Neu / Neuschöpfung (AT)
(erstellt: Juni 2007)
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→ Eschatologie
1. Antikes Geschichts- und Lebensverständnis
Erst in der Neuzeit haben sich abendländische Kulturen anscheinend auch im Alltagsleben voll der Zukunft zugewandt. Vorher lebten die Menschen eher rückwärts gewandt, die verlässliche Tradition fest im Blick, die Zukunft dagegen im Rücken. Jedenfalls deuten manche biblischen Redewendungen ein solches in unseren Augen „verkehrtes“ Verhältnis zur Vergangenheit an. Die hebräischen und akkadischen Ausdrücke für „hinterher, am Ende“ bezeichnen nicht nur eine räumliche Lage, sondern auch das zeitlich „Zukünftige“. Auch die Ausdrücke für das, was „vor Augen, vorne“ liegt, können das „Vergangene“ meinen. „Modernes“ Denken setzt demgegenüber geradezu eine Kehrtwendung und damit eine grundlegende Neuorientierung voraus. Im Übrigen ist das Neue im Naturkreislauf immer bewusst gewesen (Neumond, frisches Grün, neue Ernte, erneuertes Leben). Außerdem erkannten schon die biblischen Zeugen das hermeneutische Problem der Veränderung (Neuwerdung), man vergleiche nur die einschneidende Rede vom „neuen Bund“, „neuem Herzen“ und „neuem Geist“ (Jer 31,31-34
1.1. Altes und Neues
Vor diesem Hintergrund erscheinen die Möglichkeiten des Neuen recht ambivalent. Neues muss sich vom Alten abheben, aber das Alte ist das Vertraute, Gebotene, und das Neue kann furchtbar bedrohlich sein (vgl. Ex 1,8
1.2. Schichten und Situationen
Die alttestamentlichen Befunde sind immer sehr komplex, weil sie unterschiedliche geschichtliche, soziale und religiöse Situationen spiegeln, die noch dazu in einem langen Überlieferungsprozess mehr oder weniger kontinuierlich auf- und zusammengearbeitet worden sind. Wir haben also ständig nach den konkreten Haftpunkten biblischer Aussagen über Alt und Neu zu fragen. Jeder Text hat dabei an seinem Ort eine geschichtliche Tiefendimension. Es legt sich nahe, Hauptstränge der Überlieferung nach ihrer gesellschaftlichen Konstellation und gattungsmäßigen Ausprägung getrennt voneinander zu untersuchen. Die Familien- und Sippentradition, besonders in ihrer bäuerlich-sesshaften Verankerung, ist grundlegend. Städtisch-staatliche Horizonte, vor allem am Anfang und Ende der Königszeit als gravierender Umbruch empfunden (vgl. Ri 9; 1Sam 8), haben tiefe Spuren hinterlassen. Letztlich prägend für das ganze Alte Testament war die judäische, zum Teil von Babylonien bis Ägypten zerstreute Konfessionsgemeinschaft, die JHWH als ihren Gott bekannte und seine Tora zur Lebensgrundlage hatte. Sie bestimmt Literatur, Wertvorstellungen und Glauben, welche auch Christen und Muslime übernommen haben.
2. Sterben und wieder leben
Menschliche Existenz geschieht (bis heute) überwiegend im kleinen Kreis von Familie, Nachbarschaft, Arbeitsverrichtung, lokalen Festen, im persönlichen Zusammenleben, wo man sich namentlich kennt. Alttestamentliche Quellen für diesen intimen Lebensbereich sind Familienerzählungen (z.B. im Buche Genesis), individuelle Klage- und Danklieder des Psalters, mannigfaches Spruchgut und zivilrechtliche Bestimmungen.
2.1. Erneuerung in Lebenskrisen
Lebensbedrohungen (schwere Erkrankungen, Dämonen, soziale Ächtung usw.) waren ausweglos, wenn nicht mit Hilfe der Gottheit ein Ausbruch aus der tödlichen Falle gelang. Die guten Kräfte: Segen, Wohlwollen Gottes, Glück (besser: Heil = שׁלום šālôm), waren abhanden gekommen. Nur ihre Erneuerung konnte das Geschick des oder der Betroffenen noch einmal wenden. Darum finden sich in den Notgebeten die intensiven Bitten um JHWHs Nähe, Beistand und die Vernichtung der vielgestaltigen Feinde. Und in Erhörungsgewissheit und Dank beschreiben die Psalmen, was der persönliche Gott JHWH (bzw. ’älohîm „Gott“, ‘æljôn „der Höchste“ usw.) für die Not leidende Person, die jeweils eingebettet ist in ihren Familienverband, getan hat oder tut. „Du stellst meine Füße auf weiten Raum“ (Ps 31,9b
2.2. Jahreszeitliche Erneuerung
Natürlich sind Menschen eingebunden in den Kreislauf der Jahreszeiten; das war den antiken Vorfahren stärker bewusst als uns Heutigen. Die Vegetation erneuert sich im Vorderen Orient jährlich nach sengenden Sommerperioden. Grün ist die Farbe des Lebens. Alte Mythen erzählen eindrücklich vom Tod des Vegetationsgottes als Ursache für das Pflanzensterben (vgl. den ugaritischen Baal-Zyklus KTU 1.1-16; TUAT III, 1091-1198; Text Ugarit Baal-Zyklus
Innerhalb des von der Sonne gesteuerten jährlichen Zyklus hält der Mond (nach Gen 1,16
3. Staat und Dynastie
In der Großgesellschaft nimmt die Begrifflichkeit von „neu“, „erneuern“, „neu schaffen“ andere Dimensionen an. Recht und Ordnung sind im nationalen und eventuell gar kosmischen Maßstab zu bewahren, gegebenenfalls zu regenerieren.
3.1. Politisch-rechtliche Reformen
Aufrichtung und Durchsetzung von Recht und Gesetz in großen Bevölkerungen städtischer oder staatlicher Provenienz gehört seit Anfang der vorderorientalischen Geschichte im 3. Jt. v. Chr. zu den Standardaufgaben der regierenden Häupter. Sie berufen sich auf göttliche Beauftragung, so wie fast 1000 Jahre später → Hammurabi
3.2. Dynastisch-religiöse Erneuerungen
Im Alten Orient und weit darüber hinaus wird die Herrschaft der Regierenden selbstverständlich auf göttliche Legitimation gegründet. Das ist im Alten Testament nicht anders. Die Beauftragung zur Vizeregentschaft für den Staats- oder Volksgott wird in eine Bestandsgarantie für die eigene Herrschaft umgemünzt (2Sam 7,4-17
3.3. Veränderung der Gottesvorstellung
Im Zuge von großgesellschaftlichen Entwicklungen hat sich in Israel der Gottesglaube stark verändert. Zwar blieb der Glaube der Kleingruppen (Haus- und Lokalkulte) bis zum Ende der Monarchie im Wesentlichen erhalten. Aber Staatstheologen entwickelten aus stammesgeschichtlichen Konzepten die Vorstellung von dem Israel beschützenden Reichsgott (Gerstenberger, 2001). Er kämpft gegen alle Feinde und garantiert Landbesitz und Erhalt der Dynastie. Sein Titel ist – nach altorientalischem Vorbild – „König“ (מלך mælækh), bzw. „König der Könige“. Dass hier eine radikale theologische Neuerung vorliegt, haben bereits manche alttestamentlichen Zeitzeugen empfunden (vgl. Ri 9,8-15
4. Konfessionsgemeinschaft
Nach der babylonischen Eroberung und während der Perserherrschaft vollzieht sich eine entscheidend neue Entwicklung: Das davidische Staatswesen verwandelt sich sozusagen in eine Konfessionsgemeinschaft (vgl. Gerstenberger, 2005). Dieser Wandel wurde am deutlichsten von → Deuterojesaja
4.1. Herzenstora und Geschwisterethos
Die „Auffindung“, historisch zutreffender: schriftliche Ausbildung, der Tora gegen Ende der Königszeit (vgl. 2Kön 22,3ff
4.2. Prophetie als Toraverkündigung
Israels wechselhafte Geschichte der prophetischen Verkündigung spiegelt sich in manchen Texten (vgl. 1Sam 9,9
4.3. Welt- und Menschenschöpfung
Erst im Kontext der babylonischen und persischen Imperien bildeten sich wohl auch in Israel ein universales Weltbewusstsein und ein gewisser „Monotheismus“ heraus (unser Begriff ist stark von der griechischen Philosophie geprägt und darum auf das Alte Testament nicht anwendbar). Wiederum ist Deuterojesaja ein früher, starker Zeuge: „Meine Hand hat die Erde gegründet, und meine Rechte hat den Himmel ausgespannt. Ich rufe, und alles steht da.“ (Jes 48,13
4.4. Eschatologie und Apokalyptik
Nach allem, was wir erkennen können, ist die Hoffnung auf die grundsätzliche Erneuerung der Schöpfung in Israel und seiner Umwelt gleichzeitig gewachsen. Schon im spätbabylonischen Zeitalter machten sich pessimistische Strömungen bemerkbar (vgl. die skeptische Weisheit: Lambert, 1960; das Erra-Epos: Müller, TUAT 3, 781-801). Einen entscheidenden Schub brachte die Zarathustra-Religion im persischen Großreich. Ihre Vision des sich verschlechternden Weltzustandes, der nur mit einer endzeitlichen Entscheidungsschlacht des Guten gegen das Böse aufgehoben werden kann, hatte tiefe Wirkung auf biblische Theologen und ist noch heute beängstigend virulent in westlichen Denksystemen. Alttestamentliche Vorläufer sind globale Vernichtungsszenarien wechselnder Färbung, die alle den Gedanken durchspielen: Das Alte ist böse und muss ausgerottet werden (vgl. Jes 24-27; Ez 38-39; Sach 1-6; Dan 2; Dan 7 etc.).
5. Nachhaltige Neuschöpfung
Was wird nach der Aufhebung der bösen Welt sein? Nur zaghaft denken die alttestamentlichen Zeugen in die unerfahrbare Zukunft hinein. Vorstellungen von Auferstehung der Toten (vgl. Ez 37,1ff
Eine andere Überlieferung überzeichnet, vielleicht mit einem Schuss Selbstironie, die Zukunftsspekulation ins Unwirkliche: „Da werden die Wölfe bei den Lämmern wohnen und die Panther bei den Böcken lagern. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben. Kühe und Bären werden zusammen weiden, dass ihre Jungen beieinander liegen, und Löwen werden Stroh fressen wie die Rinder. Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter, und ein entwöhntes Kind wird seine Hand stecken in die Höhle der Natter. Man wird nirgends Sünde tun noch freveln auf meinem ganzen heiligen Berge; denn das Land wird voll Erkenntnis JHWHs sein, wie Wasser das Meer bedeckt.“ (Jes 11,6-9
Wieder andere Träume gehen in den Bereich der Völkerverständigung und des dauerhaften Friedens, der Vorrangstellung Jerusalems und der Unterordnung der Feindvölker (vgl. Jes 4,2-6
6. Neues im Alten, Neues gegen Altes
Eine absolute Neuheit von Ereignissen oder Dingen gibt es im Alten Testament und im Alten Orient so gut wie nicht. Auch Unerhörtes, Einmaliges, Unvorstellbares hat immer noch eine Verbindung zur (damaligen!) Wirklichkeit, d.h. es ist nicht antagonistisch der Realität entgegengesetzt. Josua gelingt es, mit seiner beschwörenden Bitte die Sonne in ihrem Lauf anzuhalten: „Es war kein Tag diesem gleich, weder vorher noch danach, dass JHWH so auf die Stimme eines Menschen hörte ..“ (Jos 10,14
Eine eindeutige Privilegierung des Neuen gibt es im Alten Testament nicht. Oft ist das Neue eben auch das bewährte, originale, von Gott sanktionierte Alte. Eher heißt es geradewegs: „Fragt nach den Wegen der Vorzeit“ (Jer 6,16
Die alttestamentlichen Aussagen über das Neue – sofern es denn das Alte überwinden muss – pendeln (wenn wir von dem skeptischen „es gibt nichts Neues unter der Sonne“, Pred 1,9
Der evolutive, wenngleich kämpferisch erzwungene Übergang vom → Chaos
Die zweite Grundposition kommt in den Blick, wenn Ezechiel von JHWH erlassene Gesetze als „nicht gut“ einschätzt (Ez 20,25
Das neue Gottesreich der Apokalyptik ist der geschichtlichen Herrschaft von Menschen so diametral entgegengesetzt, dass es seine befreiende und beglückende Kraft nur durchsetzen kann, indem es Bestehendes definitiv beendet (vgl. aber die Wiederbelebung toter Skelette in Ez 37!). So wird Daniel in einem Traum (Dan 7) die Einsicht zuteil, dass die unterdrückerische Herrschaft der großen Tiere, insbesondere des vierten, das das letzte Weltreich symbolisiert, durch ein direktes Eingreifen vom Himmel aus beendet wird: Das vierte Tier wird nicht nur getötet, sondern auch noch verbrannt (Dan 7,11
Literaturverzeichnis
1. Lexikonartikel
- Biblisch-historisches Handwörterbuch, Göttingen 1962-1979
- Encyclopedia of Religion, New York 1987
- Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Stuttgart u.a. 1973ff
- Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1977-2004
- Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, München / Zürich 1978-1979
- Neues Bibel-Lexikon, Zürich u.a. 1991-2001
2. Weitere Literatur
- Barth, Ch., 1997, Die Errettung vom Tode (1947), neu hg. von B. Janowski, Stuttgart
- Barr, J., 1966, Old and New in Interpretation. A Study of the Two Testaments, London (deutsch: Alt und neu in der biblischen Überlieferung, München 1967)
- Blenkinsopp, J., 1983, 2. Aufl. 1996, A History of Prophecy in Israel (deutsch: Geschichte der Prophetie in Israel, Stuttgart 1998)
- Cagni, L., 1977, The Poem of Erra (Sources from the Anicent Near East 1/3), Malibu
- Crüsemann, F., 1978, Der Widerstand gegen das Königtum (WMANT 49), Neukirchen-Vluyn
- Dietrich, M. / Loretz, O., 1997, Der Baal-Zyklus KTU 1.1-1.6, in: TUAT 3,6, Gütersloh, 1091-1198
- Gerstenberger, E.S., 1993, Das dritte Buch Mose. Leviticus (ATD 6), Göttingen
- Gerstenberger, E.S., 2001, Theologien im Alten Testament, Stuttgart
- Gerstenberger, E.S., 2005, Israel in der Perserzeit (BEnz 8), Stuttgart
- Gunkel, H., 1895, 2. Aufl. 1921, Schöpfung und Chaos in Urzeit und Endzeit, Göttingen
- Lambert, W.G., 1960, Babylonian Wisdom Literature, Oxford
- Jeremias, J., 2005, Art. Theophanie II. Altes Testament, in: RGG 4. Aufl., Tübingen, 8, 336-338
- Müller, G.G.W., 1994, Ischum und Erra, in: TUAT 3,4, Gütersloh, 781-801
- Renz, J. / Röllig, W., 1995, Handbuch der althebräischen Epigraphik, Bd. I-III, Darmstadt
Abbildungsverzeichnis
- Göttin mit Zweigen als Symbol vegetativer Erneuerung (Skarabäus aus Geser; Mittlere Bronzezeit IIB). Aus: S. Schroer, Die Zweiggöttin in Palästina / Israel. Von der Mittelbronze II B-Zeit bis zu Jesus Sirach, in: M. Küchler / C. Uehlinger (Hgg.), Jerusalem. Texte – Bilder – Steine (FS H. Keel-Leu / O. Keel, NTOA 6), Freiburg (Schweiz) / Göttingen, 1987, 201-225, Abb. 1; © Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz
- Der Gott Schamasch übergibt König Hammurabi (1729-1686 v. Chr.) Rechtsentscheide. © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
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