Königskritik
(erstellt: Juni 2010)
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1. Das Königtum als Gottesgeschenk
Schriftliche und ikonographische Zeugnisse mit zeitgenössischen Urteilen über die weit verbreiteten, vielgestaltigen altorientalischen Monarchien haben wir nur aus dem städtischen Milieu, wo die Künste geübt wurden und eine königliche Verfassung Standard war. In ländlichen Regionen und unter stammesmäßig organisierten Nomaden wird man in der Antike erheblich differente Meinungen zum Thema gehegt haben. Die vorhandenen Quellen rühmen fast unisono das Königtum als ein hohes Gut menschlicher, von Gottes Gnade gewährter Gesittung (vgl. Cancik-Kirschbaum 2007, 172-177; Postgate 1995; Mayer 1987). Der König war „Wahrer des ihm von den Göttern anvertrauten Landes und Förderer des ihm von den Göttern unterstellten Volkes“ (M. Dietrich 1998, 217). Für die → Sumerer
Neben und über zahllosen Stadtherrschern und Kleinkönigen gab es imposante imperiale Figuren: Schon in der zweiten Hälfte des 3. Jahrtausends wachsen Könige über sich hinaus (vgl. z.B. Eanatum; Naramsin; Schulgi). Der Akkader Naramsin ließ sich als überlebensgroßer Sieger darstellen, mit göttlicher Hörnerkrone. Ein Tempel wurde für ihn gebaut, und sein Name erhält das Gottesdeterminativ (viel spätere Texte denunzieren ihn als größenwahnsinnig, vgl. Westenholz / Sallaberger 1999, 46-55). Die ägyptischen Pharaonen umgaben sich mit göttlicher Gloriole und Abstammung (→ Königtum in Ägypten
2. Alttestamentliche Königskritik
Wie kommt es dann zu der stellenweise massiven Ablehnung des Königtums im Alten Testament? Beispielhaft seien drei rekonstruierte Kritikmodelle vorgestellt. Sie sollen als Idealtypen dienen, d.h. die skizzierten Parameter sind nicht rein erhalten, sondern überschneiden und durchdringen sich in der Tradition gegenseitig.
2.1. Verkehrte Amtsführung
Das → Richterbuch
Die Urteile im chronistischen Werk (→ Chronikbücher
Das ist mehr oder weniger auch von mancher prophetischen Individualkritik an den Regierenden zu sagen, doch ragen einige gezieltere Anklagen wegen falscher, ungerechter Amtsführung heraus (vgl. Hos 5,1
2.2. Systemkritik
Ausgesprochen grundsätzlich klingt der Angriff auf das in der Entstehung gedachte israelitische Königtum, wenn Vertreter einer Stammesgesellschaft gegen die Installierung eines despotischen Souveräns antreten. Exemplarisch tut das → Jotam
Es zogen einst die Bäume aus, / über sich einen König zu salben. / Und sie sprachen zum Ölbaum: / Werd’ über uns König! / Da sprach zu ihnen der Ölbaum: / Soll ich meine Fettigkeit lassen, / darum mich ehren Götter und Menschen, / und hingehn, über den Bäumen zu schweben? (Ri 9,8-9
Auch Feige und Weinstock weisen das Ansinnen der Bäume weit von sich, mit gleichartigem Argument: Wer über andere herrscht, entfremdet sich seinem eigenen Wesen, verliert den Nutzen für andere. Nur der Unnützeste nimmt das Angebot an:
Da sprach zu den Bäumen der Dornstrauch: / Seid ihr ernsthaft willens, zu salben / mich über euch zum König: / Kommt, bergt euch in meinem Schatten! / Wo nicht, gehe Feuer vom Dornstrauch aus / und fresse die Zedern des Libanons. (Ri 9,15
Das ist eine zeitlos klassische Infragestellung des monarchischen Systems wohl aus der Sicht von Clansleuten, die von ihrer egalitären und akephalen Gesellschaftsstruktur überzeugt sind (andere Deutungen bei Müller 2004, 12-30; er selbst ordnet den Text der Gattung Satire, Karikatur zu – ohne jeden sozialpolitischen Hintergrund, ebd. 31-34). Wer seine Bodenständigkeit und familiale Selbstständigkeit aufgibt (und das kann eigentlich nur ein ehrloser Geselle) und über andere bestimmen will, der wird zum brutalen und zynischen Tyrannen. Eine so radikale Ablehnung der monarchischen Ordnung an sich, und zwar aus gesellschaftspolitischen Gründen, ist in den Hebräischen Schriften, aber auch sonst im Alten Orient, kaum anzutreffen. So ist etwa der Fluch → Schimis
2.3. Religiöse Ablehnung
Hier und da stellen alttestamentliche Texte das Königtum aus theologischen Gründen in Frage, als sei die Leitung menschlicher Großorganisationen gleichzeitig durch Gott und den König (altorientalischer Normalfall und bis in die Moderne kopiert, vgl. Wilhelm II., 1938) in sich unmöglich, als wären die beiden Instanzen völlig inkompatibel. Der Monarch will – so die jetzt tragende Überlegung – sich immer an die Stelle Gottes setzen (positiv: Sitzen zur Rechten der Gottheit Ps 110,1
3. Erklärung der Königskritik
3.1. Redaktionsgeschichtliche Einordnung
Seit der Entdeckung der königstreuen und antimonarchischen Schichten im Alten Testament haben die Experten überwiegend mit literarkritischen und redaktionsgeschichtlichen Überlegungen nach Erklärungen für das Nebeneinander der widersprüchlichen Aussagen gesucht (prägnanter Überblick bei Müller 2004, 1-11) und dabei das Problem hauptsächlich im geistig-ideologischen Bereich festmachen wollen. Außer einer schlecht fassbaren „theologischen Opposition“ in der Frühzeit der Staatswerdung (→ Abimelech
3.2. Sozialgeschichtliche Analyse
Kritik an gesellschaftlichen Institutionen fällt nie vom Himmel; sie hat soziale und ideologische, jeweils zeitgeschichtliche, handfest soziale Voraussetzungen, auch wenn sie durch literarische Weitergabe in anderen Situationen und Schichten verändert werden mag. So auch im antiken Israel. Es geht darum, die soziale Verwurzelung der Monarchieskepsis anzuerkennen und unsere heutigen Perspektiven und Vermutungen ins Spiel zu bringen.
3.2.1. Nomadische Vergangenheit?
Stolz und Unabhängigkeit der halbnomadischen Steppenbewohner spielen in der altorientalischen Geschichte eine große Rolle (Oppenheim 1939; Klengel 1971; Thiel 1985; Kessler 2006, 55-66). Alttestamentliche Überlieferungen erwähnen den kulturellen Konflikt zwischen Zeltbewohnern und sesshaften Bauern (vgl. Gen 4,9-16
3.2.2. Stammestraditionen
Die alttestamentliche Wissenschaft rechnet aber auch mit regionalen Stammesstrukturen unter der Bauernbevölkerung Altisraels (→ Stamm / Stammesgesellschaft
Wahrscheinlich wird die authentische Kritik der „klassischen“ Propheten (besonders → Jesaja
3.2.3. Exkurs: Prophet und König
Die altorientalischen Könige haben sich stets mit Sehern, Traumdeutern, Beschwörern und ähnlichen Spezialisten für den übermenschlichen Bereich umgeben, um ihre Funktionen als Regenten an Gottes statt wahrzunehmen. Wie hätten sie ohne Fachleute in einer Welt voller Gottheiten, Naturmächte und → Dämonen
3.2.4. Dynastische Opposition
Inner- und interfamiliäre Kämpfe um die Macht sind im Orient seit jeher an der Tagesordnung und im Alten Testament reichlich bezeugt, doch ist ihr Einfluss auf die literarische Hinterlassenschaft Israels schwer einzuschätzen. Die → Saulüberlieferung
Die so genannte → „Thronfolgeerzählung
3.2.5. Parochiale Parameter
Bei der langen Tradition alttestamentlicher Stoffe und der kulminierenden Komposition der hebräischen Schriften in der Perserzeit (Gerstenberger, 2005) ist zu erwarten, dass auch die spät entstandene soziale Organisation der Jahwe-Glaubensgemeinschaft mit ihrer Tora-Zentrierung Einfluss auf die Einschätzung des Königtums genommen hat. Das gilt für alle drei oben skizzierten Kritikmodelle. Im Klartext: Könige werden rückwirkend auch darum abgelehnt, weil eine monarchische Mediation des Gotteswillens mit der Gemeindestruktur nur schwer zu vereinbaren ist. Oberster Gebieter der Jahwe-Gemeinde ist Gott selbst; er regiert durch seinen dem Mose kundgemachten Willen, und diese grundlegende Gottesoffenbarung wird durch Schriftgelehrte (und Priester?) an die Gemeinde weitergegeben. Es herrscht mithin eine „Buch“-orientierte Theokratie, vermittelt durch Ausleger und Liturgen der heiligen Schriften. Ein König müsste sich also durch Tora-Studium und Tora-Auslegung qualifizieren, er könnte nur als Schriftgelehrter Leitungsfunktionen übernehmen (Dtn 17,14-20
3.3. Theologische Einordnung
Der Topos „Königskritik“ gehört im Alten Testament in den breiteren Zusammenhang von anthropologischen und gesellschaftskritischen Konzepten und hat dort eine tiefe theologische Bedeutung, auch wenn er terminologisch nicht klar gefasst ist. Das heißt: Die „Königsschelte“ hat keinen spezifischen hebräischen Begriffsapparat hervorgebracht. Aber sowohl die „Einsetzung“ eines Königs wie seine Amtsführung werden im Alten Testament heiß, aus unterschiedlichen sozialen Kontexten und vom Glauben an Jahwe her diskutiert. Es geht um die theologische Relevanz sozialethischer und politischer Konstellationen. Sie wird in der alttestamentlichen Debatte um die Königskritik immer wieder stark hervorgehoben (vgl. Crüsemann 1978; Gottwald 1979, 591-709; W. Dietrich 1998, 237-258; Kessler 2006, 195-196). Die folgenden Aspekte dieser andauernden Auseinandersetzung sind auch im Blick auf analoge Probleme in unserer Zeit zu beachten. Wilhelm II (1938) sonnte sich noch im Licht des alten Gottesgnadentums.
3.3.1. Menschliche Ambivalenz
Das Menschsein an sich und die Organisation der menschlichen Gesellschaft sind für die alttestamentlichen Traditionen von Anfang an zwiespältige Größen, an denen sich menschliches Leben entscheidet und das Gottesverhältnis bewähren muss. Leben und Glück, Solidarität und Liebe sind wunderbare Gaben, aber Menschen tendieren zu Selbstüberschätzung, Macht und Willkür, zu Raffgier, Lüge und Gewalt (→ Sünde
3.3.2. Gesellschaftliche Fehlkonstruktionen
Nach vorherrschender israelitischer Erfahrung, jedenfalls der Spätzeit des Alten Testaments, wollen Könige nichts anderes als ihre Herrschaft ausleben. Gegenstimmen, welche die lebenserhaltenden Funktionen von Monarchen betonen, klingen schwächer, vielleicht aus einer besseren Vergangenheit. Die Kritik am Königtum schließt individuelle Verfehlungen und Strukturfehler (Sich-Verlassen auf Militär, Wirtschaft, Kult, vgl. Ps 58; Ps 82; Ps 146, prophetische Kritik; → Sozialkritik
3.3.3. Demokratievorläufer?
Bedeutet die Königskritik im Alten Testament, der sich eine Imperiumskritik im Neuen Testament anschließt (Rieger 2009), eine Absage an absolutistische Staats- und Herrschaftsformen? Der Befund in den Hebräischen Schriften ist ambivalent. Doch ist der theologische Vorbehalt gegen das so mächtige „Gottesgnadentum“ (bis 1918 herrschende politische Ideologie auch in Deutschland) heute ein unveräußerlicher Bestandteil biblisch begründeter Sozialethik. Dieses Grundmisstrauen gegen sich selbst glorifizierende Regierungen hat die Entwicklung zur Demokratie der „checks and balances“ mit geprägt. W. Dietrich sieht in der alttestamentlichen Fokussierung auf den „Volkswillen“ einen Ansatz zu modernen Verfassungen (1998, 247-249); Crüsemann schätzt das akephale Stammessystem als fortschrittlich (1978); Gottwald preist die Freiheit und Menschlichkeit der Jahwegemeinde als bis heute vorbildlich (1979, 489-580: „Israel … the antithesis of the feudal-imperial Canaanite system“, 489; es pflegt eine „unitary culture and social order“, 490, die Gottwald immer wieder als „egalitarian“, wohl auch im Blick auf heutige Menschenrechte, qualifiziert).
3.3.4. Gotteskonzeptionen
Die theologische Königskritik des Alten Testaments wächst also für manche modernen Exegeten aus einer bestimmten Gotteserfahrung, die in ihrer Art einmalig ist. Sie setzt den „Andern“, nach lateinamerikanischer Befreiungstheologie besonders den „Armen“ für kognitive und praktische Zwecke (vgl. Mt 25,31-46
Literaturverzeichnis
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