Deutsche Bibelgesellschaft

Libyer, Libyerherrschaft

(erstellt: März 2007)

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1. Die Zeit bis zum Ende des Neuen Reiches

In älterer Zeit, bis zum frühen Neuen Reich, gibt es verschiedentlich Nachrichten über kriegerische Auseinandersetzungen zwischen Ägyptern und Libyern (Ṯḥnw bzw. Ṯmḥw), vor allem über Raubzüge der Ägypter. Umgekehrt scheinen die Libyer damals keine Bedrohung für Ägypten gewesen zu sein.

Im Neuen Reich werden – gleichzeitig mit den Seevölkern – neue Stämme in den Quellen erwähnt: seit Amenophis III. die Meschwesch, seit → Ramses II. die Libu, ganz vereinzelt auch einige andere. Diese Stämme scheinen zunehmend eine Gefahr auch für Ägypten selbst zu bilden. Dafür gibt es aus der Amarnazeit zumindest einen bildlichen Hinweis, ein mit Kampfszenen bemalter Papyrus aus Amarna, darunter ein Libyer, der einen Ägypter angreift oder tötet (Parkinson / Schofield 1993). Wenige Jahrzehnte später führte Sethos I. einen Feldzug gegen die Libyer, von dem eine konventionelle „Triumphdarstellung“ erhalten ist (Kitchen 1975, 20-24). Ramses II. eroberte oder besetzte einen Teil des nördlichen Libyen und ließ mehrere Forts an der Mittelmeerküste errichten; vermutlich wurde auch das westliche Delta gesichert (Kitchen 1976; 473-475; Snape 1997; ders. 1998; ders. 2003; Morris 2005, 615; 621-645.).

Seinem Nachfolger → Merenptah wird gelingt in seinem Jahr 5 ein großer Sieg gegen die Libyer und die mit ihnen verbündeten Stämme der Seevölker. Die Inschriften, die uns diesen Sieg überliefern (Kitchen 1982, 2-23; Manassa 2003) – und in denen das Wort „Israel“ zum ersten Mal belegt ist (Kitchen 1982, 19, 7) –, machen auch einige Angaben zur Vorgeschichte der Schlacht: Libyer waren wiederholt weit nach Unterägypten eingedrungen und konnten sich dort längere Zeit aufhalten. Das könnte darauf hindeuten, dass die Ägypter in den ersten Jahren des Merenptah oder vielleicht schon in den letzten Jahren → Ramses II. Niederlagen erlitten haben und ihre Grenze nicht mehr schützen konnten. Über die Ereignisse in den unruhigen Zeiten nach Merenptah bis zu Ramses III. gibt es nur wenige Nachrichten. Im Papyrus Harris I (76,11-77,2; Grandet 1994, I, 337) wird im Rückblick berichtet, dass Libu und Meschwesch weit ins ägyptische Kernland eingedrungen waren und dort jahrelang plünderten.

Unter → Ramses III. werden die Libyer im Jahr 5 (Kitchen 1983a, 10-27) und im Jahr 11 (ebenda, 54-71) in zwei großen Schlachten besiegt. Im Jahr 11 führen sie auch ihre Familien und Herden mit sich, es ist offenbar ein Versuch gewaltsamer Landnahme. Viele der Gefangenen werden in Söldnerkolonien und Festungen angesiedelt, sie müssen Ägyptisch lernen und im ägyptischen Heer dienen (Kitchen 1983a, 24,1-3; 91,5-7; Grandet 1994, I, 337); ähnlich war schon Ramses II. vorgegangen (Yoyotte 1949, 63; 65, pl. VI). Dennoch ist die von Libyen ausgehende Gefahr keineswegs gebannt: Ramses III. musste trotz seiner Siege die Tempel befestigen lassen, um „Ausländer“ und Libyer abzuwehren, „die ihre angestammte Grenze überschritten hatten“ (Grandet 1994, 305 = pHarris I, 57,13; 58,6).

Unter Ramses IV. - XI. gibt es keine Inschriften mehr über Kämpfe gegen Libyer; in thebanischen Papyri finden sich aber wiederholte Hinweise auf die Anwesenheit feindlicher Libyer selbst in Theben (Yoyotte 1961, 148 Anm. 3; Jansen-Winkeln 2002, 135-9), z.B. im Jahr 1 Ramses’ VI. (Kitchen 1983b, 342f), in den Jahren 8-15 Ramses’ IX. (ebenda, 563-564; 609; 637-638; 643) und im Jahr 3 Ramses’ X. (ebenda, 687f). Die Eindringlinge werden als Libu, Meschwesch oder einfach als „Ausländer“ (ch3stjw) bezeichnet. Letzteres hat dazu geführt, dass sie in der Literatur oft als (marodierende) „Wüstenbewohner“ oder Beduinen angesehen werden, aber davon kann (im oberägyptischen Theben) keine Rede sein; es handelt sich zweifellos um libysche Krieger, entweder Invasoren oder aufständische Söldner.

2. Die 21. Dynastie (ca. 1075-945 v. Chr.)

Für die auf das Neue Reich folgende Epoche, die 21. Dynastie, sind nur sehr wenige Quellen vorhanden, die wichtigsten sind die Königsgräber in Tanis und die Sammel- und Wiederbestattungen in Theben (die oft Datumsangaben enthalten). Nachrichten über politische Ereignisse fehlen fast gänzlich, man ist auf indirekte Schlüsse angewiesen. Zunächst ist es deutlich, dass die 21. Dynastie nicht, wie verschiedentlich behauptet, eine Art Ausklang des Neuen Reiches bildet, sondern etwas völlig Neues. Die Herrscherfamilie ist eine andere (die in der Literatur öfter vermutete Familienverbindung zum ramessidischen Königshaus ist unfundiert), ebenso die Organisation der Herrschaft: Unterägypten wird von einem König regiert, der zugleich Hoherpriester des Amun von Tanis ist, Oberägypten hat einen Regenten, der zugleich oberster Militärbefehlshaber und Hoherpriester des Amun von Theben ist und oft auch königliche Attribute annimmt. Offiziell ist der Gott Amun der eigentliche König und gibt seine Anweisungen bei Festen durch (Barken-)Orakel („thebanischer Gottesstaat“). Die Hauptstadt ist daher Theben, aber die Regenten scheinen oft auch in der Festung el-Hība [el-Hiba] zu residieren, am Nordrand ihres Herrschaftsbereichs. Die Bestattungssitten der Könige und der Oberschicht ändern sich radikal, ebenso andere Verhaltensweisen wie Namensgebung oder die Stellung der Frauen (der Oberschicht).

Insgesamt entsprechen die Verhältnisse der 21. Dynastie nahezu vollständig denen der nachweislich libyschen 22. und 23. Dynastie (ca. 945-720 v. Chr.). Und da auch in der Herrscherfamilie der 21. Dynastie schon mehrere Personen libysche Namen tragen, ist der Schluss unausweichlich, dass die Herrschaft der Libyer in Ägypten nicht mit der 22., sondern schon mit der 21. Dynastie begonnen hat. Wie es dazu gekommen ist, liegt allerdings im Dunkeln; wir wissen nur, dass die neuen Herrscher ihre Regentschaft in Oberägypten noch in der Zeit Ramses’ XI. begonnen haben und dem ein Krieg in Ägypten vorausging; das lässt sich aus Hinweisen in den thebanischen „Grabräuberpapyri“ erschließen (Jansen-Winkeln 1992, 26-31). Irgendwelche Nachrichten, die über Vorgänge wie den Beginn einer Fremdherrschaft oder den Sturz einer Dynastie ohne Umschweife informieren, sind nach dem Charakter altägyptischer Quellen auch nicht zu erwarten. In der 21. Dynastie selbst gibt es zur politischen Geschichte so gut wie keine Quellen; das Vorhandene reicht allenfalls, die ober- und unterägyptischen Herrscher chronologisch zu ordnen.

3. Die 22. und 23. Dynastie (ca. 945-720 v. Chr.)

In der 22. Dynastie tritt die Struktur der libyschen Herrschaft in den Quellen für den unterägyptischen Bereich deutlicher hervor. Sie zeigen, dass es dort eine ganze Anzahl von Lokalfürstentümern gibt, die einem „Großfürst“ des jeweiligen libyschen Stammes unterstehen (oft mit der „Häuptlingsfeder“ abgebildet), und dieser ist zugleich oberste militärische und geistliche Autorität, d.h. Oberpriester des jeweiligen Hauptkultes (Yoyotte 1961, 139, § 21-22); damit untersteht ihm auch der Landbesitz der Tempel, der nicht zuletzt zur Versorgung seiner Truppen nötig war. Der König übt offenbar nur eine recht lockere Oberherrschaft aus. Oberägypten wird dagegen wie in der 21. Dynastie von einem Militärbefehlshaber und Hohenpriester regiert, wozu in der frühen 22. Dynastie der König einen seiner Söhne einsetzt. Die unterschiedlichen Regierungsformen in Unter- und Oberägypten seit Beginn der 21. Dynastie sind vermutlich durch die unterschiedliche Bevölkerungsstruktur bedingt: Die hauptsächlichen Siedlungsgebiete der im Neuen Reich und später nach Ägypten gekommenen Libyer waren das Nildelta, die Oasen und die Gegend von Herakleopolis, nicht dagegen Oberägypten (Leahy 1985, 55-56; Jansen-Winkeln 2001, 169-70). Dieser Bereich, in dem vorwiegend Ägypter lebten, wurde von den libyschen Regenten durch zahlreiche Festungen kontrolliert, und die nominelle Herrschaft durch das göttliche Königtum des Amun diente als ideologische Stütze. Auffällig ist, dass die Zivilverwaltung des Neuen Reiches fast vollständig verschwunden ist. Es hat sich in der Oberschicht eine Dualität von libyschen Kriegern und ägyptischen Priestern herausgebildet, wobei die Priester als „Schreiber“ auch für die Verwaltung zuständig sind.

Ab dem späteren 9. Jh. zeigen sich auch in Oberägypten Tendenzen zur Gründung neuer und konkurrierender Herrscherhäuser („23. Dynastie“). Eine Inschrift spricht ausdrücklich von längeren Bürgerkriegen, in denen es offenbar um die Herrschaft über Theben ging (Caminos 1958). Rivalitäten unter den verschiedenen Fürstentümer und eine zunehmende Zersplitterung durch Kriege und Erbteilungen sind auch für Unterägypten anzunehmen. Im Übrigen ist es bemerkenswert, dass die libyschen Regenten sich auch noch in der späten Dritten Zwischenzeit, Jahrhunderte nach Beginn ihrer Herrschaft, offen als Libyer (z.B. mit Häuptlingsfeder) darstellen lassen.

4. Die 25. und 26. Dynastie (ca. 720-525 v. Chr.)

Kurz vor 750 v. Chr. gelangt Oberägypten unter unbekannten Umständen unter die Herrschaft der in Napata (im heutigen Sudan) residierenden nubischen Königen. Gleichzeitig verliert der Hohepriester des Amun seine dominierende Stellung. Geistliches Oberhaupt Oberägyptens ist von nun an die vom regierenden König eingesetzte „Gottesgemahlin“ des Amun, eine zölibatär lebende Prinzessin, die jeweils ihre Nachfolgerin adoptieren muss.

Vom nubischen König Pianchi (→ Pije / Pianchi) wird auch das nördliche Ägypten zeitweise unterworfen, von seinem Nachfolger → Schabaka endgültig. Allerdings werden die lokalen Regenten keineswegs beseitigt oder völlig entmachtet, die „Feudalherrschaft“ libyscher Fürsten besteht auch unter der Oberherrschaft der Nubier weiter fort; auf der Siegesstele des Pianchi werden (neben ihm selbst) nicht weniger als vier Könige und elf regierende Fürsten aufgezählt. Das ändert sich auch unter seinen Nachfolgern nicht: → Sanherib berichtet anlässlich der Schlacht bei → Elteke (701), dass → Hiskia „die Könige von Ägypten“ und die Truppen des Königs von Nubien zu Hilfe rief, und der assyrische König nahm bei dieser Gelegenheit „die Wagenkämpfer und die Söhne der Könige Ägyptens“ und „die Wagenkämpfer des Königs von Nubien“ gefangen (Frahm 1997, 54; 59). Aus assyrischer Sicht wird der Gegner als eine Art Koalition behandelt. Auch in der Zeit der assyrischen Eroberungen in Ägypten unter → Asarhaddon und → Assurbanipal werden die Deltafürsten als außenpolitisch eigenständig agierend dargestellt.

Die 26. Dynastie (664-525 v. Chr.) ist selbst aus dem libyschen Fürstenhaus von Sais hervorgegangen, aber ihr erster König, → Psammetich I., beseitigt gleich zu Beginn seiner Herrschaft die libyschen Feudalherrschaften; die selbständigen Lokalfürsten werden durch königliche Funktionäre ersetzt. Bei den Aufständen gegen die persische Herrschaft in Ägypten im 5. Jh., die von offenbar libyschen Fürsten im westlichen Nildelta angeführt werden, zeigt sich aber, dass in den libysch besiedelten Gebieten eine gewisse Tradition fortbestand. Auch in den Oasen gibt es bis ins 4. Jh. libysche „Könige“.

5. Spuren libyscher Kultur

Spätestens seit der 21. Dynastie, dem Beginn ihrer Herrschaft in Ägypten, haben die Libyer (zumindest die für uns allein wahrnehmbare Oberschicht) die ägyptische Religion angenommen. Auf diesem Gebiet sind keinerlei Umbrüche erkennbar, und es lassen sich auch nur geringfügige Spuren libyschen Einflusses festzustellen (Vittmann 2003, 19-20). Da die Masse unserer Quellen aus dem religiösen Bereich stammt (Tempel und Gräber), nicht aus Siedlungen, bleibt uns das typisch Libysche dieser Zeit weitgehend verborgen. Ein sehr deutliches Anzeichen für andersartige Vorstellungen sind aber die Bestattungssitten, die sich nach dem Ende des Neuen Reiches radikal ändern (Leahy 1985, 61; Jansen-Winkeln 2001, 161). Offenbar legten die Libyer keinen Wert auf monumentale Gräber. Davon abgesehen ist von ihrer Alltagskultur, von Sitten und Gebräuchen oder ihrer Tracht so gut wie nichts bekannt: Merkwürdigerweise sind Libyer vor dem Beginn ihrer Herrschaft in Ägypten häufiger abgebildet worden als nachher. Auch von ihrer Sprache wissen wir kaum etwas. Trotz ihrer Jahrhunderte langen Herrschaft sind nur einige Personennamen und sehr wenige Titel und Bezeichnungen in ägyptischer Umschrift überliefert. In der ägyptischen Literatur haben sie allerdings eine deutliche Spur hinterlassen: Mehrere aus ptolemäischer und römischer Zeit überlieferte demotische Erzählungen, die in der späten Dritten Zwischenzeit spielen („Petubastis-Zyklus“), sprechen von andauernden, teils turnierartigen Kämpfen der Fürsten und ihrer Gefolgsleute untereinander. Eine derartige „aristokratische Heldenepik“ war dem älteren Ägypten vollkommen fremd, sie reflektiert zweifellos die Vorstellungswelt der libyschen Kriegerklasse (Quack 2005, 60).

Wenn auch nur wenige Merkmale der Kultur der Libyer erkennbar sind, politisch hat ihre Herrschaft das Ägypten des 1. Jahrtausends v. Chr. tiefgreifend geprägt.

Literaturverzeichnis

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