Kanon (AT)
(erstellt: Mai 2007; letzte Änderung: April 2009)
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1. Der Begriff „Kanon“
Vom 4. Jh. an wird κανών kanōn bzw. lateinisch canon für kirchenrechtliche Bestimmungen bzw. synodale Grundsatzentscheidungen gebraucht (vgl. „kanonisches Recht“ für „Kirchenrecht“), in der zweiten Hälfte des 4. Jh.s dann für die als verbindlich anerkannte, im Wortlaut nicht mehr veränderliche Sammlung der (heiligen) Schriften (→ Bibel
In diesem Sinne beschreibt der Terminus die jeweilige Sammlung als heilig geltender Schriften der jüdischen und christlichen Glaubensgemeinschaften, also die jüdischen und christlichen Formen der Bibel. In der Religionswissenschaft fand eine Übertragung des Begriffs auch auf autoritative Texte anderer Religionen statt. Schließlich spricht man heute etwa auch von einem „Kanon der deutschen Literatur“ und meint damit bedeutende Werke der Literatur, die man gelesen haben sollte, eine „Pflichtlektüre“ für Interessierte und Gebildete.
2. Der vielschichtige Entstehungsprozess des jüdisch-christlichen Kanons
Die Bildung eines Kanons setzt die Existenz von Schriften voraus, die im Unterschied zu anderen Schriften als verbindlich und heilig angesehen werden, d.h. sie werden in besonderer Weise mit der Gottheit in Verbindung gebracht: Es herrscht die Überzeugung, dass diese Schriften göttliche Offenbarung sind oder enthalten. Die Inspiriertheit bildet somit ein Kriterium für die Bestimmung einer Schrift als kanonisch und damit autoritativ. Dies führt zu einer Eingrenzung möglicher Verfasser. Kriterien für die Kanonizität von Schriften werden – zumeist rückwirkend – entworfen, um aus einer vorhandenen Fülle von Schriften gezielt eine begrenzte Auswahl zu treffen.
Die Entstehung eines Kanons erfolgt in einem lange währenden Prozess: Die meisten Schriften, die später den Tenach bzw. das Alte Testament bilden, entstehen über einen längeren Zeitraum, in dem sie überliefert und dabei fortgeschrieben werden. In diesem Umgang mit ihnen zeigt sich bereits eine besondere Wertschätzung: sie gelten als autoritativ, ohne dass bereits eine offizielle Kanonisierung stattgefunden hätte. In der Endphase des Kanonisierungsprozesses gibt es Diskussionen über die Zugehörigkeit bzw. den Ausschluss einzelner Schriften. Dies geht mit der mehr oder minder offiziellen Festsetzung des Kanonumfanges einher. Die Auswahl einer begrenzten Zahl von Schriften aus einem größeren Reservoir bringt es mit sich, dass religiöses Schrifttum, das keine Aufnahme in den Kanon fand, zwar weiterhin gelesen und gebraucht wird, jedoch einen niedrigeren Rang einnimmt als die kanonischen Bücher (Deuterokanonen, → Apokryphen
Die Entscheidung für einen Kanon ist motiviert durch die Notwendigkeit der Identitätsfindung oder Identitätswahrung der Glaubensgemeinschaft. Eine Kanonentscheidung bedeutet daher auch immer eine Abgrenzung nach innen von anderen Gruppierungen oder Richtungen der eigenen Glaubensgemeinschaft oder nach außen von anderen Religionen. Wenngleich ein Kanon zunächst als unveränderliche Größe intendiert ist, birgt er dennoch das Potential der Veränderung: wenn Ausdifferenzierungen oder Aufspaltungen innerhalb der Glaubensgemeinschaft auftreten, kann es bei den „Neuerern“ auch Veränderungen im Blick auf den Kanon geben.
Weder der jüdische noch der christliche „Kanon“ war und ist eine eindeutige Größe. Deshalb hat sich das wissenschaftliche Interesse an dem Prozess der Kanonisierung als einem äußerst komplexen Vorgang in jüngster Zeit verstärkt.
3. Der Tenach
3.1. Der Begriff
„Tenach“ ist die in der jüdischen Glaubensgemeinschaft [seit dem Mittelalter] gebräuchliche Bezeichnung für die hebräische oder jüdische Bibel. Der Begriff wird auch zur Abgrenzung vom christlichen Alten Testament verwendet. Er beruht auf der Dreiteilung des hebräischen Kanons in die Tora („Weisung“), die Nebi’im („Propheten“) und Ketubim („Schriften“). Aus den Anfangsbuchstaben der drei Kanonteile wurde in der hebräischen Konsonantenschrift der Terminus TNK gebildet, gesprochen „Tenach“ (geschrieben auch Tenak; Tanach oder Tenakh). Alternativ dazu kann „Tora“ pars pro toto den ganzen hebräischen Kanon bezeichnen, ein Indiz dafür, dass dieser Teil als der wichtigste angesehen wird.
3.2. Das allmähliche Werden des Tenach und seiner Teile
3.2.1. Tora („Weisung“)
Die → Tora
Die fünf Bücher der Tora bieten einerseits Erzählungen von der Schöpfung über die drei Erzväter Abraham, Isaak und Jakob, den Auszug aus Ägypten und die Wüstenwanderung bis kurz vor die Einwanderung in das verheißene Land; andererseits sind in diese Erzählungen Gesetzestexte und -sammlungen eingearbeitet, die „Weisung“ im eigentlichen Sinne.
Die Tora ist der Teil des Tenach, der als erster faktisch kanonischen Rang genoss. Zwei Umstände belegen dies: Die fünf Bücher der Tora wurden als erste unter den späteren biblischen Schriften ins Griechische übersetzt (vgl. Brief des Aristeas; s.u.), damit sie auch den Griechisch sprechenden Juden in der Diaspora verständlich und zugänglich blieb. Außerdem kennt die Glaubensgemeinschaft der → Samaritaner
Eine frühe, wenn nicht die früheste Phase des Kanonisierungsprozesses wird gern mit der Auffindung eines Buches unter König → Josia
In der Verlesung des Buches der Weisung des Mose (sefær tôrat mošæh, Neh 8,1
3.2.2. Nebi’im („Propheten“)
Der zweite Kanonteil (→ Prophetenbücher
Hinzu treten die schriftprophetischen Bücher, die „späteren“ oder „hinteren“ Propheten, nämlich Jesaja, Jeremia und Ezechiel als „große Propheten“ und die meist als ein Buch gezählten zwölf „kleinen Propheten“ Hosea, Joel, Amos, Obadja, Jona, Micha, Nahum, Habakuk, Zefanja, Haggai, Sacharja und Maleachi (griechisch Dodekapropheton → „Zwölfprophetenbuch
Der Komplex „Propheten“ erhielt ebenfalls kanonisches Ansehen, allerdings später als die Tora; die älteste griechische Übersetzung ist jünger und weniger sorgfältig als die der Tora. Man geht davon aus, dass der Prophetenkanon im 2. Jh. v. Chr. kanonischen Rang besaß, da das Danielbuch, das um 165 v. Chr. verfasst wurde, keine Aufnahme mehr unter den „Propheten“ fand, sondern in die „Schriften“ eingereiht wurde.
Fraglich ist, wie man es bewertet, dass Daniel in Qumran (4Q174 1,4) und Mt 24,15
Im Babylonischen Talmud (Schabbat 13b; Text Talmud
Als Beleg für die faktische Kanonizität der beiden ersten Kanonteile „Gesetz“ und „Propheten“ können die Verweise im Neuen Testament dienen (→ Bibel
3.2.3. Ketubim („Schriften“)
Zuletzt bildete sich ein dritter Teil, der die sehr allgemeine Bezeichnung „Schriften“ erhielt, weil hier Bücher unterschiedlicher Inhalte und literarischer → Gattungen
Ein frühes Zeugnis für einen dritten Kanonteil stammt aus → Qumran
→ Philo
Die Offenheit des dritten Kanonteils erklärt auch, dass in die entsprechende griechische Schriftensammlung noch weitere Bücher Eingang finden konnten. Die im Babylonischen → Talmud
Fest steht, dass es einen größeren Bestand an religiösem Schrifttum gab, das später nicht kanonisch wurde (z.B. äthHen); auch dafür mag das Neue Testament als Zeugnis dienen, da dort einige solcher Werke wie Heilige Schrift als Autorität benutzt werden (vgl. etwa Mk 10,19
3.3. Der Abschluss der Kanonisierung des Schriftenbestandes
Der Abschluss der Herausbildung des hebräischen Kanons lässt sich nicht an einem bestimmten zeitlichen Punkt fest machen, wie es längere Zeit in der Forschung geschah: Man pflegte seit den Beiträgen von Graetz (1886) und Buhl (1891) die so genannte „Synode“ (an diesem Begriff wird die analoge Vorstellung zu christlichen Entscheidungsprozessen greifbar) von → Jabne
Greifbar wird der Abschluss des hebräischen Kanons für uns erst gegen Ende des 1. Jh.s n. Chr. durch Zeugnisse, die Zählungen und Auflistungen von Schriften bieten, denen besondere Autorität zugeschrieben wird.
So schreibt Josephus, Contra Apionem I, 38-41 (um 95 n. Chr.; Text gr. und lat. Autoren
Die Zahl von 22 Büchern, die sich nach → Euseb
4Esr (um 100 n. Chr.) zählt 24 kanonische Bücher, weiß aber auch um die Existenz einer großen Zahl apokrypher Schriften. Das Buch stellt Esra als den letzten Propheten dar (12,42; vgl. Tosefta Sota 13,4: „Als Haggai, Sacharja und Maleachi [Letzterer wird mit Esra gleichgesetzt], die letzten Propheten, gestorben waren, schwand der heilige Geist aus Israel“). Nach der Zerstörung des Tempels soll Esra die verlorenen Schriften erneut aufschreiben: „So wurden in 40 Tagen 94 Bücher geschrieben. Und es geschah, als die 40 Tage vollendet waren, dass der Höchste so zu mir redete: Veröffentliche diejenigen, die du zuerst geschrieben hast, dass Würdige und Unwürdige sie lesen können. Die 70 letzten aber sollst du zurückhalten und sie nur den Weisen in deinem Volk übergeben, denn in ihnen ist der Born des Verstehens, die Quelle der Weisheit und der Strom der Erkenntnis.“ (14, 44-47). Auch hier wird das Kriterium der Inspiriertheit des Verfassers deutlich: Die Phase der Inspiration endet mit Esra, d.h. alle kanonischen Schriften müssen nach diesem Kriterium spätestens von Esra verfasst bzw. aufgeschrieben sein.
Eine eindeutige Gliederung und Auflistung eines Bestandes von 24 Einzelbüchern erscheint im Babylonischen Talmud. Dort wird die Tora mit ihren fünf Büchern als selbstverständlich vorausgesetzt. Dann heißt es: „Die Reihenfolge der Propheten ist folgende: Josua, Richter, Samuel, Könige, Jeremia, Ezechiel, Jesaja und die zwölf“ (Baba Batra 14b; Text Talmud
Der hebräische Kanon entwickelt sich in einem lange dauernden Prozess zu einer autoritativen Sammlung von als heilig geltenden Schriften. Dies geschieht zunächst durch entsprechenden Gebrauch dieser Schriften, durch Konvention innerhalb der Glaubensgemeinschaft ausgehend von der Tora als Kern des Kanons. In Teilen der jüdischen Gemeinschaft bleibt diese sogar allein Kanon (Samaritaner, Sadduzäer). Erst gegen Ende der Entwicklung kommt es offensichtlich zu Diskussionen über die Zugehörigkeit oder den Ausschluss einzelner Bücher (Hhld, Pred, Est, Sir, aber auch Ez) und zur expliziten Darlegung von Kriterien für die Schriftenauswahl. Das entscheidende Kriterium ist, dass der Verfasser ein göttlich Inspirierter, ein Prophet ist, der eine göttliche Offenbarung empfangen hat. Dies geschah nur während eines begrenzten Zeitraumes, nämlich von Mose bis Esra. Insofern werden die dann kanonischen Bücher sämtlich Männern zugeschrieben, die man in diese Epoche einordnete: „Mose schrieb sein Buch, den Abschnitt von Bileam [Num 23-24] und Hiob. Josua schrieb sein Buch und die [letzten] acht Verse des Pentateuchs. Samuel schrieb sein Buch, Richter und Rut. David schrieb die Psalmen durch zehn Greise: Adam, den ersten Menschen, Melchisedek, Abraham, Mose, Heman, Jedutun, Asaf und die drei Söhne Korachs. Jeremia schrieb sein Buch, Könige und Klagelieder. Hiskia und sein Kollegium schrieben Jesaja, Sprüche, Hoheslied und Prediger. Die Männer der großen Synagoge schrieben Ezechiel, die Zwölf[propheten], Daniel und die Esterrolle. Esra schrieb sein Buch und die Genealogie der Chronik bis auf seine eigene. /…/ Nehemia führte es zu Ende.“ (Baba Batra 14b-15a; Text Talmud
Dass in der Endphase des Kanonisierungsprozesses noch umstrittene Bücher wie Hoheslied und Prediger akzeptiert wurden, hängt damit zusammen, dass diese in ihren Überschriften Salomo zugeschrieben wurden. Da Ester z. Z. des Perserkönigs Xerxes spielt, fällt es – analog zur Einordnung Daniels in die erzählte Zeit – noch in die Epoche Esras. Das Kriterium des prophetischen Verfassers vor der Zeit Esras führt zum Ausschluss von Ben Sirach.
Der hebräische Kanon erwächst also aus einem sich allmählich herausbildenden Konsens, der – soweit wir es heute beurteilen können – nicht durch einen offiziellen Beschluss eines dazu ermächtigten Gremiums formell bestätigt wurde, sondern durch den entsprechenden Gebrauch dieser Schriftensammlung in Gottesdienst und Lehre. Die endgültige Verfestigung des Kanons in der zweiten Hälfte des 1. Jh.s n. Chr. erfolgt gerade zu dieser Zeit, weil die historischen Lebensumstände der jüdischen Glaubensgemeinschaft einmal mehr nach einer Klärung ihrer Identität verlangten. Nach der Zerstörung des Tempels 70 n. Chr. und der Vertreibung aus Jerusalem als Folge des Bar-Kochba-Aufstandes 132/133 ergab sich angesichts des endgültigen Verlusts der kultischen Mitte die Notwendigkeit einer gemeinsamen Orientierungsbasis und zugleich einer Abgrenzung nach außen, nämlich gegen apokalyptisch ausgerichtete Gruppierungen und vor allem gegenüber den Christen, die die Septuaginta (und damit einen etwas umfangreicheren Kanon) zunehmend für sich vereinnahmten. Diese Abgrenzung äußerte sich auch im Festhalten an der hebräischen Sprache (statt des Griechischen) und der Schriftrolle (statt des Codex).
3.4. Die Abfolge der Einzelschriften
Die einzelnen Bücher, die später den Tenach bilden sollten, lagen – wie sämtliche umfangreichere Literatur der damaligen Zeit in Palästina – in Form von Schriftrollen vor. Damit spielt die Reihenfolge der Bücher im Einzelnen zunächst keine so wichtige Rolle wie beim Codex, der uns bis heute geläufigen Gestalt von Büchern, bei dem eine Festlegung der Abfolge notwendig ist, wenn man einen Sammelband aus Einzelschriften erstellt. Voll zum Tragen kommt die Festlegung also erst, wenn man Schriftrollen herstellt, die mehr als eine Einzelschrift enthalten, spätestens bei der Herstellung von Vollbibeln in Codexform. Dennoch ist die Reihenfolge von Anfang an nicht völlig beliebig. Bei der Tora ist die Anordnung der Bücher durch den Erzählverlauf vorgegeben – hier hat es fast ausnahmslos die Folge Gen Ex Lev Num Dtn gegeben (vgl. jedoch Melito von Sardes, um 190, bei Euseb, Historia ecclesiastica 4,26,14 (Bibliothek der Kirchenväter
Bei den „hinteren Propheten“ variiert die Stellung des Jesajabuches, das an erster Stelle, aber auch in dritter Position (vgl. Baba Batra 14b; Text Talmud
Die größte Variabilität findet sich im Komplex der „Schriften“, wenngleich sich auch hier frühzeitig einige wenige Konventionen abzeichnen. Abgesehen von der Kopfstellung des Psalters, die in der Rabbinerbibel gegeben ist, finden sich auch Rut (vgl. Baba Batra 14b; Text Talmud
3.5. Der abgestufte Rang der Teile des Tenach
Die Anordnung der Kanonteile spiegelt nicht nur die Entstehungsgeschichte des Kanons wider, sie trifft auch eine Aussage über ihren autoritativen Rang. Die → Tora
4. Die Septuaginta und der griechische Kanon
4.1. Der Begriff „Septuaginta“ (LXX)
Der Name der ältesten griechischen Übersetzung der hebräischen Bibel erfolgte nach ihrer Ursprungslegende. Übersetzt wurde zunächst nur die Tora, die Bezeichnung → „Septuaginta
Laut → Aristeasbrief
Die Erzählung des Aristeasbriefes erfuhr in der Folgezeit eine legendenhafte Steigerung ins Wundersame: Laut Philo (De vita Mosis II 5-7; Text Philo
Hieronymus kritisierte diese legendenhafte Ausschmückung im Prolog zum Pentateuch in der Vulgata: „sie schreiben aber, dass die in einer Halle Versammelten sie verglichen haben, nicht prophezeit haben. Es ist nämlich etwas anderes, ein Seher zu sein als ein Übersetzer“ (sed in una basilica congregatos contulisse scribant, non prophetasse. Aliud est enim vatem, aliud esse interpretem).
Die abgerundete Zahl der Übersetzer führte zur Bezeichnung „Septuaginta“ (LXX). Nachweislich wird sie erstmals bei dem Christen Justin verwendet (Dialogus cum Tryphone 68,7; 71,1 u. ö.; Bibliothek der Kirchenväter
Der Aristeasbrief datiert die Übersetzung der Tora in das 3. Jh. v. Chr., was in etwa den Tatsachen entsprechen dürfte. Die Übertragung des prophetischen Kanons erfolgte später als die des Pentateuchs, noch später wurden die „Schriften“ übersetzt. Die → Septuaginta bildet die bedeutendste griechische Übersetzung der hebräischen Bibel. Da sie für die Bibliothek in Alexandria angefertigt worden sein soll – faktisch für die jüdische Diaspora, die in Alexandria zahlreich vorhanden war –, hat man auch von einem „alexandrinischen Kanon“ gesprochen, der sich in seinem Schriftenbestand vom hebräischen Kanon unterschieden habe. Dieser Vorstellung begegnet man heute mit äußerster Zurückhaltung, ja, betrachtet sie als Irrweg.
4.2. Die LXX als christliches Buch
4.2.1. Der Schriftenbestand
Bereits die neutestamentlichen Schriftsteller haben sich bei Rückgriffen auf die Heilige Schrift der Juden der griechischen Übersetzung in Gestalt der LXX bedient. Wegen der christlichen Vereinnahmung der LXX erstellte man im jüdischen Bereich zunächst noch alternative griechische Übersetzungen, bevor sich dort das Hebräische als Sprache der Heiligen Schrift und damit der Tenach fest einbürgerte. Die LXX wurde von den jüdischen Gemeinden aufgegeben. Deshalb stammt die auf uns gekommene handschriftliche Überlieferung der LXX fast ausschließlich aus christlichen Kreisen. Deshalb lässt sich nur schwerlich ermitteln, welche Entwicklung die LXX als jüdische Sammlung im Griechisch sprechenden Judentum nahm und welchen Schriftenbestand sie als solche aufwies. Vermutlich war hier – wie beim hebräischen Kanon – manches im Fluss. Fest steht, dass die LXX mehr Schriften enthält als der Tenach. Dieses Mehr bezeichnet man auf evangelischer Seite als „Apokryphen“, auf katholischer als „Deuterokanonen“. Es handelt sich um Schrifttum, das teilweise aus dem Hebräischen ins Griechische übersetzt, teilweise auch ursprünglich Griechisch verfasst (Weish, 2-4Makk, evtl. → Susanna
Melito von Sardes († um 190, zitiert bei Euseb, Historia ecclesiastica 4,26,14; Bibliothek der Kirchenväter
Athanasius bietet in seinem Osterfestbrief von 367 n. Chr. eine Liste der Schriften des Alten (und Neuen) Testaments und fügt dann hinzu: „Es gibt auch andere Bücher außerhalb von diesen, die zwar nicht kanonisiert, aber von den Vätern dazu bestimmt sind, denen vorgelesen zu werden, die neu hinzukommen und im Wort der Frömmigkeit unterrichtet zu werden wünschen: die Weisheit Salomos, die Weisheit Sirachs, Ester, Judit, Tobias; [für das Neue Testament] die so genannte Apostellehre und der Hirte.“
In den großen Majuskelhandschriften des 4./5. Jh.s (Codex Vaticanus [4. Jh.], Codex Sinaiticus [4. Jh.], Codex Alexandrinus [5. Jh.]) ist die LXX als griechisches Altes Testament greifbar. Alle drei enthalten zusätzlich zum Schriftenbestand des Tenach Judit, Tobit, Jesus Sirach, Sapientia Salomonis sowie die Erweiterungen in Daniel und Ester sowie Ps 151. Im Codex Vaticanus fehlen 1-4Makk, im Codex Sinaiticus 2-3Makk., Codex Alexandrinus hat dagegen 1-4Makk sowie das Buch der 14 Oden (mit dem Gebet des Manasse). Es bleibt die grundsätzliche Frage, ob man aus dem Inhalt der Codices auf den Kanon schließen darf oder nicht (im Codex Vaticanus haben vermutlich Textlücken zum Ausfall von 1. Esra, Baruch und dem Brief Jeremias geführt).
Das 3. Konzil zu Karthago (397 n. Chr.) nimmt insofern eine offizielle Kanonisierung vor, als sie den gottesdienstlichen Gebrauch von Schriften regelt. Sie beschließt, „dass außer den kanonischen Schriften nichts in der Kirche gelesen wird unter der Bezeichnung heiliger Schriften. Kanonische Schriften sind: Genesis, Exodus, Leviticus, Numeri, Deuteronomium, Josua, Richter, Rut, vier Bücher der Könige [= 1-2Sam, 1-2Kön], zwei Bücher der Chronik, Hiob, Davidischer Psalter, fünf Bücher Salomos [= Spr, Pred, Hhld, Weish, Sir], Zwölfprophetenbuch, Jesaja, Jeremia [dazu zählen auch Klgl, Bar, EpJer], Daniel, Ezechiel, Tobit, Judit, Ester, 1-2Makkabäer“ (ut praeter scripturas canonicas nihil in ecclesia legatur sub nomine divinarum scripturarum. Sunt autem canonicae scripturae: Genesis, Exodus, Leviticus, Numeri, Deuteronomium, Jesu Nave, Iudicum, Ruth, Regnorum libri quattuor, Paralipomena libri duo, Iob, Psalterium Davidicum, Salomonis libri quinque, duodecimi libri Prophetarum, Esaias, Ieremias, Daniel, Ezechiel, Tobias, Iudit, Hester, Maccabeorum libri duo; Denzinger / Hünermann, Enchiridion symbolorum, 40. Aufl. 2004, 186).
4.2.2. Die Abfolge der Einzelschriften
Eine wesentliche Veränderung gegenüber dem Tenach erfolgt durch die Anordnung der Einzelschriften, in der sich stärker als im Tenach eine bewusste Entscheidung spiegelt. Zudem werden die zusätzlich einbezogenen „apokryphen“ Bücher unter die hebräischen Schriften eingeordnet.
Auch der Kanon der christlichen LXX ist dreiteilig: Die geschichtlichen Bücher, angeführt durch den Pentateuch, schließen die „Vorderen Propheten“ zuzüglich Rut ein. Außerdem werden weitere erzählende Bücher aus den Ketubim in diesen Teil versetzt und apokryphe Werke angefügt. Die Geschichte erzählenden Schriften sind chronologisch angeordnet: Pentateuch, Jos, Ri, Rut, Sam, Kön, Chr, Esr/Neh, Est (mit Erweiterungen), Jdt, Tob, 1-4Makk.
Die poetischen Bücher umfassen Ps, Spr, Pred, Hhld, Hi sowie Weish und Sir (gelegentlich zuzüglich Oden und GebMan).
Die prophetischen Bücher führt das Zwölfprophetenbuch an (die ersten sechs in gegenüber dem Tenach veränderter Reihenfolge), dahinter stehen Jes, Jer (mit Klgl, Bar und EpJer), Ez, Dan (mit Erweiterungen: Gebet Asarjas [ZusDan 3,1-26
Die Variationen der Abfolge in den drei Codices B, א und A zeigen, dass die Anordnung sich zu dieser Zeit noch nicht verfestigt hat: so erscheinen Propheten vor den poetischen Büchern, danach dann die „kleinen Geschichtswerke“ Ester-4Makk (A). In B folgen Est, Jdt, Tob auf Sir. Gelegentlich finden sich Makk auch in Endposition. Jedoch hat sich die oben genannte Anordnung durchgesetzt.
Hinter dieser Abfolge steht eine christliche Konzeption: Geschichte / Vergangenheit – poetische (Lehr-)Bücher / Gegenwart – Propheten / Zukunft bilden eine Linie, die von dem Rückblick auf die Heilsgeschichte über Schrifttum, das zur Gestaltung des gegenwärtigen Lebens dient, auf die Verheißungen der Propheten zuläuft. Da diese Verheißungen als in Jesus Christus erfüllt angesehen werden, erfolgt die Anordnung im Blick auf das nachfolgende Neue Testament. So ist der „Kanon im Kanon“ eindeutig die Prophetie, während im Mittelpunkt des Tenach die Tora steht.
5. Christliche Formen des Alten Testaments
5.1. Der Begriff „Altes Testament“
Angeregt wird der Begriff „Altes Testament“ durch Paulus, der in 2Kor 3,14
5.2. Das Alte Testament der römisch-katholischen Kirche
Die Heiligen Schriften des Christentums wurden bereits im späten 2. Jh. n. Chr. ins Lateinische übersetzt. Zur maßgeblichen Übersetzung wurde die des Hieronymus, die später sog. → Vulgata
„Dies Vorwort der Schriften, sozusagen ein mit Helm besetzter Anfang für alle Bücher, die wir vom Hebräischen ins Lateinische übersetzen, kann passenderweise dazu dienen, dass wir zu wissen imstande sind, was außerhalb dieser [Schriften] ist, [und] unter die Apokryphen ausgeschieden werden muss. Nämlich die Weisheit, die gewöhnlich als die des Salomo überschrieben wird, und das Buch des Jesus Sirach, Judit und Tobias und der Hirt (des Hermas) sind nicht kanonisch. Das erste Buch der Makkabäer fand ich auf Hebräisch vor, das zweite ist griechisch, weshalb es auch aus eben dieser Sprache gebilligt werden kann. (Hic prologus Scripturarum quasi galeatum principium omnibus libris, quos de hebraeo vertimus in latinum, convenire potest, ut scire valeamus, quicquid extra hos est, inter apocrifa seponendum. Igitur Sapientia, quae vulgo Salomonis inscribitur, et Iesu filii Sirach liber et Iudith et Tobias et Pastor non sunt canone. Macchabeorum primum librum hebraicum repperi, secundus graecus est, quod et ex ipsa φράσιν probari potest.).“
In Reaktion auf die Veränderung des Kanons im Zuge der reformatorischen Übersetzungstätigkeit schrieb die römisch-katholische Kirche 1546 auf dem Konzil zu Trient den Schriftenbestand der Vulgata als verbindlichen Kanon fest und erklärte die Vulgata zur maßgebenden Ausgabe der Schrift (Sessio IV am 8.4.1546; Denzinger / Hünermann, Enchiridion symbolorum, 40. Aufl. 2004, 1501-1506).
Im Verzeichnis der heiligen Bücher werden aus dem Alten Testament aufgeführt: „Die 5 Bücher Mosis, nämlich Genesis, Exodus, Leviticus, Numeri, Deuteronomium; Josue, Richter, Rut, 4 Bücher der Könige, 2 Bücher der Chronik, das erste Buch Esdras und das zweite, das Nehemias heißt, Tobias, Judit, Ester, Job, Davids Psalmenbuch mit 150 Psalmen. Die Sprüche, der Prediger, das Hohelied, Weisheit, Ecclesiasticus, Isaias, Jeremias mit Baruch, Ezechiel, Daniel, die 12 kleinen Propheten, nämlich Osea, Joel, Amos, Abdias, Jonas, Michäas, Nahum, Habakuk, Sophonias, Aggäus, Zacharias, Malachias; 2 Bücher der Makkabäer, das erste und zweite.“ (Denzinger / Hünermann, Enchiridion symbolorum, 40. Aufl. 2004, 1502).
5.3. Das Alte Testament der reformatorischen Kirchen
Luther übersetzte beide Teile der christlichen Bibel humanistischen Grundsätzen entsprechend aus der jeweiligen Originalsprache, das Alte Testament also aus dem Hebräischen bzw. Aramäischen. Daher entspricht der Schriftenbestand des protestantischen Alten Testaments dem des Tenach. Die Anordnung der Schriften folgt jedoch der Tradition der LXX bzw. Vulgata. Die über den Tenach hinaus gehenden Schriften der LXX, die „Apokryphen“, stehen in der Lutherbibel von 1534 als gesonderter Teil zwischen Altem und Neuem Testament unter der Überschrift „Apocrypha: Das sind Bücher: so der heiligen Schrifft nicht gleich gehalten vnd doch nützlich vnd gut zu lesen sind“, nämlich: Jdt, Weish, Tob, Sir, Bar mit EpJer, Makk sowie Stücke zu Est und Dan.
Literaturverzeichnis
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