Mensch (AT)
(erstellt: Mai 2006)
Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/26893/
→ Körper
1. Mensch und Gott
Vom Menschen ist im Alten Testament in unterschiedlichen Zusammenhängen von der Urgeschichte bis zur Prophetie und den Psalmen die Rede; auch wird er verschieden bestimmt, z.B. als Geschöpf, als erkennendes und handelndes Wesen und als Beter. Übergreifend gilt weithin, was Ps 8,5
Die Anschauungen des Alten Testaments über den Menschen werden in den zentralen Texten dabei nicht als theoretisch-systematische Grundlegungen entfaltet und formuliert, sondern z.B. in erzählender Form in der Urgeschichte dargeboten, im Sprechen zu und über Gott in den Psalmen und in spruchhafter (gnomischer) Form in der Weisheit.
2. Was den Menschen ausmacht
Alttestamentliche Anthropologie bringt nachkonstruierend zum Ausdruck, was an impliziter und expliziter Anschauung über den Menschen im Alten Testament gesagt wird. Die bisherige anthropologische Forschung zum Alten Testament hat sehr stark die expliziten Aussagen herangezogen, die direkt vom Menschen handeln (H.W. Wolff).
Wesentliche Einsichten, die auf diesem Weg erzielt wurden, betreffen die sog. anthropologischen Grundbegriffe:
● בשׂר bāśār „Fleisch“ (Aspekt des körperlich-vergänglichen Anteils an Mensch und Tier, wird nie von Gott ausgesagt),
● לֵב lev „Herz“, besonders Sitz des Verstandes (Aspekt der Rationalität),
● נֶפֶשׁ næfæš „Leben, Gier, Kehle“ (Aspekt des Lebens, der Lebendigkeit),
● רוּחַ ruach „Wind, Geist, Kraft, Vitalität“ (Aspekt der letztlich von außen kommenden Vitalität).
Diese Reihe ist zu vermehren um weitere „Stellvertreterausdrücke“ für den Menschen, wie sie sich z.B. in Ri 7,2
● Fuß (Aspekt der Präsenz, Kraft und Macht): Ps 94,18
● Auge (Aspekt des Sehens und Erkennens): Ps 92,12
● Ohr (Aspekt des Hörens und Begreifens),
● vgl. weitere Körperteile.
Der Mensch kann nach dem Alten Testament als Ganzes unter dem jeweiligen Aspekt gesehen werden, den ein anthropologischer Begriff oder ein Körperteil zum Ausdruck bringt. Die alttestamentliche Anschauung zum Menschen verzichtet darauf, alle diese Aspekte in ein System zusammenzubinden. Sie stehen vielmehr additiv-parataktisch nebeneinander, ohne in ein „System“ Mensch integriert zu sein.
Damit unterscheidet sich die alttestamentliche Sicht des Menschen etwa von der griechischen, die den Menschen „systemhaft“ als dichotomisch aus Körper und Geist oder trichotomisch aus Körper, Geist und Seele zusammengesetzt sieht.
3. Implizit greifbare Anschauungen über den Menschen
Neben den expliziten Aussagen über den Mensch stehen implizite. Es lassen sich etwa bestimmte Eigenarten des „Denkens“, der „Körperauffassung“, des „Fühlens“ finden (Janowski 2006 und 2005; Wagner 2006 und 2007). Bei diesen Grundbestimmungen handelt es sich um Mentalitäten, die für den alttestamentlichen Menschen prägend sind. Sie bilden die Grundlage für die geistigen Äußerungen; wollen wir diese adäquat verstehen, müssen wir auch diese anthropologischen Grundlagen berücksichtigen. Die drei genannten „Mentalitäten“ – die hier nur exemplarisch für weitere stehen – lassen sich folgendermaßen charakterisieren:
a) Oben wurde unter 2. angedeutet, dass eine Tendenz des „Denkens“ des Alten Testaments darin besteht, sich Phänomenen additiv zu nähern; diese Tendenz lässt sich deutlich beim Parallelismus membrorum beobachten (Wagner 2007).
b) Körperteilbezeichnungen (Hand, Auge, Ohr usw.) erfüllen im Alten Testament nicht nur die Aufgabe, die entsprechenden Körperglieder zu beschreiben, sondern sind immer auch in ihrer funktionalen Bedeutung zu sehen: „Hand“ kann für Handeln, Machtausüben etc. stehen, „Auge“ für Sehen und Erkennen, „Ohr“ für Hören usw. Dieses „synthetische Denken“ (Wolff; Wagner 2007c) ist Ausdruck einer Körperauffassung, die den Körper stark in Beziehung setzt zu der mitmenschlich-sozialen Welt.
c) Das alttestamentliche Konzept von Gefühl, Emotion und Affekt unterscheidet sich deutlich von dem griechisch-abendländischen. Im letztgenannten Bereich ist die zentrale Metapher für Gefühlsausdrücke die sog. „Behältermetapher“ („er ist voll von Hass/Liebe etc.“). Darin spiegelt sich, dass der Körper als Gefäß für Gefühle und Emotionen aufgefasst wird und der Mensch letztendlich die Aufgabe hat, die „interioren“ Gefühle und Emotionen in seiner materialen Hülle unter Kontrolle zu bringen (Schmitz, Böhme, dazu Wagner 2006). Im Alten Testament findet sich die Behältermetapher so gut wie nicht. Gefühle erscheinen hier als etwas, das (von außen) über den Menschen kommt (Num 5,14
4. Anthropologie und Anthropomorphismus
Alle Bestimmungen, die sich über den Menschen aussagen lassen und Gegenstand der alttestamentlichen Anthropologie sind, finden sich im „Bild“ Gottes wieder als Gegenstand der Theologie. Anthropomorphe Redeweise prägt das ganze Alte Testament. Durch das Bilderverbot ist die anthropomorphe Vorstellung von Gott im Alten Testament eingeschränkt auf den Bereich des sprachlich-mentalen Bildes (vgl. Uehlinger, Art. Bilderverbot, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Bd.1, Sp.1574-1577). In diesem Bereich entfaltet sich ein reichhaltiges Reden von Gottes Gestalt (Anthropomorphismus im engeren Sinne), Gottes Gefühlswelt (Anthropopathismen), seinem Handeln (Anthropopragmatismus) und Sprechen (Anthropolingualismus). Durch den Anthropomorphismus wird Gott nach dem Alten Testament als handlungs- und kommunikationsfähiger Partner des Menschen gezeichnet, der wie der Mensch auch eine emotionale Seite hat. Diese Konzeption macht Gott dem Menschen fassbar und bildet ein Gegengewicht zu einem allzu abstrakten Gottesbild (→ Körper / Körperteile
5. Anthropologische Positionen im Alten Testament
Zentrale und zum Teil divergente anthropologische Positionen finden sich im Alten Testament in folgenden Kontexten:
● In der nicht-priesterschriftlichen → Urgeschichte
● Ungleich positiver erscheint der Mensch dagegen in der Konzeption der priesterschriftlichen Urgeschichte: Der Mensch ist hier das höchste der Schöpfungswerke (Gen 1,1–2,4a
● Texte des → Deuteronomistischen Geschichtswerkes
● Innerhalb der → Prophetie
● Auch in der → Weisheit
● Die → Psalmen
6. Das Alte Testament als anthropologisches Dokument
Alle die beschriebenen Facetten bzw. Aspekte können jeweils als eine vollgültige Menschensicht „des“ Alten Testaments verstanden werden. Ein basso continuo findet sich in der Vorstellung von Gott und Mensch als Gegenüber, in der Geschöpflichkeit des Menschen und seiner Freiheit zum Handeln. Das Alte Testament insgesamt, in der Fülle seiner Aspekte, bringt es auf eine Volltönigkeit an anthropologischen Perspektiven, die es sowohl in der Religionsgeschichte wie überhaupt in der Menscheitsgeschichte zu einem singulären Dokument macht.
Literaturverzeichnis
1. Lexikonartikel
- Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1977-2004 (Mensch; Urgeschichte)
- Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2007 (Mensch; Menschendarstellungen)
2. Weitere Literatur
- Frevel, Christian / Wischmeyer, Oda, Menschsein. Perspektiven des Alten und Neuen Testaments (NEB, Themen 11), Würzburg 2003.
- Gombrich, Ernst H., Die Geschichte der Kunst. Frankfurt 16. Aufl. 1995 (1. Aufl. 1952, zuerst engl. 1950).
- Hedwig-Jahnow-Forschungsprojekt (Hg.), Körperkonzepte im Ersten Testament. Aspekte einer Feministischen Anthropologie, Stuttgart u.a. 2003.
- Janowski, Bernd, Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen, Neukirchen-Vluyn 2. Aufl. 2006 (2003).
- Janowski, Bernd, Die lebendige Statue Gottes. Zur Anthropologie der priesterlichen Urgeschichte, in: Markus Witte (Hg.), Gott und Mensch im Dialog (FS Otto Kaiser; BZAW 345), Bd. 1, Berlin / New York 2004, 183-214.
- Janowski, Bernd, Der Mensch im alten Israel. Grundfragen alttestamentlicher Anthropologie, ZTHK 102 (2005), 143-175.
- Keel, Othmar, Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament am Beispiel der Psalmen, 5. Aufl. Göttingen 1996.
- Koch, Klaus, Die Profeten I. Assyrische Zeit, Stuttgart u.a. 3. Aufl. 1995 (1. Aufl. 1978).
- Michel, Diethelm, Proverbia 2 – ein Dokument der Geschichte der Weisheit, in: Jutta Hausmann / Hans-Jürgen Zobel (Hgg.), Alttestamentlicher Glaube und biblische Theologie (FS Horst Dietrich Preuß), Stuttgart u.a. 1992, 233-243.
- Müller, Achim, Proverbien 1-9. Der Weisheit neue Kleider (BZAW 291), Berlin / New York u.a. 2000.
- Rad, Gerhard von, Das erste Buch Mose. Genesis (ATD 2/4), Göttingen 12. Aufl. 1987 (1. Aufl. 1949).
- Schäfer, Heinrich, Von Ägyptischer Kunst, besonders der Zeichenkunst. Eine Einführung in die Betrachtung ägyptischer Kunstwerke, 2 Bde, Leipzig 1919; 4. verbesserte Auflage hg. und mit einem Nachwort versehen von Emma Brunner-Traut, Wiesbaden 1963; engl. 3. Aufl. 1986
- Schmitt, Hans-Christoph, Arbeitsbuch zum Alten Testament, Göttingen 2005.
- Schroer, Silvia / Staubli, Thomas, Die Körpersymbolik der Bibel, Darmstadt 2. Aufl. 2005.
- Wagner, Andreas, Emotionen, Gefühle und Sprache im Alten Testament. Drei Studien (KUSATU), Waltrop 2006.
- Wagner, Andreas, Der Parallelismus membrorum zwischen poetischer Form und Denkfigur, in: Andreas Wagner (Hg.), Parallelismus membrorum (OBO), Freiburg (Schweiz) / Göttingen 2007, 1-26.
- Wagner, Andreas, Gottes Körper: Zur alttestamentlichen Vorstellung der Menschengestaltigkeit Gottes, Gütersloh 2010
- Wagner, Andreas, Das synthetische Bedeutungsspektrum hebräischer Körperteilbezeichnungen, BZ 51, 2007c (im Druck)
- Waschke, Ernst-Jochim, Die Bedeutung der Königstheologie für die Vorstellung der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, in: Andreas Wagner, Anthropologische Aufbrüche. Alttestamentliche Menschenkonzepte und anthropologische Positionen und Methoden (FRLANT), Tübingen 2007 (im Druck)
- Wolff, Hans-Walter, Anthropologie des Alten Testaments, Gütersloh 7. Aufl. 2002 (1973).
Abbildungsverzeichnis
- Darstellung eines Menschen auf Pithos B aus Kuntillet ‘Aǧrūd (8. Jh. v. Chr.). Aus: O. Keel / C. Uehlinger, Götter, Göttinnen und Gottessymbole (QD 134), Freiburg u.a. 5. Aufl. 2001, 243 Abb. 221 (Ausschnitt); © Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz
PDF-Archiv
Alle Fassungen dieses Artikels ab Oktober 2017 als PDF-Archiv zum Download:
Abbildungen
Unser besonderer Dank gilt allen Personen und Institutionen, die für WiBiLex Abbildungen zur Verfügung gestellt bzw. deren Verwendung in WiBiLex gestattet haben, insbesondere der Stiftung BIBEL+ORIENT (Freiburg/Schweiz)