Meerwundererzählung
(erstellt: März 2008)
Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/26761/
1. Die biblischen Texte
Die Meerwunder- bzw. Schilfmeererzählung (Ex 13,17-14,31
Außerhalb des Exodusbuches wird das Meerwunderereignis ausdrücklich in der Poesie aufgegriffen und variiert, besonders in den → Psalmen
2. Schichtung der Meerwundererzählung
2.1. Doppelungen und Spannungen
Dass die Meerwundererzählung in Ex 13-14
● In Ex 14,21-22
● In Ex 13,17
● In Ex 14,15
● Die Bezeichnungen des ägyptischen Herrschers wechseln grundlos, wie überhaupt die Bezeichnungen der ägyptischen Gegner. Der Herrscher wird mal „König von Ägypten“, mal „Pharao“ genannt (in Ex 14,8
● Merkwürdig ist der terminologische Wechsel von „Wolkensäule“, „Wolke“, „Feuersäule“ und „Wolkenfeuersäule“ sowie deren Konfiguration bzw. Funktion, ferner das unmotivierte Auf- und sofortige Wiederabtreten des „Engels Gottes“ in Ex 14,19
Daneben ist zwar offenkundig, dass die Zeichnung von Ex 15
2.2. Die priesterschriftliche Darstellung
Ein weitgehender Konsens besteht – von Kleinigkeiten abgesehen – in der Zuweisung und Ausgrenzung der priesterschriftlichen Darstellung, die die Wahrnehmung des Gesamttextes in der Folgezeit wesentlich geprägt hat (→ Priesterschrift
V. 1-4 (ohne die vielen Ortsangaben am Ende von V. 2,
V. 8 (ohne „Aber die Israeliten waren… ausgezogen“),
V. 10 (nur: „Und als der Pharao nahe herankam“ und „schrieen [sie] zu dem Herrn“),
V. 15-18 (ohne V. 15 „Was schreist du zu mir“ und V. 16 „Du aber hebe deinen Stab auf und“),
V. 21 (nur Anfang und Ende: „Als nun Mose seine Hand über das Meer reckte, teilten sich die Wasser“),
V. 22-23 (ohne das nachgestellte Subjekt in V. 23),
V. 26.27 (nur: „Da reckte Mose seine Hand über das Meer“) und
V. 28-29.
Ex 14
Diese Darstellung, die wohl ursprünglich an die Wanderungsnotiz Ex 12,37
2.3. Die nicht-priesterschriftliche Darstellung
Die nicht-priesterschriftliche Darstellung ist nicht einfach durch Substraktion der priesterschriftlichen Anteile von Ex 13-14
Die nichtpriesterliche Darstellung hat, je nach vermuteter kontextueller Anbindung, entweder von Flucht (Ex 14,5
2.4. Die poetische Darstellung
Mit dem Moselied in Ex 15,1-19
3. Historisches zur Meerwunderzählung
3.1. Vermutungen zum Geschehen
Unbestreitbar spiegeln sich in der Darstellung des Exodus und vor allem der Rettung am Meer jeweils zeitgenössische Erfahrungen, etwa der assyrischen Bedrückung des 7. Jh.s (so z.B. Otto 2006). Angesichts der Überlieferungslage ägyptischer Quellen wie der spätbronzezeitlichen und früheisenzeitlichen Siedlungsgeographie in Israel / Palästina ist auch klar, dass an ein Meerwunder mit Tausenden, gar Hunderttausenden von Israeliten (vgl. Ex 12,37
Wenn man das alles kritisch in Rechnung stellt, kann man aber doch versuchen, einen plausiblen Rahmen für die Möglichkeit dessen zu finden, was in der Meerwundererzählung verdichtet wird: die gelungene Flucht (oder doch nur die Vertreibung?) einer oder mehrerer kleiner Gruppen von Semiten, die im nachmaligen Israel aufgegangen sind. Sie entstammten vielleicht dem Milieu der semitischen → Hapiru
3.2. Meer oder Schilfmeer?
Für den Versuch einer konkreteren Bestimmung der Zeit- und vor allem der Ortsverhältnisse ist entscheidend, für wie alt man die Angabe „Schilfmeer“ hält. Sie taucht in Ex 13,18
Das in Ex 13,18
3.3. Die Auszugsroute und das „Schilfmeer“
Der Versuch, eine Auszugsroute zu skizzieren, ist also ohnehin rein hypothetisch.
1. Ballah-See. Wenn man mit der neueren Archäologie annimmt, dass → Ramsesstadt
2. Sirbonischer See. Für die sehr viel spätere → Priesterschrift
3. Rotes Meer. Eine wesentliche Süd-Verschiebung der Auszugsroute mit einer folgenreichen Neuidentifizierung des Schilfmeeres hat dann spätestens in der hellenistischen Zeit stattgefunden: Die griechisch schreibenden LXX-Übersetzer gaben das hebräische „Schilfmeer“ mit „Rotem Meer“ wieder, was Ihrer zeitgenössischen Kenntnis der ägyptischen politischen Geographie entsprach: Nach der Vorstellung der LXX-Übersetzer sind die Israeliten wohl vom damaligen Zentrum On / → Heliopolis
Von den gegebenen Möglichkeiten um 1200 v. Chr. her dürfte das gemeinte Meer oder Schilfmeer mit den betreffenden Ereignissen also eher irgendwo in der Mitte zwischen den beiden Extremvarianten der Priesterschrift und der LXX gelegen haben. Dem kommt die vorpriesterschriftliche Quelle in jedem Fall näher, obwohl auch sie den Auszugsweg relativ südlich über Teku / Sukkot, dann aber weiter östlich wohl über den Timsahsee lokalisiert.
4. Mythisierung des Historischen
In allen Erzählungen und ohnehin in allen poetischen Reinszenierungen durchdringen sich, soweit vorhanden, derjenige Teil, der am historischen Ausgangspunkt maßnimmt, und die jeweilige Inszenierung mit den vorhandenen Mythologumena der Zeit. Historisierung des Mythos und zugleich Mythisierung des Historischen sind erzählerisch unlösbar miteinander verbunden. Das ist kein „Nachteil“, auch kein Glaubwürdigkeitsdefizit der Erzählung, sondern ihr charakteristisches Gewand. Das bleibt es im Grunde auch dann noch, wenn alles auf die Behauptung reduziert wird, beim Exodus habe sich JHWH als der Retter oder der Befreier Israels erwiesen. Nach der jüdisch-christlichen Überzeugung ist dies keine haltlose Behauptung, sondern hat Anhalt an einer historischen Erinnerung, vor allem aber am Wesen des Gottes Israels, der ein Gott ist, der seinem Volk Freiheit und neue Lebensmöglichkeiten eröffnet.
Literaturverzeichnis
1. Lexikonartikel
- Lexikon der Ägyptologie, Wiesbaden 1975-1992
- Neues Bibel-Lexikon, Zürich u.a. 1991-2001
- The Anchor Bible Dictionary, New York 1992
- Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Freiburg i.Br. 1993-2001
- Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2007
- Calwer Bibellexikon, Stuttgart 2003
2. Weitere Literatur
- Blum, E., 2006, Die Feuersäule in Ex 13-14 – eine Spur der „Endredaktion”? in Roukema, R. (Hg.): The interpretation of Exodus (FS C. Houtman; Contributions to biblical exegesis and theology 44), Leiden, 117-137
- Donner, H., 1984, Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn in Grundzügen. Teil 1: Von den Anfängen bis zur Staatenbildungszeit (GAT 4/1), Göttingen
- Fabry, H.-J., 1999, Mythos „Schilfmeer“, in Lange, A. (Hrsg.), Mythos im Alten Testament und seiner Umwelt (FS H.-P. Müller; BZAW 278), Berlin / New York, 88-106
- Gertz, J. Chr., 2000, Tradition und Redaktion in der Exoduserzählung. Untersuchungen zur Endredaktion des Pentateuch (FRLANT 181), Göttingen
- Görg, M., 1997, Die Beziehungen zwischen dem Alten Israel und Ägypten. Von den Anfängen bis zum Exil (EdF 290), Darmstadt
- Groß, W., 1993, Die Wolkensäule und die Feuersäule in Ex 13+14. Literarkritische, redaktionsgeschichtliche und quellenkritische Erwägungen, in: Braulik, G. u.a. (Hgg.), Biblische Theologie und gesellschaftlicher Wandel (FS N. Lohfink), Freiburg u.a., 142-165
- Hoffmeier, J.K. / Moshier, S.O., 2006, New paleo-environmental evidence from North Sinai to complement Manfred Bietak´s map of the eastern Delta and some historical implications, in: Czerny, E. (Hg.), Timelines Vol. 2 (FS M. Bietak; Orientalia Lovaniensia Analecta 149), Leuven, 167-176
- Jeremias, J., 1987, Das Königtum Gottes in den Psalmen. Israels Begegnung mit dem kanaanäischen Mythos in den Jahwe-König-Psalmen (FRLANT 141), Göttingen
- Knauf, E.A., 1994, Die Umwelt des Alten Testaments (NSKAT 29), Stuttgart
- Knauf, E.A., 2000, Der Exodus zwischen Mythos und Geschichte. Zur priesterschriftlichen Rezeption der Schilfmeer-Geschichte in Ex 14, in: Kratz, R.G. (Hg.), Schriftauslegung in der Schrift (FS O.H. Steck; BZAW 300), Berlin / New York, 73-84
- Krüger, Th., 1996, Erwägungen zur Redaktion der Meerwundererzählung (Exodus 13,17-14,31), ZAW 108, 519-533
- Lamberty-Zielinski, H., 1993, Das „Schilfmeer“. Herkunft, Bedeutung und Funktion eines alttestamentlichen Exodusbegriffes (BBB 78), Frankfurt
- Russell, B.D., 2007, The Song of the Sea. The Date of Composition and Influence of Exodus 15:1-21 (SBL 101), New York u.a.
- Lemche, N.P., 1996, Die Vorgeschichte Israels. Von den Anfängen bis zum Ausgang des 13.Jahrhunderts v. Chr. (BE 1), Stuttgart
- Shiron-Grumach, I. (Hg.), 1998, Jerusalem studies in Egyptology (Ägypten und Altes Testament 40), Wiesbaden
- Schmidt, W.H., 1983, Exodus, Sinai und Mose (EdF 191), Darmstadt
- Schmitt, H.-Chr., 2005, Arbeitsbuch zum Alten Testament. Grundzüge der Geschichte Israels und der alttestamentlichen Schriften (UTB 2146), Göttingen
- Ska, J.-L., 1986, Le passage de la mer. Étude de la construction, du style et de la symbolique d´Ex 14,1-31 (Analecta Biblica 109), Rom
- Spieckermann, H., 1989, Heilsgegenwart. Eine Theologie der Psalmen (FRLANT 148), Göttingen
- Stuart, D.K., 2006, Exodus (The New American Commentary 2), Nashville
- Weimar, P., 1985, Die Meerwundererzählung (Ägypten und Altes Testament 9), Wiesbaden
- Weimar, P. / Zenger, E., 1975, Exodus. Geschichten und Geschichte der Befreiung Israels (Stuttgarter Bibelstudien 75), Stuttgart
- Zenger, E., 1981, Tradition und Interpretation in Exodus XV 1-21, in: Emerton, J.A. (Hg.), Congress Volume Vienna 1980 (VTS 32), Leiden, 452-483
Abbildungsverzeichnis
- Karte zu den Lokalisierungen des Meerwunders. © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
- Karte: Das Wādī ṭ-Ṭumēlāt. © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
PDF-Archiv
Alle Fassungen dieses Artikels ab Oktober 2017 als PDF-Archiv zum Download:
Abbildungen
Unser besonderer Dank gilt allen Personen und Institutionen, die für WiBiLex Abbildungen zur Verfügung gestellt bzw. deren Verwendung in WiBiLex gestattet haben, insbesondere der Stiftung BIBEL+ORIENT (Freiburg/Schweiz)