Deutsche Bibelgesellschaft

Kuss / küssen

(erstellt: Dezember 2017)

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In der Hebräischen Bibel ist 34-mal explizit von Küssen die Rede, 32-mal mit dem Verb „küssen“ (נָשַׁק nāšaq; Ez 3,13 ist mitgezählt, dazu s.u. 5.), zwei weitere Male (Spr 27,6; Hhld 1,2) mit dem Nomen „Kuss“ (נְשִׁיקָה nešîqāh). Vier weitere Kuss-Stellen finden sich in der → Septuaginta bzw. anderen griechischen Übersetzungen des Alten Testaments (Zählung nach EÜ: Tob 10,12 [Lutherbibel: Tob 10,13]; Est 4,17d; Est 5,2; Sir 29,5).

Küsse spielten im antiken Israel in unterschiedlichen Zusammenhängen eine Rolle und konnten dabei je nach Konstellation Verschiedenes zum Ausdruck bringen (s.u. 1-5). Nur wenige der Stellen deuten an, auf welche Art geküsst wurde. Neben dem Küssen auf den bzw. mit dem Mund (1Kön 19,18; Spr 24,26; Hhld 1,2) weisen manche Formulierungen auf das Küssen von Händen oder mit Händen (Hi 31,27; Sir 29,5) sowie das Küssen von Füßen (Ps 2,11f Konjektur; Est 4,17f; vgl. Ex 18,7; 1Sam 20,41 mit der Erwähnung von Proskynese). Häufig wird Küssen auch parallel zum Umarmen genannt (Gen 29,13; Gen 33,4; Gen 45,15; Gen 48,10), was eventuell als Hinweis auf Küsse auf die Wange gedeutet werden könnte. Ein Vers (Gen 27,27) assoziiert Küssen mit Riechen, was an die aus Ägypten bekannten Nasenküsse denken lässt. Wiederholt erwähnen die alttestamentlichen Texte, dass Küsse von → Weinen begleitet sind (Gen 29,11; Gen 33,4; Gen 50,1; 1Sam 20,41; Rut 1,9.14; vgl. Lk 7,38; Apg 20,37) – vermutlich ein Hinweis auf die Emotionalität der Begegnungen.

1. Küsse zwischen Familienmitgliedern

Mit Abstand am häufigsten erwähnt das Alte Testament Küsse zwischen Familienmitgliedern. Geküsst wird insbesondere zur Begrüßung (Gen 29,11.13; Gen 33,4; Gen 48,10; Ex 4,27; Ex 18,7) und beim Abschied (Gen 31,28; Gen 32,1; Rut 1,9.14; 1Kön 19,20). Ersteres auch, wenn sich die Familienmitglieder gerade erst kennenlernen (Gen 29,11.13; Gen 48,10). Menschen küssen ihre Kinder und Enkel (Gen 31,28; Gen 32,1; Gen 48,10; 2Sam 14,33; Tob 10,12 [Lutherbibel: Tob 10,13]), ihre Eltern (Gen 27,26f; Gen 50,1; 1Kön 19,20), ihre Geschwister (Gen 33,4; Gen 45,15; Ex 4,27; Hhld 8,1), ihre Schwiegereltern (Ex 18,7; Rut 1,14), ihre Schwiegerkinder (Rut 1,9), die Kinder ihrer Geschwister (Gen 29,13) und ihre Cousins und Cousinen (Gen 29,11).

Bei hierarchischen (Verwandtschafts-)Verhältnissen werden sowohl die höher gestellten als auch die tiefer gestellten Menschen als Subjekt des Küssens genannt. Bereits daran wie auch an den Kontexten zeigt sich, dass Küsse unter Verwandten je nach Situation ganz Unterschiedliches zum Ausdruck bringen können. Bei den Küssen, mit denen → Jakob seine Cousine → Rahel (Gen 29,11) und → Laban seinen Neffen Jakob (Gen 29,13) begrüßt, geht es primär um die Anerkennung der engen Verbundenheit durch die Verwandtschaft. Ähnlich gilt das auch für den Kuss, mit dem → Mose seinen Schwiegervater → Jitro begrüßt (Ex 18,7), hier zeigt aber das Motiv des Niederwerfens, dass es auch um Ehrerbietung geht (s.u.). Bei den Küssen, mit denen → Esau seinen Bruder Jakob (Gen 33,4), → Josef seine Brüder (Gen 45,15) und → David seinen Sohn → Absalom (2Sam 14,33) begrüßt, spielt das Moment der Vergebung und des freundschaftlich Zugeneigtseins eine zentrale Rolle. Die Küsse, die Laban und Jakob ihren Kindern bzw. Enkeln zukommen lassen (Gen 32,1; Gen 48,10), erfolgen (im Zusammenhang von Abschieden und) unmittelbar vor Segnungen (→ Segen), und auch die Küsse, mit denen Naomi ihre Schwiegertöchter verabschieden will (Rut 1,9), erfolgen im Zusammenhang eines Segenswunsches (vgl. 2Sam 19,40; bei Gen 27,27 ist der Zusammenhang von Kuss und Segen eher zufällig). Möglicherweise spielt dieses Moment des Segnens auch hinein, wenn Josef seinen Vater Jakob (Gen 50,1), Orpa ihre Schwiegermutter → Rut (Rut 1,14) und → Elisa seine Eltern (1Kön 19,20) zum Abschied küsst. Gesagt wird das allerdings nicht; wohl aber ist vom Kontext her klar, dass es sich um endgültige Abschiede handelt – besonders dramatisch im Fall von Josef, der seinen soeben verstorbenen Vater küsst.

2. Küsse als Ausdruck von Zuneigung und Wohlgesonnenheit

Auch Menschen, die nicht miteinander verwandt sind, können sich zur Begrüßung und beim Abschied (1Sam 20,41; 2Sam 15,5; 2Sam 19,40; 2Sam 20,9) sowie bei Segnungen (2Sam 19,40; vgl. 1Sam 10,1; → Segen) küssen. Häufig wird mit solchen Küssen unter nicht miteinander verwandten Menschen eine besondere Zuneigung unter Gleichrangigen oder Wohlgesonnenheit eines hierarchisch höher Gestellten gegenüber einem tiefer Gestellten zum Ausdruck gebracht. So ist der Kuss zwischen → David und → Jonatan (1Sam 20,41), der (sicher auch wegen der Bedrohung durch → Saul) von heftigem Weinen begleitet ist und auf dreimaliges Verneigen Davids erfolgt, Sinnbild der Innigkeit ihrer Freundschaft. Um Wertschätzung und Dankbarkeit geht es beim Kuss, mit dem sich David von seinem Wohltäter → Barsillai verabschiedet (2Sam 19,40). Ein Zeichen der Wohlgesonnenheit ist der Kuss, mit dem der persische König Artaxerxes nach dem griechischen A-Text → Ester begrüßt (Est 5,2); wie durch das Ausstrecken des → Zepters signalisiert er ihr durch diese Geste, dass er sie am Leben lassen wird, obwohl sie sich ihm unaufgefordert genähert hat. Um Wertschätzung und Wohlgesonnenheit geht es bei den Küssen, mit denen der Königssohn Absalom die Menschen begrüßt, die sich bei ihm ein Rechtsurteil einholen (2Sam 15,5) – allerdings nur vordergründig; Absalom setzt diese Küsse aus Machtkalkül ein, um die Gunst der Untertanen zu gewinnen und sich als besseren König als David zu präsentieren. Noch hinterhältiger ist der Kuss, mit dem der abgesetzte Heerführer → Joab seinen Nachfolger → Amasa begrüßt (2Sam 20,9), denn er spielt Amasa nicht nur fälschlicherweise Wohlgesonnenheit vor, sondern dient Joab auch dazu, die nötige Körpernähe zu Amasa herzustellen, um ihm das Schwert in den Bauch zu stoßen und ihn so zu töten (vgl. den Judaskuss, Mk 14,44f). In Form eines Sprichworts weist Spr 27,6 auf die Inadäquatheit (und Häufigkeit) von Küssen von Feinden.

3. Küsse als Zeichen der Ehrerbietung

Während es bei Küssen, die Wohlgesonnenheit zum Ausdruck bringen, in der Regel höher gestellte Menschen sind, die tiefer gestellte Menschen küssen, sind die hierarchischen Verhältnisse bei Küssen als Zeichen der Ehrerbietung genau umgekehrt. Einige der oben schon besprochenen Küsse zwischen Familienmitgliedern gehören in diesen Kontext; deutlich ist dies insbesondere beim Kuss, mit dem Mose seinen Schwiegervater begrüßt (Ex 18,7), denn er folgt auf eine Proskynese (vgl. 1Sam 20,41) – was vermuten lässt, dass hier eventuell an einen Fußkuss gedacht ist (s.u.). Ähnlich ist auch der Kuss, mit dem → Samuel die → Salbung Davids zum König begleitet (1Sam 10,1), als Zeichen der Ehrerbietung zu verstehen, gleichzeitig aber wohl auch als so etwas wie „väterliche“ Zuneigung. Vermutlich erklärt sich vor diesem Hintergrund auch die auf den ersten Blick seltsame Aussage von Gen 41,40 (aufgenommen in CD 13,3; → Qumranschriften), wonach der Pharao Josef sagt, sein ganzes Volk solle „seinen Mund küssen“. Die Erwähnung des „Mundes“ (פֶּה pæh) lässt vermuten, dass hier v.a. daran gedacht ist, dass das Volk Josefs Befehl gehorcht (vgl. so die paraphrasierende Wiedergabe der → Septuaginta und moderner Übersetzungen). Die Rede vom „küssen“ ist hier von daher wohl metaphorisch zu verstehen. Die Metapher selbst bleibt aber interessant, weil sie Ehrerbietung (bzw. Gehorsam) zum Ausdruck bringt. Zwei weitere Hinweise auf Küsse, mit denen höher gestellten Menschen Ehrfurcht entgegengebracht wird, finden sich in der Septuaginta: Sir 29,5 kritisiert Schuldner, die sich untergegeben zeigen und ihren Kreditgebern die Hand küssen, zur ausgemachten Zeit das Darlehen dann aber nicht zurückzahlen. Und in Est 4,17d (Zählung EÜ) erklärt → Mordechai, dass er sich nicht aus Hochmut vor Haman nicht niedergeworfen hat, dass er ihm zur Rettung Israels durchaus die Fußsohlen geküsst hätte, ihm diese Ehrerbietung aber verweigert habe, weil einzig Gott eine solche Ehrerbietung durch Fußfall zustünde.

Ist bei Est 4,17d indirekt angedeutet, dass man JHWH die Füße küssen kann, um ihm Ehre zu erweisen, so wird dies in Ps 2,11f ausgesprochen – so zumindest nach einer verbreiteten Konjektur (MT ist an dieser Stelle schwer verständlich). Man kann diese Psalmenstelle auch gut metaphorisch verstehen, doch aus altorientalischen Texten weiß man, dass es tatsächlich Rituale gab, bei denen die Kultteilnehmer den → Götterbildern die Füße küssten (so wie Menschen am Hof dem König die Füße küssten, um ihm die Ehre zu erweisen). Im Alten Testament ist Ps 2,11f die einzige Stelle, die positiv vom Küssen (eines) Gottes spricht. Daneben gibt es noch einige andere Stellen, die solche kultischen Küsse kritisch erwähnen. Problematisch ist nach ihnen allerdings nicht das Küssen als solches, sondern das Objekt: sprich, dass → Baal (1Kön 19,18), Jungstiere, d.h. (Baal oder JHWH repräsentierende) → Stierbilder (Hos 13,2), oder → Sonne und → Mond (Hi 31,27) geküsst werden.

4. Erotische Küsse

Neben familiären, freundschaftlichen und Ehrerbietung zum Ausdruck bringenden Küssen kannte man im antiken Israel auch erotische Küsse. Das zeigen das → Hohelied und das → Proverbienbuch, die beiden Bücher im Alten Testament, die sich mit erotischen Themen beschäftigen. Insgesamt bleibt es allerdings bei wenigen Verweisen, was insbesondere im Hohelied auffällt, dabei aber auch dem Befund in den altorientalischen Quellen entspricht, in denen das Küssen in erotischen Kontexten ebenfalls eine eher untergeordnete Rolle spielt. Immerhin eröffnet das Hohelied mit dem Wunsch der Frau, ihr Geliebter möge sie „mit den Küssen seines Mundes küssen“ (Hhld 1,2). Und später wiederholt sie noch einmal, dass sie ihren Geliebten gerne in aller Öffentlichkeit küssen würde, wobei sie gleichzeitig andeutet, dass das jetzt nicht geht, weil sie sonst verachtet würde (Hhld 8,1). Ob das nur daran liegt, dass die beiden noch nicht verheiratet sind oder ob öffentliches Küssen im antiken Israel grundsätzlich nur bei nicht-erotischen Küssen als angemessen angesehen war, bleibt offen. Dass erotische Küsse manchmal auch öffentlich ausgetauscht wurden, zeigt Spr 7,13; hier geht es aber um die „fremde Frau“, deren erotisches Verhalten kritisiert bzw. als gefährlich dargestellt wird.

5. Metaphorische und sinnbildliche Küsse

Oben schon wurde auf einige Stellen aufmerksam gemacht, bei denen „küssen“ auch metaphorisch gemeint sein könnte (Gen 41,40; Ps 2,11f; vgl. Sir 29,5). Bei Ez 3,13, wo die Berührung der Flügel der vier Lebewesen mit נָשַׁק nšq Hif. beschrieben wird, ist strittig, ob hier eine metaphorische Bedeutung vorliegt oder eine andere Bedeutung bzw. eine Wurzel נָשַׁק nšq II „sich ausrüsten / als Rüstung tragen“ (vgl. so in 1Chr 12,2; 2Chr 17,17; Ps 78,9). Eindeutig metaphorisch ist die Rede vom „Küssen“ in Ps 85,11, wo eine Aussage über Gerechtigkeit und Friede gemacht ist. Der Parallelismus zeigt, dass es hier darum geht, dass die beiden (wie gute Freunde oder auch ein Liebespaar) miteinander vereint sind. Nicht in einer Metapher, wohl aber in einem Sinnbild wird das Küssen in Spr 24,26 zum Thema, wo eine richtige Antwort als „Kuss auf die Lippen“ qualifiziert wird. Spätestens Spr 15,23 macht klar, dass dieser Kuss hier als Inbegriff von etwas Erfreulichem genannt ist.

6. Besonderheiten aus dem Alten Orient, rabbinischen Judentum und frühen Christentum

Im großen Ganzen entspricht der alttestamentliche Befund dem Befund aus der altorientalischen Umwelt; zahlreiche Einzelaspekte werden durch die altorientalischen Quellen noch verdeutlicht. Daneben kommt in diesen auch manches zur Sprache, das im Alten Testament unerwähnt bleibt, etwa das Küssen der Erde, das Küssen von Objekten, Küsse von Gottheiten, Küsse in Ritualen und der Nasenkuss. Letzterer ist vor allem in Ägypten gut bezeugt und erklärt, warum das gleiche ägyptische Verb (sn, mit Nasendeterminativ) sowohl „küssen“ als auch „riechen“ und „einatmen“ bedeuten kann. Manche haben aus diesem Zusammenhang abgeleitet, auch das Einhauchens des Lebensodems (z.B. Gen 2,7) sei eine Art Kuss (so Harst, 27-56). Zumindest für das Alte Testament scheint das zu weit hergeholt zu sein; allerdings bleibt es beachtenswert, dass im rabbinischen Judentum die Vorstellung eines Todeskusses bekannt ist, durch die Gott einem Menschen den Lebensodem wieder nehmen kann. (Vereinzelte Vorläufer dieser Vorstellung finden sich auch im Alten Orient; ob auch Stellen wie Jes 11,4; Hi 4,9 und 2Thess 2,8 in diesen Zusammenhang gehören, wäre zu diskutieren). Für das frühe Christentum ist schließlich noch der „heilige Kuss“ zu nennen, auf den bereits die Paulusbriefe verweisen (Röm 16,16; 1Kor 16,20, etc.).

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Reallexikon der Assyriologie und vorderasiatischen Archäologie, Berlin 1928ff
  • Biblisch-historisches Handwörterbuch, Göttingen 1962-1979
  • Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Stuttgart u.a. 1973-2015
  • Lexikon der Ägyptologie, Wiesbaden 1975-1992
  • The Anchor Bible Dictionary, New York 1992
  • Der Neue Pauly, Stuttgart/Weimar 1996-2003
  • Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2007

2. Weitere Literatur

  • Berlejung, A., Kultische Küsse. Zu den Begegnungsformen zwischen Göttern und Menschen, WO 29 (1998), 80-97
  • Harst, S., Der Kuss in den Religionen er Alten Welt, ca. 3000 v. Chr. - 381 n. Chr. (Religionswissenschaft 7), Münster 2004
  • Löw, I., Der Kuss, Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 65 (1921), 253-276, 323-349
  • Meissner, B., Der Kuss im Alten Orient (SPAW.PH 28), Berlin 1934
  • Schroer, S. / Staubli, T., Die Körpersymbolik der Bibel, Gütersloh 2. Aufl. 2005, 109-111
  • Thraede, K., Ursprünge und Formen des „Heiligen Kusses“ im frühen Christentum, JAC 11/12 (1968/1969), 124-180
  • Wünsche, A., Der Kuss in Bibel, Talmud und Midrasch, Breslau 1911

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