (qrb). Ob der Mensch sich niederlegt, damit er diese Begegnung hat, bleibt unklar (Zgoll, 343-351). Dennoch ergänzen sich beide Texte, in dem sie einige Elemente von Inkubationen nennen, andere jedoch aussparen oder verkürzen. Kim (89-262) erkennt hier literarische Repräsentationen von Inkubation als „typische Szene“ bzw. Abfolge von Motiven (u.a. das Motiv der Kinderlosigkeit wie in 1Sam 1
Die Verkürzung der Darstellung fällt auch an biblischen Texten auf; feste Formeln gibt es nicht, lediglich Indizien: Samuel „legt sich nieder“ (škb) und JHWH „kommt“ (bw’; 1Sam 3,9f
1.4. Ägyptisches Vokabular
Der älteste ägyptische Text, der mit Inkubation in Zusammenhang gebracht wird, stammt aus der Ersten Zwischenzeit (2206-2041 v. Chr.). Der Schreiber der Steleninschrift, Merirtifi, hofft, seine verstorbene Frau Nebetotef im Traum zu sehen. Umstritten bleibt, ob er einen solchen an ihrem Grab bewusst herbeiführt (kritisch Szpakowska, 143f.). Gleiches gilt für den Traum Thutmosis’ IV. auf der Sphinx-Stele. In hieroglyphischen und hieratischen Inschriften, die vom Schlaf in Heiligtümern berichten, werden die üblichen Wörter für Traum (rsw.t bzw. qd) nicht erwähnt. Einige Zeugnisse aus dem → Neuen Reich
2. Die Praxis der Inkubation
2.1. Ursprünge
Zumindest die griechische Inkubationspraxis besitzt einen chtonischen Hintergrund; oft wird dazu auf Riten am Plutonium in Acharaka bei Nysa am Mäander (Strabo, Geographie 14,44; Text gr. und lat. Autoren
2.2. Vielfalt der Tempel und lokalen Traditionen
Aus Griechenland sind über 200 Inkubationsorte bekannt, die z.T. voneinander abhängig sind. Epidauros ist der berühmteste. Hier berichtet eine Inschrift, wie der Kult vom „Mutterheiligtum“ nach Halieis kommt: Als ein Kranker ohne Vision wieder heimfährt, heilt ihn eine der Schlangen (drákōn) von Epidauros, die sich um die Wagenachse gewunden hatte, in seinem Haus. Die vorsichtige Stadt befragt den delphischen Apollon, ob man das heilige Tier zurücksenden müsse. Dieser befindet jedoch, dass man die Schlange behalten und ein neues Asklepieion bauen solle (Stele B 69-82; LiDonnici, 110). Wenn auch Pausanias (Beschreibung Griechenlands 2,26,8; Text gr. und lat. Autoren
Im ptolemäischen Ägypten pilgerte man nach Hermopolis, Karnak, Philae und vielen anderen Orten; Strabo (Geographie 17,17) berichtet, dass Vielbeschäftigte sogar Stellvertreter zum Serapis-Schrein nach Canobus entsandten. Neben Orakelsprüchen suchten v.a. Kranke Heilung ihrer Leiden und kinderlose Paare das Ende ihres Wartens. Die Geschichte von Satni und seiner Frau Mahituaskhit erzählt z.B. deren Reise zum Imhotep-Tempel in Memphis, wo sie im Traum eine Kur gegen die Unfruchtbarkeit empfangen. In Mesopotamien gab es ebenfalls eine große Vielfalt derartiger Heiligtümer (Übersicht bei Zgoll 320f.). In Israel und Juda könnten → Bethel
2.3. Antike Heilgötter
Bestimmten Göttern wurde Macht zugeschrieben, Leben nehmen und wieder geben zu können. Früh wurde der Zeussohn Apollon verehrt, dessen Pfeile tödliche Krankheiten wie die Pest (Homer, Ilias 1.1; Text gr. und lat. Autoren
2.4. Die Rituale
Inkubationsrituale waren z.T. umfangreich und komplex gestaltet. Sie konnten sich über Tage hinziehen (Zgoll 324f.). Zwar fehlen in vielen Berichten die Details, es gibt aber Ausnahmen wie den Gudea-Zylinder (A 6:14-7:8), das Sakralgesetz des Asklepieions von Pergamon (Habicht / Wörrle) oder die Hieroí lógoi des Aelius Aristides (Schröder). Im Unterschied zum alltäglichen Kult sowie institutionellen Divinationspraktiken ermöglicht die Inkubation den direkten Kontakt der Ratsuchenden mit Gottheiten an „uralten“ heiligen Orten. Umso mehr ist daher für die „Laien“ rituelle Reinheit gefordert. Diese Reinheit wird durch Waschungen oder Bäder sowie einen perfekt gewählten Zeitpunkt erreicht, v.a. aber durch ausführliche Opfer, die einer Vielzahl von Göttern gewidmet sein können. Zu den Opfergaben zählen Wasser, Öl, Mehl o.ä., aber auch teurere Schlachtungen von Tieren sowie Räucheropfer bzw. ausgelegte Kräuter für den Wohlgeruch. In Pergamon opferte man dem Asklepios Kuchen, in Oropos dem Amphiaros Widder. Rituelle Klagen, exzessives Weinen und Gebete machen die Problemlage deutlich. Das „reine Lager“ wird möglichst nah an das Heiligtum gerückt. Während die griechischen „Enkoimeteria“ ummauert waren, wurden die Schlafstätten im Alten Orient oft auf dem Dach der Heiligtümer platziert (vgl. 1Sam 9,25f
Ein Weihrelief für Amphiaros (in der Pose des Asklepios) zeigt einen Skalpellschnitt oder eine Salbung (Abb. 5). Die ausgedehnten Anlagen griechischer Heiligtümer legen nahe, dass der Kurbetrieb neben den eigentlichen Therapien wie z.B. Bädern auch kulturelle Veranstaltungen umfasste und ein reges Wirtschaftsleben erblühen ließ (Abb. 6). Meist wurde eine Gebühr für das Heiligtum bezahlt, manchmal wie in Oropos Geld in die heilige Quelle geworfen (Pausanias, Beschreibung Griechenlands 1,34,4). Zudem besprach man den Traum mit den Priestern. Es ist davon auszugehen, dass die Visionen bzw. Bildträume nach dem Erwachen in Worte gefasst, durch Experten gedeutet und als Orakelsprüche oder Traumanweisungen niedergeschrieben wurden. In einer weiteren Stufe der Rezeption erscheinen sie dann als ausgewählte Inschriften, die die offizielle Selbstdarstellung des jeweiligen Heiligtums unterstützen.
Nicht alle diese Elemente tauchen in den Inkubationsberichten auf (Zgoll, 342f.348). Die verschiedenen Stationen mussten weder an allen Orten vollständig durchgeführt werden, noch mussten die Berichte sie alle erwähnen, obgleich sie durchgeführt wurden. Inkubation ist nicht unbedingt an bestimmte Räume gebunden. Dass sie außerhalb von Heiligtümern stattfindet, ist jedoch nur literarisch bezeugt. Inkubationen waren räumlich und zeitlich unterschiedlich ausgeprägt. Der Grundgedanke und die wesentlichen Vollzüge jedoch sind transkultureller Art. Der Traum dient dazu, Probleme aus dem Wachzustand zu bearbeiten. In einigen Kulturen wie den indigenen nordamerikanischen, aber auch der altägyptischen ist nicht einmal der sonst übliche Schlaf für eine Inkubation notwendig, denn der Traum wird vom Zustand einer Vision im Wachzustand nicht unterschieden.
3. Literarische Inkubationen in der Bibel
Angesichts ihrer Verbreitung in anderen Kulturen ist anzunehmen, dass die Inkubation auch in Israel praktiziert wurde – damit ist aber noch nichts über die Ansichten der biblischen Autoren gesagt. Da der → Traum
3.1. Jakob in Bethel (Gen 28,10-22)
Jakob entdeckt „zufällig“ die Heiligkeit „des“ Ortes. Dieser ist geheimnisvoll verhüllt, aber nur für → Jakob
3.2. Jakob in Beerscheba (Gen 46,1-5)
Beerscheba ist in Leserichtung der Bibel als bestehendes Heiligtum Abrahams und Isaaks bekannt (Gen 21,33
3.3. Die Israeliten in Bethel (Ri 20,18-28; 21,2-4)
Viermal, immer von abends bis morgens, befragen die Israeliten JHWH – wie der Kommentar Ri 20,28
3.4. Hannah in Silo (1Sam 1,1-2,11)
→ Hannah
3.5. Samuel in Silo (1Sam 3,1-21)
Auf den ersten Blick ist 1Sam 3,1-21
3.6. Samuel und Saul (1Sam 9; 15; 28)
Die entscheidenden Ereignisse im Leben → Sauls
1Sam 15,1
Die allerletzte Botschaft Samuels in 1Sam 28
3.7. Salomo in Gibeon (1Kön 3,1-15; vgl. 2Chr 1,2-13)
Der Text gehört zur Geschichte des Königtums → Salomos
Literaturverzeichnis
1. Lexikonartikel
- Reallexikon für Antike und Christentum, Stuttgart 1950ff.
- Lexikon der Ägyptologie, Wiesbaden 1975-1992
- Neues Bibel-Lexikon, Zürich u.a. 1991-2001
- Der Neue Pauly, Stuttgart / Weimar 1996-2003
- Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2007
- Wörterbuch alttestamentlicher Motive, Darmstadt 2013
2. Weitere Literatur
- Butler, S.A.L., 1998, Mesopotamian Conceptions of Dreams and Dream Rituals (AOAT 258), Münster
- Delekat, L., 1967, Asylie und Schutzorakel am Zionheiligtum Eine Untersuchung zu den privaten Feindpsalmen. Mit zwei Exkursen, Leiden
- Habicht, C. / Wörrle, M., 1969, Die Inschriften des Asklepieions, Altertümer von Pergamon VIII 3, Berlin
- Husser, J.-M., 1999, Art. Songe, DBS 12 (1999), 1439-1540 = ders., Dreams and Dream Narratives in the Biblical World, translated by J.M. Munro (Biblical Seminar 63), Sheffield
- Marciniak, M., 1981, Un texte inédit de Deir el-Bahari, BIFAO 81 (supplément), 283-291
- Mouton, A., 2003, Usages privés et publics de lʼincubation dʼaprès les textes hittites, JANER 3, 15-86
- Mouton, A., 2007, Rêves hittites, Leiden
- Kim, K., 2011, Incubation as a Type-Scene in the ʼAqhatu, Kirta, and Hannah Stories. A Form-Critical and Narratological Study of KTU 1.14 I-1.15 III, 1.17 I-II, and 1 Samuel 1:1-2:11, Leiden
- LiDonnici, L.R., 1995, The Epidaurian Miracle Inscriptions. Text, Translation and Commentary, Atlanta, Georgia
- Oppenheim, L., 1956, The Interpretation of Dreams in the Ancient Near East: With a Translation of the Assyrian Dream Book, Philadelphia PA
- Otto, E., 1960, Das ägyptische Mundöffnungsritual, Wiesbaden
- Philips, A.K., 1986, Observation on the Alleged New Kingdom Sanatorium at Deir el-Bahari, GM 89, 77-83
- Schroeder, C., 2000, Psalm 3 und das Traumorakel des von Feinden bedrängten Beters, Biblica 81, 243-251
- Schröder, H.O., 1986, Publius Aelius Aristides. Heilige Berichte, Heidelberg
- Szpakowska, K., 2003, Behind Closed Eyes. Dreams and Nightmares in Ancient Egypt, Swansea
- Zgoll, A., 2006, Traum und Welterleben im antiken Mesopotamien. Traumtheorie und Traumpraxis im 3.-1. Jt. v. Chr. als Horizont einer Kulturgeschichte des Träumens (AOAT 333), Münster
Abbildungsverzeichnis
- Oropos, Stoa mit Enkoímētērion. © J. Lanckau, 2013
- Epidauros, Blick über das Enkoímētērion zum Tempel. © J. Lanckau, 2006
- Replik einer Statue des Asklepios. © J. Lanckau, 2006
- Ärztliche Instrumente. © J. Lanckau, 2006
- Replik des Weihreliefs des Archinos für Amphiaros. © J. Lanckau, 2006
- Theater von Epidauros. © J. Lanckau, 2006
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