Keduscha
Andere Schreibweise: Qeduscha; Qedusha (engl.); Kedusha (engl.); Qedushah (engl.); Kedushah (engl.); Qeduša; Kadiš
(erstellt: Februar 2012)
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1. Text
Als Keduscha („Heiligung“, „Sanctus“) wird ein zentrales Gebetstück der jüdischen Liturgie bezeichnet, das an mehreren Orten Verwendung findet. In der Regel besteht das Gebet aus der Rezitation von drei, mit einer Einleitung vorgetragenen Schriftstellen: Jes 6,3
2. Entstehung
Grundmotive der Keduscha lassen sich bereits in Texten aus → Qumran
Aufgrund unklarer Terminologie ist nicht zu erschließen, welche Version der Keduscha anfänglich in der rabbinischen Bewegung Aufnahme in das Gebet gefunden hat: Tosefta Berakhot 1,9 erwähnt Rabbi Joschua ben Levi (3. Jh. n. Chr.) eine Keduscha, die von einem Vorbeter rezitiert wird (wohl bei der Wiederholung des → Achtzehngebetes
Etwa zur gleichen Zeit der ersten Nennung der Keduscha in der rabbinischen Liturgie erfolgt ihre Erwähnung in den Apostolischen Constitutionen 8,12. Unsicher, weil nicht innerhalb eindeutig als jüdisch zu identifizierender Schriften überliefert, sind die Belege für eine frühe Verwendung der Keduscha in der „hellenistischen Synagoge“ in 2Henoch 21,1 und Testamentum Isaak 6,5.24 (Böttrich; dazu Löhr, 383).
In den → Targumim
Aufgrund des Mangels an Belegen für die Entwicklung der Keduscha in der frühen rabbinischen Literatur, kommt dem Zeugnis in den liturgischen Dichtungen aus Palästina (Pijjutim) besondere Bedeutung zu (Fleischer). Die Keduscha erscheint in der rabbinisch geprägten Liturgie ab dem 9. Jh. (Siddur Rav Saadja Gaon; [eingeschränkt auch Seder Rav Amram Gaon]) an drei liturgischen Orten: im Morgengebet, im Achtzehngebet und nach dem Lehrvortrag.
3. Verschiedene Fassungen
3.1. Keduscha de-Jozer („Heiligung im Morgengebet“)
3.1.1. Text (nach einer aschkenasischen Standardrezension)
„Gepriesen seist du, unser Fels, unser König und unser Erlöser, der du die heiligen Wesen erschaffen, gerühmt sei dein Name immerdar, unser König, der die Diener gebildet, und seine Diener stehen alle in der Höhe der Welt und lassen Ehrfurcht insgesamt laut die Worte des lebendigen Gottes und Königs der Welt vernehmen. Alle sind sie in Liebe vereint, alle auserlesen, alle voll Kraft, und alle vollziehen in Bangen und Ehrfurcht den Willen ihres Schöpfers, alle öffnen ihren Mund in Heiligkeit und Reinheit, mit Lob und Gesang, und preisen und rühmen, verherrlichen und erheben, heiligen und huldigen dem Namen Gottes, des Königs, des großen, starken und furchtbaren, heilig ist er. Und alle nehmen auf sich das Joch der himmlischen Herrschaft, einer vom anderen, und erteilen sich Erlaubnis, einer dem andern, ihren Schöpfer zu heiligen in seliger Ruhe, mit lauter Sprache und voll Anmut stimmen sie die Heiligung alle insgesamt an und sprechen mit Ehrfurcht: Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth, voll ist die Erde seiner Herrlichkeit. Die Chajot lobsingen, die Kerubim preisen, die Serafim jubeln, die Erelim loben, das Angesicht jeder Chaja, jedes Ofan und Kerub ist den Serafim gegenüber. Gelobt sei die Herrlichkeit des Ewigen von seiner Stätte aus.“
3.1.2. Als Keduscha de-Jozer wird die von der Gemeinde gesprochene Keduscha im ersten Segensspruch vor der Rezitation des → Schema-Gebetes
Die frühen Pijjutim zur Keduscha de-Jozer setzen deren regelmäßige liturgische Verwendung voraus. Wurde eine Keduscha an bestimmten Tagen nicht gesprochen, finden sich dazu keine Pijjutim. Offenbar wurde die Keduscha demnach im älteren palästinischen Ritus nur an Sabbaten und Feiertagen rezitiert. Doch auch dies erfolgte wohl nur in einigen Gemeinden, wie die Handschriftenfunde aus der Kairoer Geniza nahelegen. Selbst an Schabbatot wurde gelegentlich auch weiterhin keine Keduscha eingeführt. Früheste Belege für poetische Bearbeitungen der Keduscha de-Jozer stammen aus der Zeit des Dichters (Pajjetan) Jose ben Jose, etwa gegen Ende der amoräischen Zeit (3.-5. Jh. n. Chr.).
3.2. Keduscha de-Amida („Heiligung im Achtzehngebet“)
3.2.1. Text (nach einer aschkenasischen Standardrezension)
„(Vorbeter) Wir wollen dich preisen und dich heiligen gleich den erhabenen Worten der heiligen Serafim, die deinen Namen in Heiligkeit heiligen, wie geschrieben durch deinen Propheten: Einer ruft dem anderen zu und spricht. (Gemeinde:) Heilig, heilig, heilig der Ewige der Heerscharen, erfüllt ist die Erde von seiner Herrlichkeit! (Vorbeter:) Von seiner Heiligkeit ist das All erfüllt, seine Diener fragen einer den anderen, wo die Stätte seiner Herrlichkeit, ihnen gegenüber stimmen sie Gelobt an. (Gemeinde:) Gelobt sei die Herrlichkeit des Ewigen an seiner Stätte. (Vorbeter:) Von seiner Stätte wende er sich voll Erbarmen und begnadige das Volk, das seinen Namen einzig preist, abends und morgens, jeden Tag beständig zweimal und sprechen sie in Liebe, das Schema.“
3.2.2. Die Keduscha de-Amida wird vom Vorbeter im Wechsel mit der Gemeinde in die Wiederholung des → Achzehngebetes
Im Mittelalter wuchsen dem Text dann unterschiedliche Einleitungsformeln und Verse hinzu. Diese Einleitungen deuten darauf hin, dass die mit der Keduscha verbundenen aggadischen Motive und ihre liturgischen Orte (Morgen- und Musaf-Gebet des Schabbat, und besonders an Wochentagen) lange variierten.
3.3. Keduscha de-Sidra („Heiligung nach dem Lehrvortrag“)
3.3.1. Text (nach einer aschkenasischen Standardrezension)
„Und kommen wird der Erlöser für Zion und die reuigen Sünder in Jakob, spricht der Ewige (Jes 59,20
3.3.2. Als Keduscha de-Sidra wird ein Heiligungsgebet bezeichnet, das in der Regel mit Jes 59,20
Einführung und Funktion der Keduscha de-Sidra in den rabbinisch geprägten Ritus sind umstritten. Schon der Begriff „Sidra“ ist mehrdeutig, kann er doch so viel wie „Lehrhalle“, „Vortrag“ oder auch die „Gesamtheit der Gebete“ bezeichnen. Eine erste Erwähnung findet die Keduscha de-Sidra im Babylonischen Talmud, Traktat Sota 49a, einem Abschnitt der in amoräische Zeit datiert werden kann. Dort wird die Keduscha mit dem → Qaddisch
All diese Versuche basieren auf gaonäischen Schreiben, die weniger an der historischen Rekonstruktion als an der Vermittlung halachischer Entscheidungen interessiert sind. Fraglich bleibt somit, ob in amoräischer Zeit (Babylonischer Talmud, Traktat Sota 49a) mit der Keduscha de-Sidra bereits jene Zusammenstellung von Versen und Targum bezeichnet wurde, die in gaonäischer Zeit und in der Zeit, aus der die frühesten Geniza-Fragmente stammen, bekannt war. Wahrscheinlich hat sich die Keduscha de-Sidra aus einem Gebet im Lehrhaus entwickelt und wurde schließlich in das synagogale Gebet übernommen.
4. Keduscha in der Hekhalot-Literatur
In der frühen jüdischen Mystik übernimmt die Keduscha eine zentrale Funktion im Loblied des Adepten, der die Schau der Merkava unternimmt. Jes 6,3
Während in der älteren Forschung die Einführung der Keduscha (insbesondere der Keduscha de-Jozer) in den synagogalen Gottesdienst oft auf den Einfluss der Merkava-Mystiker zurückgeführt wurde (Bloch), steht man dieser These inzwischen zurückhaltend gegenüber. Zum einen ist das Verhältnis der Trägerkreise der Hekhalot-Literatur zur rabbinischen Literatur nicht eindeutig geklärt: Waren es dieselben Rabbinen, die sich mit Hekhalot-Mystik befassten, wie die, die die anderen Zeugnisse der rabbinischen Bewegung hinterließen? Zum anderen ist die Einführung eines so zentralen Gebetes wie der Keduscha mit einer so deutlich vom „mainstream“ des rabbinischen Judentums abweichenden Gruppe schwer in Einklang zu bringen. Die Beurteilung des Problems hängt eng mit der nach wie vor umstrittenen Frage der Datierung und Herkunft der Hekhalot-Literatur zusammen. Die Beantwortung dieser Frage hängt auch von der Beurteilung der handschriftlichen Überlieferung ab.
5. Keduscha in Magie und Mystik
Unter dem Einfluss der Hekhalot-Literatur wurden schon im frühen Mittelalter besondere Varianten der Keduscha in die Liturgie eingeführt. Besonders hervorzuheben ist die Keduscha le-Jachid („Keduscha für den Einzelnen“) genannte Supplikation für die Keduscha; ein Text, der aus der Hekhalot-Literatur in einige aschkenasische Handschriften des Seder Rav Amram Gaon aufgenommen worden ist (Hg. Coronel Warschau 1865, 12a-13a.). Auch in magischen Beschwörungsgebeten, wie dem in Fragmenten aus der Kairorer Geniza belegten Sieben Bitten des Elia, spielt die dreizehnmalige Keduscha eine zentrale Rolle (vgl. Magische Texte aus der Kairorer Geniza, hg. von P. Schäfer / Sh. Shaked, Bd. 2, 69). Eine im Kontext magischer Gebete aus der Geniza überlieferte hebräische Fassung des apokryphen Gebetes Jakob (auch Leiter Jakobs) hat eine Lesart der Keduscha bewahrt, wie sie aus dem Slavischen Henoch (2Henoch; → Henoch / Henochliteratur
6. Christliche Rezeption
In die christliche Liturgie fand die Keduscha vermittelt durch den jüdischen Gottesdienst Aufnahme. Der früheste Beleg für eine liturgische Verwendung des Sanctus stammt aus der Liturgie des Addai und Mari (älteste Teile aus dem 3. Jh. n. Chr.), dann auch im Euchologion des Serapion im 4. Jh. Von da an findet es sich mit leichten kontextuell erklärbaren Abweichungen von der biblischen Vorlage in vielen Abendmahlsliturgien, angefangen bei Caesarius von Arles (6. Jh.) bis in die östlichen Liturgien (ab dem 8. Jh.). Insbesondere die praefationes zum Sanctus waren bereits früh Gegenstand der breiten literarischen Ausgestaltung. Schon Cyrill von Jerusalem (4. Jh.) beschreibt in der fünften seiner Mystagogae Catecheses die durch das Trishagion erfolgende Teilhabe an der himmlischen Liturgie.
Literaturverzeichnis
1. Lexikonartikel
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2. Weitere Literatur
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- Schäfer, P., 2011, Die Ursprünge der Jüdischen Mystik, Berlin, 349-352.
- Werner, E., 1945-1946, The Doxology in Synagogue and Church, a Liturgico-Musical Study, HUCA 19, 276-351.
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