Jesus Sirach / Jesus Sirachbuch
(erstellt: August 2006)
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1. Historischer, kultureller und religiöser Kontext im frühen 2. Jh.
Nach Alexander dem Großen erlangten die in Ägypten regierenden → Ptolemäer
In Jerusalem strebte neben dem hohepriesterlichen Geschlecht der → Oniaden
Da das Sirachbuch zwar Hinweise auf politische (Sir 36,1-22
Sira wendet sich explizit und nachdrücklich an Jugendliche und entwickelt eine Ausbildungsalternative (vgl. das Lehrhaus; Sir 51,23
Neben diesen Problemen scheint auch der Familienzusammenhalt nicht mehr gesichert. Daher braucht man neue Perspektiven, die Sira mit einer neuen Gesellschaftskonzeption schaffen möchte, welche durch Solidarität, Vertrauen und Verschwiegenheit von Gleichgesinnten, Freundeskreisen, geprägt sein soll. Wer entwickelt die Konzepte für die Zukunft? „Es gibt Weise, die für ihr Volk weise sind; die Frucht ihres Wissens ist von Dauer“ (Sir 37,23
2. Verfasser, Name und Buchtitel
Es gibt Vermutungen, dass der Verfasser des Sirachbuches Priester, Landwirt und Grundbesitzer oder Arzt gewesen sei. Sicher ist, dass er gut gebildet war, zumindest zeitweise in der Öffentlichkeit eine Rolle gespielt hat, die Bibel hervorragend kannte, sich zu den Weisen rechnete und Jugendliche unterrichtete.
Zum Namen des Verfassers werden in der Überlieferung unterschiedliche Angaben gemacht. Schon in der hebräischen Handschrift B (s.u.) werden zwei Kolophone überliefert; darüber hinaus nennt auch der Enkel seinen Großvater mit Namen. Die Quellen ergeben folgenden Befund:
Erste Variante in Sir 50,27c:
- H(B): Schim‛on, Sohn Jeschua‛s, Sohn El‛asars, Sohn Siras
- Syr: –
- G: Jesus, Sohn Sirachs Eleazar, der Jerusalemer
- La: Jesus, Sohn Sirachs des Eleazar, ein Jerusalemer
Zweite Variante in Sir 51,30d+:
- H(B): a) Schim‛on, Sohn Jeschua‛s, der genannt wird Sohn Siras; b) Schim‛on, Sohn Jeschua‛s, Sohn El‛asars, Sohn Siras
- Syr 7a1: Sohn Asiras
- Syr 7h3 : Jeschua‛, Sohn Schim‛ons, der genannt wird Sohn Asiras
- G: Jesus, Sohn Sirachs
- La: Jesus, Sohn Sirachs des Eleazar
Dritte Variante im Prolog Sir 0,7:
- G Sir 0,7: Jesus
Die Veränderung von Sira zu Sirach mag auf ein Missverständnis zurückgehen (Kuhn 1929, 289): an den Namen ΣΕΙΡΑ SEIRA könnte ein hebräisches Aleph gesetzt worden sein, um das undeklinierbare Fremdwort zu markieren. Dieses „Schlusszeichen“ hat man später für den ähnlich aussehenden Buchstaben chi gehalten.
Die These, dass der Verfasser Jesus, Sohn des El‛asar, hieß (Gilbert 1984, 292), geht davon aus, dass Schim‛on irrtümlich aus Sir 50,1
Das Buch erhielt feste Bezeichnungen: in der rabbinischen Tradition „Ben Sira“ (vgl. u. 4.), in der syrischen „Bar Asira“, in der griechischen „Jesus Sirach“ und in der lateinischen „Ecclesiasticus“.
3. Textgeschichte, Textzeugen, Übersetzungen und Editionen
3.1. Die hebräischen Texte
Obwohl es in der hebräischen jüdischen Literatur frühe Zitate (vgl. u. 4.) aus dem Buch Ben Sira gibt, war es Jahrhunderte lang nur in Übersetzungen zugänglich, im Westen in griechischer und lateinischer, im Osten in syrischer Sprache. Aus den Übersetzungen weiß man, dass das Buch 51 und in der lateinischen Fassung sogar 52 Kapitel umfasst. Grundlegend veränderte sich die Situation, als man 1896 erste größere hebräische Fragmente (vgl. 3.4.1.) entdeckte. Aufgrund weiterer bedeutender Fragmentenfunde in Qumran (1947) und Masada (1964) sind inzwischen ca. 64% des Textes in hebräischer Sprache zugänglich (Reiterer 1998, 26-28). Doch muss es sich bei diesen Texten keineswegs um den „Urtext“ im Sinne der Erstschrift Ben Siras handeln. Häufig sind nur Teile von Kola erhalten, so dass die Kola-, Vers- bzw. Zeilenzählung einen größeren Bestand als den tatsächlich greifbaren anzeigt.
3.2. Die Septuaginta-Version
Angesichts des fragmentarischen Charakters der hebräischen Belege ist die Beschreibung des Buches Sira auf die → Septuaginta
3.3. Das Problem der Kapitel-Zählung
Die Blattvertauschung in der LXX: In Sir 30,24-37,1
Zählung in der Vulgata: Die Vulgata-Version hat einen ohne Umstellungen durchlaufenden Text und zählt die Kapitel auch durch. In der Verszählung weicht die Vulgata markant von der griechischen Version ab. Da sich in ihr zudem viele, z.T. umfangreiche Erweiterungen finden, ist es notwendig, diese gesondert auszuweisen.
Zählung in der Peschitta: Die Handschriften der syrischen Version (Peschitta) bestätigen den durchlaufenden Text. Die jüngste Ausgabe von Calduch-Benages u.a. (2003) bietet die Mailänder Handschrift mit durchlaufender Kapitelzählung der lateinischen Version, folgt dieser aber häufig nicht in der Verszählung.
Zählung in den hebräischen Fragmenten: Keine einzelne Handschrift ist so vollständig, dass man das ganze Buch rekonstruieren könnte, und es gibt in den Handschriften keine Zählung. Derzeit werden vor allem drei Texteditionen häufig gebraucht:
(a) Die Polyglotte von Vattioni (1968) richtet sich nach Zieglers textkritischer Edition und übernimmt im griechischen Text die Blattvertauschung (linke Buchseite), weist aber beim hebräischen Text (rechte Buchseite) die durchlaufende Kapitelzählung aus; bei den Versangaben folgt Vattioni auch im hebräischen und syrischen Text der griechischen Version, im lateinischen Text behält er die Vulgatazählung bei.
(b) Die Ausgabe spr bn sjr’ (1973) richtet sich nach Zieglers griechischer Edition. Die Nummerierung wird wie bei der Blattvertauschung im griechischen Text beibehalten, jedoch der Text in zahlenmäßig durchlaufender Form geboten, so dass jetzt eine doppelte Verwechslung vorliegt, da unnötigerweise eine gestörte Zählung in ursprünglich nicht nummerierte Texte eingetragen wird und diese an die dadurch insinuierte, aber falsche Position gestellt werden. In dieser Textausgabe ist darauf zu achten, dass nicht selten Randlesarten ohne Markierung als Haupttext ausgewiesen werden.
(c) Die Edition von Beentjes (1997; 2006) ist bestrebt, den Gesamteindruck der Hss wiederzugeben; vgl. die kolometrische (H[B], H[E], H[F], H[Ma] und H[Q]?) bzw. durchlaufende (H[A], H[C] und H[D]) Textanordnung. Der Editor richtet sich vielfach an der griechischen Zählung aus, folgt aber nicht der Kapitelvertauschung.
3.4. Textzeugen
3.4.1. Der hebräische Text
Aufgeregt und fasziniert von der Entdeckung berichtete Smith Lewis am 13. Mai 1896 der Öffentlichkeit, S. Schechter (Cambridge) habe aus den Manuskripten, die Agnes Smith Lewis und deren Schwester Margareth Dunlop Gibson in Palästina erworben hatten, ein Blatt als Fragment aus dem Buch Ben Sira identifiziert (Reif 2000). Bald darauf veröffentlichte er Sir 39,15-40,6
Übersicht über die hebräischen Handschriften:
- Handschrift A: Sir 3,6b -16,26b.
- Handschrift B: Sir 10,19d-11,10f; 15,1a-16,7b; 30,11a-33,3b; 35,11a-38,27b; 39,15c-51,30d+.
- Handschrift C: Da H[C] eine Anthologie darstellt, sind die einzelnen Passagen nicht so geschlossen: Sir 3,14a-18b.21a-23b; 4,18b.21a-23b+.30a-31b; 5,4a-4b.5a-7d.9a-b.10a-13b; 6,18b-19d.28a-b.35a-b; 7,1-2.4a-b.6a-b.17a-c+.20a-21b.23a-25b; 8,7a-b; 18,31b-33b; 19,1a-2a.3b; 20,5a-7b.13a-b.22a-23b.30a; 25,8a-d.13a-b.17a-22b.23c-24b; 26,1a-3b.13a-b.15a-17b; 36,24a.27a-31d; 37,19a-b.22a-b.24a-b.26a-b; 41,16b-c.
- Handschrift D: Sir 36,29a-38,1a; die Fragmente fanden sich in Paris.
- Handschrift E: Sir 32,16a-34,1b; das Manuskript wurde 1931 gefunden.
- Handschrift F: In das Jahr 1982 fällt der erste Hinweis auf die Existenz von F mit dem Inhalt von: Sir 31,24a-32,7b; 32,12a-33,8b.
- Qumran-Fragmente: Zu den ältesten Funden sind die Qumranbelege zu rechnen. Sie waren es, die den Wert der hebräischen Fragmente in das rechte Licht stellen halfen. In dieser Version sind erhalten: Sir 6,14a.15a.20b.21b. 22b.25b.27b.28b.29b.30b.31b; 51,13a-20c.30a.b.
- Masada-Fragmente: Für die Belegung und die Erforschung der Sprache Ben Siras ist das auf Masada entdeckte Fragment von besonderer Wichtigkeit; es umfasst Sir 39,27a-32b; 40,8a-43,25b; 44,1a-17d.
Mit dem Vorschlag, zwischen einem (älteren) hebräischen Kurztext (H-I) und einem (jüngeren) hebräischen Langtext (H-II) zu unterscheiden, versucht die Forschung die z.T. gravierenden Unterschiede zwischen den hebräischen Handschriften, aber vor allem auch zwischen den sich in den Übersetzungen spiegelnden Vorlagen (vgl. 3.4.4.) zu erklären. Dieser richtige Ansatz baut aber noch auf zu wenigen festen Eckpunkten auf, um ein überzeugendes Textentwicklungs- und Handschriftenrelationsmodell vorlegen zu können. Vielleicht hat schon Sira selbst mehrere Versionen verfasst.
3.4.2. Der griechische Text
Die vom Enkel Ben Siras erstellte Übersetzung – die Hypothesen eines fiktiven oder gar eines im 2. Jh. n. Chr. tätigen Übersetzers sind wenig begründet – bietet im Vorwort Hinweise auf ihre Entstehungszeit und Intention. Die Angaben, dass er im 38. Jahr des Königs Euergetes nach Ägypten kam und sich dort aufhielt (Sir 0,27f), hohe Bildung vorfand (Sir 0,29), sich mit dieser auseinandersetzte und dann nach längerer Zeit eine Übersetzung anfertigte (Sir 0,30), zeigen, dass der historische und soziokulturelle Hintergrund sowohl für das Verständnis wie für die Auslegung von großer Bedeutung ist.
Historischer Kontext: Gemeinsam mit dem seit 180 v. Chr. regierenden Ptolemaios VI. Philometor herrschte zwischen 170-164 v. Chr. als Koregent dessen Bruder Ptolemaios VIII. Euergetes II. (des Öfteren zu Unrecht als Ptolemaios VII. angegeben; vgl. Hölbl 1994, 181.320f). Als Alleinregierungszeiten gelten demnach für Ptolemaios VI. 180-170 v. Chr. und 164-145 v. Chr., für Ptolemaios VIII. Euergetes 145-117 v. Chr. Wenn man die Koregentschaft ab 170 v. Chr. als Regierungsbeginn rechnet, bewegen sich die Angaben des Enkels zwischen 132 v. Chr. und dem Ende der Regierung um 117 v. Chr.
Um die Zeit der Ankunft des Enkels wurde Alexandria von den kriegerischen Wirren um die Regentschaft zwischen Ptolemaios VIII. Euergetes und der Witwe Ptolemaios’ VI., auf deren Seite auch die alexandrinischen Judäer standen, geprägt. Nach der Heirat der beiden beruhigte sich die Lage für die Judäer. Der Enkel Ben Siras fand demzufolge in mehrfacher Hinsicht manche ähnlichen Bedingungen vor, wie sie zur Zeit seines Großvaters geherrscht hatten.
Jüdisch-kulturelles Umfeld: Innerhalb der jüdischen Gemeinde hatte sich im 2. Jh. v. Chr. eine rege geistige Tätigkeit entwickelt, wie man am → Aristeasbrief
Übersetzung als Kulturvermittlung: In diesem von einem gewissen Selbstbewusstsein und zugleich ständigem Ringen um Gleichberechtigung zeugenden Milieu, versucht der Enkel Ben Siras das in seinen Augen hohe kulturelle Niveau Israels einerseits zur Festigung der eigenen Leute, andererseits zum Ausweis der Qualität gegenüber dem hellenistischen Angebot darzulegen (vgl. Sir 0,1-4.29f). Grundgelegt sieht er sein vom Großvater überkommenes Weisheits- und Wissensangebot in der von Gott geschenkten Offenbarung, dem Gesetz (nómos / Tora), den Propheten und anderen Schriften (Sir 0,2.10.25). Im Gegensatz zu den Anspielungen im großväterlichen Text erwähnt er keine über die biblische Offenbarung hinausgehenden Quellen. Den Nachweis der hohen Qualität erbringt er in der Übersetzung. Deren Besonderheiten sind daher nicht verwunderlich: Die elitäre Wortwahl (z.B. viele Hapaxlegomena, auch sonst eher seltene Worte; vgl. Wagner 1999) zeugt von der Intention, ein poetisches Werk zu präsentieren, in dem viele Stilmittel eingesetzt werden, die an sich die hebräische Poesie kennzeichnen (z.B. Assonanz, figura etymologica). Die Übersetzung zielt daher weniger auf „Wörtlichkeit“, als auf terminologische und poetische Brillanz, eine Beobachtung, die für die Textkritik erst noch weiter ausgewertet werden wird.
Innergriechische Textentwicklung: Das griechische Sirabuch, wie es in der Septuagintaüberlieferung überkommen ist, ist keinesfalls durchwegs identisch mit der Übersetzung des Enkels. Nach übereinstimmender Ansicht der Forscher ist zwischen der ursprünglichen Übersetzung des Enkels (G-I), deren älteste Handschriftenbelege aus dem 4. bis 5. Jh. n. Chr. stammen, und mindestens einer jüngeren Textform (G-II) zu unterscheiden. G-II könnte auch eine eigene hebräische Vorlage benutzt haben. Andererseits handelt es sich bei G-II aber wohl auch nicht um eine von G-I unabhängige zweite Übersetzung des Sirabuches.
3.4.3. Der lateinische Text
Die lateinische Übersetzung ist keine reine „Tochterübersetzung“ der LXX-Version. Die Frage, auf welche – vermutliche – G-II-Textform die lateinische Überlieferung zurückgeht, ist noch nicht befriedigend beantwortet, gibt es doch viele Überhänge bzw. Erweiterungen. Übereinstimmungen hebräischer oder syrischer Lesarten mit der lateinischen Überlieferung deuten darauf hin, dass der Vetus Latina, Ausgangspunkt der Vulgata, durch ihre G-II-Vorlage hebräische Lesarten zugänglich waren, welche von der Vorlage des Enkels abweichen, oder dass in Einzelfällen eine Revision auf einer hebräischen Basis erfolgt ist.
3.4.4. Der syrische Text
Trotz mehrfacher Ankündigungen ist bis jetzt keine textkritische Edition zugänglich, doch beginnt das Interesse zu steigen. Negative Folgen hatte das Urteil von Smend aus dem Jahre 1906, die Peschitta des Sirabuches sei „das wohl schlechteste Uebersetzungswerk der syrischen Bibel” und „der Uebersetzer (habe) vielfach nachlässig und leichtfertig gearbeitet” (1906, CXXXVII). Diesem Urteil verfielen Forscher bis zur Gegenwart. Aufgrund der hebräischen Handschriftenfunde ist es unübersehbar, dass die Peschitta des Sirabuches auf der Basis einer hebräischen Vorlage übersetzt wurde. Als semitische und daher dem Hebräischen nahe stehende Übersetzung ist sie eine nicht zu unterschätzende Informationsquelle für die Textüberlieferung. Die Frage, welchen hebräischen Text sie vor sich hatte, ist bis heute nicht befriedigend beantwortet. Es ist auffällig, dass folgende längere Passagen in der syrischen Fassung nicht belegt sind: Sir 11,22-26; Sir 41,13-42,8; Sir 43,11-33; Sir 45,9-14 und Sir 50,18-21; dem stehen Zusätze gegenüber; z.B. Sir 38,18c+. Sir 38,21b+.c+; Sir 39,13c+.39,17b+; Sir 41,12c+-e+; Sir 42,10d+ usw. (alle Belege, Reiterer 2003). Für die u.a. von Nelson vermutete targumische Vorstufe gibt es keine sicheren Anhaltspunkte. Auffällige Übereinstimmungen mit der Septuaginta könnten so gedeutet werden, dass der Peschittaübersetzer auch einen griechischen Text berücksichtigte. Die Probleme sind aber sehr kompliziert, da dort, wo die hebräischen Handschriften untereinander abweichen, allenthalben auch G und Syr je einen hebräischen Text stützen, jedoch die G- und Syr-Belege einerseits zwischen den hebräischen Handschriften wechseln, andererseits auf keinen erhaltenen hebräischen Text zurückgehen (Fallbeispiele: Reiterer 2003, 6-14.51-77).
Was die Entstehungszeit anbelangt, ist der terminus ante quem wohl durch Sira-Zitate in den „Demonstrationen“ Aphrahats gegeben (ca. 337 n. Chr.). Die Peschitta des Sirabuches in ihrer handschriftlich vorliegenden Endfassung ist ein Werk von Christen und enthält christliche Interpretamente, aber nicht unbedingt unverwechselbar christliche Inhalte.
4. Kanon und Akzeptanz
Da es sich bei Sira um eine hebräische Schrift handelt, würde man erwarteten, dass das Buch seinen Platz in der hebräischen Bibel gefunden hat, ist er doch auch ins Griechische übersetzt in das Konvolut der Septuaginta aufgenommen worden. Im frühen pharisäisch-rabbinischen Judentum ist die Stellung zu Ben Sira jedoch lange Zeit ambivalent. Einerseits wird er wie eine heiligen Schrift zitiert (katûb b… / bzw. ktîb b… „geschrieben ist / steht in“; z.B. Midrasch Bereschit Rabba XCI,3; Qohelet Rabba VII,19), andererseits wird er wie das Werk des Ben Tagla als suspekt hingestellt und verboten (Qohelet Rabba XII,11). Nach dem Jerusalemer Talmud Traktat Sanhedrin 28a rechnet R. Akiba in der ersten Hälfte des 2. Jh. n. Chr. jene, die Ben Sira lesen, zu denen, die an der kommenden Welt nicht teilhaben werden. Diese ablehnende Position hat sich dann durchgesetzt.
Im Neuen Testament sind direkte Zitate nicht auszumachen, wohl aber ähnliche Gedanken. Dies gilt vor allem für die Weisheitsvorstellung und die Aussagen zum lógos im Johannesprolog. Auch stilistische Parallelen fallen auf (vgl. Sir 31,10
In der frühen Kirche sind die Stellungnahmen zu Sira bis ins beginnende 5. Jh. unterschiedlich. In seiner Spätzeit zitiert → Origenes
Martin Luther hatte aufgrund seiner These, die Schrift nur in der Ursprache als verbindlich anzusehen, und wegen der hebraica veritas jene Passagen des Alten Testamentes nicht als kanonisch akzeptiert, welche nur in der griechischen Version der LXX zugänglich waren. Daher wurde Ben Sira zu den „Apokryphen“ gerechnet und der Bibel als Anhang beigefügt, was in der Folgezeit zu deren Nichtbeachtung bzw. in der protestantischen Orthodoxie zum Ausschluss führte (vgl. Lohse 1988). Auf dem Konzil zu Trient (1546 n. Chr.) bezeichnet die römische Kirche Ben Sira und andere Bücher ausdrücklich als kanonisch.
5. Sira als literarisches Werk
5.1. Vielzahl und Vielfalt der Themen
In Sira begegnet man manchen Themen besonders häufig: z.B. wird der Wortstamm „Weisheit / weise / weise sein“ – nicht gerechnet Bildung, Wissen usw. – ca. 120 mal gebraucht; verschiedene Schöpfungstermini finden sich in ca. 100 Stichen, ebenso oft werden Begriffe aus dem kultischen Bereich verwendet, z.B. Priester und Opferbezeichnungen; auf „Achtung vor Gott / ihn achten (Gottesfurcht)“ trifft man über 60 Mal. Demgegenüber tritt nómos („Gesetz / Tora“) mit 35 Belegen deutlich zurück. Ferner ist hinzuweisen auf die (außergewöhnliche) Bedeutung und Wirkung des Wortes sowie auf die Themen Bescheidenheit, Ehre und Ansehen, Freundschaft, Verhalten in Gemeinschaft wie z.B. beim Essen und der Bereich Familie (Mann, Frau, Kinder und vor allem berühmte Vorfahren). Weitere Themen wie „arm und reich“ oder „mächtige und einfache Menschen“ kommen hinzu (Sir 4,1-10
Die Häufigkeit der terminologischen Belege ist jedoch nur ein Aspekt, um ihre Bedeutsamkeit zu markieren. Manche dieser Termini / Themen greift Sira heraus und widmet ihnen spezielle Gedichte, z.B. der Weisheit (Sir 1,1-10
5.2. Textsorten
In den 51 Kapiteln trifft man auf eine Vielzahl literarischer Textsorten. Neben den vor allem die Weisheitsliteratur kennzeichnenden Gattungen (wie [Weisheits]sprüchen, Mahnreden, Lehrgedichten, Vergleichen, Makarismen, Zahlensprüchen, Maschal) finden sich auch Gebete (Sir 22,27-23,6
5.3. Elemente des sirazidischen Stils
Der Variantenreichtum an Stilelementen ist im Sirabuch groß, z.B. bei der Gestaltung der Stichen (meistens als Bikola, aber auch Trikola und – selten – Monokola; vgl. Reymond 2004), bei der Anwendung anderer Gestaltungselemente wie Assonanzen, Alliterationen usw. oder beim sorgfältigen inneren Aufbau der Strophen. Die so belegten dichterischen Fertigkeiten Siras (Skehan / Di Lella 1987, 63-74) werden besonders daraus ersichtlich, dass er selbst geprägte Phrasen verändert bzw. mehrdeutig verwendet, ohne schwerfällig oder unverständlich zu werden. Ferner fällt auf, dass Sira verhältnismäßig häufig Dreiergruppen bildet.
Kennzeichnend für Sira ist, dass viele seiner Gedanken zwar als (kurze) Einzelsprüche formuliert, diese aber fast immer in längere Abschnitte eingebunden sind. Als Beispiel für phantasievolle Entfaltung sei auf Sir 7 verwiesen: v1.2 und v36a.b. bilden einen in sich stehenden Spruch, der zugleich als Rahmen für die ganze Einheit fungiert. Innerhalb dieser „Inklusion“ entwickelt Sira sieben in sich straff strukturierte, chiastisch angeordnete, inhaltlich sehr eigenständige Strophen mit verschiedenen Themen: Sir 7,4-7
Oft wird notiert, dass die Themenentwicklung schwer exakt zu definieren ist (z.B. „unsystematisch“; Wischmeyer 1995, 5). Das liegt daran, dass Sira sowohl in den Wortbedeutungen (vgl. Seger 2005), als auch in den Anspielungen Mehrdeutigkeit beabsichtigt (z.B. auf Texte der Offenbarung, die er für verbindlich hält, aber auch auf die Philosophie seiner Zeit). Dadurch entsteht ein vieldeutiges Gesamtergebnis, das besonders auffällig an den Perikopengrenzen zur Wirkung kommt. Daher sind innerhalb größerer Blöcke die Übergänge von einer Einheit zur anderen schwer, manches Mal gar nicht exakt festzulegen (vgl. Sir 26,28-27,29
5.4. Strukturierungselemente
Die Berücksichtigung der ansatzweise schon richtig gesehenen (vgl. „Janusantlitz“ Marböck 1971, 176f; 2004, 848) Mehrdimensionalität, Mehrdeutigkeit und Vielfalt des Buchs ist für das Verständnis des Aufbaus von entscheidender Bedeutung. Diese Vorgegebenheit provoziert geradezu verschiedene Gliederungsvorschläge. Ein Gliederungskriterium kann die Anrede „mein Sohn“ sein, ein anderes die autobiographischen Notizen, ein weiteres weisheitlich-theologische Leittexte (Kaiser 1994, 101f; ders. 2000, 85). Eine innere Struktur des Werkes, die eine logische Abfolge nach abendländischer Form von Systematisierung besitzt, sucht man vergeblich. Mit Akribie sollte der argumentative Weg, der die innersirazidische Argumentationslinie aufdeckt, erhoben werden. Um diese zu erfassen, wird man – unter Berücksichtigung der vom Autor beabsichtigten Polyvalenz vielfältiger Art – von den Anliegen ausgehen, die für Sira besonders zentral sind und die dementsprechend häufig vorkommen. Die Vielfalt der Themen und die damit verbundenen Aspekte lassen keine einfache „Struktur“ erwarten.
5.5. Aufbau
Ohne das Axiom einer makrostrukturellen Dreiteilung (z.B. Kaiser 1994, 101: Sir 1-23; Sir 24-43; Sir 44-50,24
Die Rahmentexte 1,1-10 (1,11-2,18) – 24,1-22 – (51,1-12) 51,13-30. Die „programmatischen Rahmentexte“ (Marböck 2006, 21) Sir 1,1-10
In der äußeren Klammer erfährt man über die Weisheit, dass sie von Gott stammt und von ihm geschaffen wurde, ja, dass er selbst der Weise (Sir 1,1-10
Erster Spannungsbogen (zwischen erstem und zweitem Rahmentext):
(a) Grundlagenweisheit. Ein weiterer Ring ergibt sich durch Sir 4,11-19
(c) Angewandte Weisheit. Der auf Praxis ausgerichtete Gedichtsblock setzt sich von Sünde und Torheit (Sir 19,20-24
Zweiter Spannungsbogen (zwischen zweitem und drittem Rahmentext):
(a) Hier bildet der schriftgelehrte (das Wort wird man in einem weiten Sinne zu verstehen haben) Weise die Mitte (Jes 38,24-39,11
(b) Innerhalb dieses Bogens finden sich auffallend viele größere Passagen in paarweiser Entsprechung: z.B. Einheiten zur Frau (Sir 25,8
(c) Der größere Teil sehr konkreter Lebensbereiche erscheint vor dem großen Abschnitt über den Schriftgelehrten. Es geht um den Umgang mit dem Nächsten (Sir 28,1-26
(d) Nach der Passage über den schriftgelehrten Weisen geht es vor allem um lebensentscheidend Unausweichliches, z.B. verschiedene Übel (Sir 40,1-11
(e) Es folgt ein großer Abschnitt zum Gotteslob, dann ein Überblick über die eigene Geschichte, die mit den Priestern endet (Sir 50). Daran zeigt er, dass in der Krisenzeit die Förderung des Priestertums und die gesellschaftliche Rolle des Weisen (Buchende: Sir 51,13-30
5.6. Siras Bezüge zur biblischen Offenbarung und anderer Literatur
Die Untersuchung der Beziehungen zwischen Sira und dem übrigen Alten Testament konzentriert sich auf zwei Aspekte. (a) Eine Fragestellung richtet sich auf Personen, vor allem auf jene, die im Lob der Väter aufgenommen worden sind. Besonderes Interesse genießt das Priestertum und vor allem der Hohepriester Simon (Sir 50). (b) Andere Untersuchungen erkunden, wie Sira – eher subtil, da er keine längeren wörtlichen Zitate aus protokanonischen Büchern bietet – biblische Bücher (vgl. die Beiträge in Corley 2005), Texte (z.B. solche aus dem Dekalog) und Themen aufnimmt und verwendet. Auch die Beziehungen zu anderer deuterokanonischer Literatur werden in die Untersuchungen aufgenommen.
Arkandisziplin ist Sira fremd. Er ist bestrebt, dass seine Lehre öffentliche Wirksamkeit erzielt: „Verborgene Weisheit und versteckter Schatz: was nützen sie beide?“ (Sir 20,30
Mehrfach wurde schon notiert, dass Siras Schrift Anklänge zur gnomischen Literatur der Griechen aufweist. Auch wurde eine Vielzahl von mehr oder weniger starken Berührungen und Einflüssen ausgemacht, so zur levantischen Weisheit, zur spätägyptischen und vor allem zur griechischen Welt, dort besonders zur Stoa (Wicke-Reuter 2000).
6. Ziel
„Sirachs Werk erschöpft sich nicht in der Zusammenstellung von Sprüchen und Mahnworten traditioneller Weisheit zu größeren thematischen Blöcken; es zeugt von kritisch-unterscheidender Begegnung mit seiner Zeit, von Ansätzen zu theologischer Reflexion und Systematik sowie von seiner pädagogisch-religiösen Zielsetzung“ (Marböck 2006, 22). Damit vermittelte Sira der jungen Generation seiner Zeit „alle Aspekte der Bildung, … die ein junger Mann in Israel um 200 v. Chr. brauchte“ (Wischmeyer 1995, 4). So erscheint Sira in gewisser Weise als politischer Weiser (Reiterer 2006).
Dem Buch liegt eine mehrdimensionale Konzeption von Weisheit zugrunde: (a) Als Grundlagenweisheit (vgl. oben 5.5) ist sie von Gott geschaffen, (b) gleichsam dessen immaterielles und vormaterielles „Werkzeug“ in Schöpfung und Geschichte. (c) Als angewandte Weisheit (vgl. oben 5.5) ist sie universal die Grundlage rechter Einstellung, die sich dann – auf Israel konzentriert – (d) vor allem in der Achtung vor Gott konkretisiert, die die individuelle Frömmigkeit prägt und (e) ferner die Befähigung und Fertigkeit darstellt, das Leben in schwieriger Zeit zu bewältigen. Sie ist daher für theologische Grundeinsichten und Darstellung zentraler Zusammenhänge genauso wichtig wie für alle Bereiche des Lebens, individuelle wie gesellschaftliche, wirtschaftliche wie politische.
Siras Theologie ruht auf der Rolle des Schöpfers, die alle Grundpositionen durchdringt. Ihren konkreten Ausdruck findet sie in der Tora. Auch sie versteht Sira mehrdimensional: (a) die Tora ist ganz allgemein die Offenbarung Gottes, kann sich (b) in der Offenbarung des Mose konkretisieren und wird (c) in Einzelvorschriften verwirklicht, zu denen neben den Geboten im protokanonischen Alten Testament auch die Ratschläge und Lebensregeln Siras zählen. Gepaart ist die Tora mit der Achtung vor Gott: „Wer das Gesetz befolgt, beherrscht seinen Trieb, und Gottesfurcht ist vollendete Weisheit“ (Sir 21,11
Sira argumentiert grundsätzlich optimistisch und verkündet Freude am und im Leben (Sir 30,15-25
7. Hinweise zur Wirkungsgeschichte
Weil man die kanonische Relevanz diskutierte, setzte man sich schon früh ausdrücklich argumentativ mit dem Wert des Buches auseinander. Schon → Origenes
Literaturverzeichnis
1. Lexikonartikel
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- Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1977-2004
- Neues Bibel-Lexikon, Zürich u.a. 1991-2001
- The Anchor Bible Dictionary, New York 1992
- Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Freiburg i.Br. 1993-2001
- Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998ff.
- Calwer Bibellexikon, Stuttgart 2003
2. Textausgaben in Auswahl und Übersetzungen
- Beentjes, P.C., 2006, The Book of Ben Sira in Hebrew. A Text Edition of all extant Hebrew Manuscripts and a Synopsis of all parallel Hebrew Ben Sira Texts (VT.S 68), Leiden u.a. 1997 = Atlanta
- Biblia Sacra iuxta versionem simplicem quae dicitur Pschitta 2, 1951, Beirut, 204-255
- Calduch-Benages, N. / Ferrer, J. / Liesen, J., 2003, La sabiduría del escriba. Edición diplomática del texto siríaco de Ben Sira según el códice Ambrosiano con traducción española e inglesa (Biblioteca Midrásica 24), Estella
- Kaiser, O., 2005, Weisheit für das Leben. Das Buch Jesus Sirach. Übersetzt und eingeleitet, Stuttgart
- Rahlfs, A., 1935, Septuaginta. Id est Vetus Testamentum graece iuxta LXX interpretes I.II, Stuttgart (9. Aufl. 1979)
- Sapientia Salomonis. Liber Hiesu Filii Sirach cum praefationibus et variis capitulorum seriebus, 1964, Biblia Sacra, iuxta latinam Vulgatam versionem … XII, Rom
- Sauer, G., 1981, Jesus Sirach (Ben Sira) (JSHRZ III,5), Gütersloh
- Smend, R., 1906, Die Weisheit des Jesus Sirach Hebräisch und Deutsch. Mit einem hebräischen Glossar, Berlin
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