Deutsche Bibelgesellschaft

(erstellt: Februar 2020)

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Nach 2Kön 19,37 = Jes 37,38 wurde der assyrische Großkönig Sanherib (→ Assyrer) von seinen Söhnen im Tempel seines Gottes Nisroch ermordet. Der Name des Gottes lautet im Masoretischen Text נׅסְרֺךְ nisrokh.

Die → Septuaginta bietet davon abgeleitete Formen. Νασαραχ Nasarach (Νεσεραχ Neserach, Νεσερεχ Neserech) und Ασαρακ Asarak (Ασαραχ Asarach) sind dem Hebräischen sehr nahe, setzen aber eine andere Vokalisierung, v.a. die für das vormasoretische Hebräisch zu erwartende Vokalisierung der ersten Silbe mit einem a-Laut, voraus. Weiter entfernt, aber sicher auch von der hebräischen Form abgeleitet, sind die Namensformen Εσδραχ Esdrach (Codex B) bzw. Εσθραχ Esthrach (Codex A) in der Wiedergabe von 2Kön 19,37.

Da ein Gott namens „Nisroch“ in Mesopotamien unbekannt ist, stellt sich die Frage nach der Entstehung des im hebräischen Text genannten Gottesnamens.

Unabhängig von dieser historisch-philologischen Rückfrage ist die Wirkungsgeschichte des Namens „Nisroch“ in der Rezeption der biblischen Texte zu betrachten. In der Wirkungsgeschichte können ältere Traditionen und historische Erinnerungen wirksam geworden sein.

1. Zur Erklärung des Namens „Nisroch“

1.1. Zum historischen Quellenwert von 2Kön 19,37 = Jes 37,38

Die Notiz über die Ermordung Sanheribs in 2Kön 19,37 = Jes 37,38 beschließt die Erzählung über die Belagerung und Bewahrung Jerusalems in 2Kön 18,13-19,37 = Jes 36,1-37,38, die als „Beispiel biblischer Geschichtsdeutung“ (Gaß) gelten kann. Die narrativ-theologische Funktion der Mordnotiz liegt in der Feststellung, dass sich die Ankündigung des göttlichen Gerichts über Sanherib (2Kön 19,6f. = Jes 37,6f.) erfüllt hat, wobei sich Jahwe zugleich als der wahre Gott erwiesen hat: Sanheribs Gott konnte ihn nicht einmal im eigenen Tempel vor der Strafe Jahwes schützen. Aufgrund dieses theologischen Interesses folgt die Mitteilung der Ermordung Sanheribs unmittelbar auf die Schilderung der Jerusalemer Ereignisse (701 v. Chr.), obwohl Sanherib tatsächlich erst zwanzig Jahre später (20. Ṭebētu 681 v. Chr.; nach: Chronicle 1 iii 34f., in: Grayson, 81) getötet wurde. Bei aller Idealisierung ist die Notiz als historische Quelle zum Ende Sanheribs ernstzunehmen (vgl. z.B. Mayer, 378-380; Elayi, 146-150).

Historische Erinnerungen scheinen die Namen der beiden Söhne zu enthalten, die als Königsmörder genannt sind: → „Adrammelech“ kann auf ein assyrisches „Arad-Mulišši“ zurückgeführt werden, den Namen eines Sohnes Sanheribs, der auch aufgrund von assyrischen Quellen als Mörder des Vaters in Frage kommt (Parpola); der Name des zweiten Täters, „Sarezer“, scheint auf einen akkadischen theophoren Namen des Typs GN-šarra-uṣur („GN schütze den König“) zurückzugehen (so u.a. Mayer, 378 Anm. 9; auch Frahm 1997, 18f.; Tammuz 103f. mit negativen historischen Folgerungen). Die Flucht der Königsmörder nach Urartu entspricht der bei Asarhaddon erwähnten Flucht der Sanherib-Mörder „in ein unbekanntes Land“ (Nin A-F, Episode 2, 84, in: Borger, 44f.).

Dass die Notiz Namen enthält, die in den assyrischen Bereich weisen, und dass sie die Flucht der Königsmörder und die Thronbesteigung Asarhaddons erwähnt, ohne dass dies vom theologischen Anliegen verlangt wäre, lässt vermuten, dass die biblische Erzählung an dieser Stelle auf mesopotamische Traditionen, etwa auf Mitteilungen einer Chronik (so Höffken, 34), zurückgreift. Dann ist aber auch für den Gottesnamen „Nisroch“ ein historischer Hintergrund im Umfeld Sanheribs anzunehmen.

1.2. „Nisroch“ als Verschreibung für „Nimrod“

Die einfachste Möglichkeit, den Gottesnamen zu erklären, besteht darin, נׅסְרֺךְ nisrokh als Verschreibung von נׅמְרֹד nimrōd aufzufassen (v. Soden 1989, 337). Dazu muss nur eine Verschreibung von מ m zu ס s sowie von ד d zu ך k unterstellt werden, die aufgrund der graphischen Ähnlichkeit der Buchstaben jeweils leicht möglich ist.

Nimrod ist in Gen 10,8-12 als Prototyp eines mesopotamischen Großkönigs genannt. Der Name dürfte aber auf den mit Jagd, Krieg und Dämonenabwehr verbundenen Gott Ninurta zurückgehen. Diesen Gott verehrten die assyrischen Könige in besonderer Weise als ihren Schützer und Begleiter (vgl. Streck 2001a, 520; schon v. Soden 1989, 337). Nimrod / Ninurta kann daher sehr gut in 2Kön 19,37 = Jes 37,38 als Gott Sanheribs genannt worden sein.

Ein Problem der Identifizierung von „Nimrod“ und „Ninurta“ könnte darin liegen, dass aufgrund fehlender Zwischenformen nicht nachzuvollziehen ist, wie „Nimrod“ vom ursprünglich sumerischen „Ninurta“ abgeleitet wurde. Uehlinger (1999a, 627) benennt das Problem, hält die Identifizierung aber aus sachlichen Gründen für plausibel (vgl. Gaß, 172 m. Anm. 66, Lit!).

1.3. Konsequenzen der Lesart „Nimrod“ für die historische Rekonstruktion der Ermordung Sanheribs

Wird in 2Kön 19,37 = Jes 37,38 „Nimrod“ für „Nisroch“ konjiziert, kann in der biblischen Darstellung eine historisch zutreffende Erinnerung daran erhalten geblieben sein, dass Sanherib im Haupttempel Ninurtas in → Kalchu getötet wurde. Unter dieser Voraussetzung ergeben auch schwer verständliche Aussagen in zwei assyrischen Quellen einen guten Sinn (vgl. zum Folgenden v. Soden 1990).

Die erste dieser Quellen ist das Fragment eines Briefes des Gottes Ninurta an einen „Fürsten“ (rubû) (K 2764; in: Livingstone, SAA III, Nr. 47), in dem noch erkennbar ist, dass der Gott in einer nach v. Soden (1990, 17) singulären Weise Wut und Zorn zum Ausdruck bringt, die auf einen besonderen Anlass schließen lässt. Der Brief könnte unmittelbar nach dem Mord an Asarhaddon geschickt worden sein, u.a. um die Ninurta-Priester von Kalchu vom Verdacht einer Beteiligung am Mordkomplott zu befreien. Uehlinger (1999b, 631) nennt weitere Deutungsmöglichkeiten im Umfeld der Ermordung Sanheribs.

Die zweite Quellenaussage ist eine Bemerkung Assurbanipals, nach der er im Anschluss an die Eroberung Babylons im Bruderkrieg gegen Schamasch-schum-ukin (vgl. dazu Mayer, 405-407), „bei den Stierkolossen“ (ina dALÀD.dLAMMA = ina aladlammê), in deren Mitte sein Großvater Sanherib getötet worden war, seinerseits Überlebende des Babylonkrieges als Totenopfer für ihn (ina kispīšu) tötete (Col. IV 70-73; Transliteration in: Streck, M. 1916 II, 38; teilweise korrigiert).

Da es als aladlammû (AHw I, 31: „menschenköpfiger Stierkoloß“) bezeichnete Großplastiken nur in Assyrien gab, können diese „Totenopfer“ nicht in Babylon stattgefunden haben (v. Soden 1990, 16; Mayer, 379 m. Anm.4). Ihr Ort dürfte der von Stierkolossen flankierte Torbereich in einem offiziellen Gebäude Assyriens gewesen sein. Der Ninurtatempel in Kalchu kommt als Ort der „Totenopfer“ in Frage und wäre dann mit dem Ort des Mordes an Sanherib identisch. In Frage kommt auch ein königlicher Palast, dann wohl in → Ninive (vgl. Frahm 1997, 19; Elayi, 146). Vielleicht deutet aber die literarische Rede von den „Totenopfern“ eher auf einen Tempel als auf eine im Palast vollzogene Strafe hin.

1.4. Zu weiteren Erklärungsversuchen des Namens „Nisroch“

Da die Möglichkeit einer Verschreibung des Namens „Nimrod“ zu „Nisroch“ leicht nachvollziehbar ist und die Lesart „Nimrod“ historisch und religionsgeschichtlich plausibel ist, kann diese Lesart in 2Kön 19,37 = Jes 37,38 als ursprünglich angenommen werden. Damit sind andere, z.T. deutlich kompliziertere Erklärungsversuche des Namens „Nisroch“ verzichtbar. Das gilt im Wesentlichen für folgende Alternativen (vgl. dazu auch Uehlinger, 1999b; Gaß, 172f.):

1) Ausgehend davon, dass sich die Mardukstatue nach der Zerstörung Babylons durch Sanherib (689 v. Chr.) im Assurtempel von Assur befand, erklärt J.P. Lettinga den Gottesnamen „Nisroch“ als Mischform aus „Assur“ und „Marduk“. Allerdings scheint diese Erklärung mehr auf die in der Septuaginta belegten Formen Εσδραχ Esdrach und Ασαραχ Asarach gestützt zu sein als auf die hebräische Form „Nisroch“.

2) G.W. Vera Chamaza (248f.) schlägt vor, „Nisroch“ von der Wurzel נסך nsk („[aus]gießen“) abzuleiten, von der auch ein Begriff für ein gegossenes Götterbild (נֶסֶךְ næśækh) abgeleitet ist (Jes 41,29; Jes 48,5). Der Gott Sanheribs wäre damit schon im Namen als Götzenbild bezeichnet. Das in der Wurzel nicht enthaltene „r“ des Gottesnamens kann entweder durch Verschreibung von ו ô zu ר r erklärt werden – der Gottesname hätte dann einen langen Vokal angenommen (נסוך; etwa: nesôkh) –, es kann aber auch als „Signalbuchstabe für den Gottesnamen ‚Assur‘“ erklärt werden (Vera Chamaza, 249 m. Anm. 77). Die Kompliziertheit dieser Erklärung ist offensichtlich.

3) Der in der ersten Auflage des Dictionnaire encyclopédique de la Bible (DEB) von E. Lipiński vertretene Vorschlag, anstelle von ביתנסרך bjt nisrk als ursprüngliche Lesart ביתסרכן bjt srkn anzunehmen und an eine Ermordung Sanheribs während eines Gastmahls in Dur-Scharrukin zu denken, nötigt zugleich dazu, das vorausgehende משתחוה mštḥwh „niederfallend / die Proskynese vollziehend“ in משתה mšth „Gastmahl / Gelage“ zu ändern. Diese Rekonstruktion verlangt aber nicht nur umfassendere Eingriffe in den Text, sie empfiehlt sich auch deshalb nicht, weil Dur-Scharrukin von Sanherib nach dem Tod Sargons II. als Residenz aufgegeben worden war und der Königsname „Scharrukin“ in hebräischer Wiedergabe als סרגון srgwn „Sargon“ (Jes 20,1) erscheint, also nicht, wie in der Rekonstruktion vorausgesetzt, als סרכן srkn. Obwohl sich diese Rekonstruktion in der Literatur noch findet (vgl. Elayi, 147), hat Lipiński sie in der dritten Auflage des Dictionnaire (2002) aufgegeben. Dort erklärt er „Nisroch“ zur „déformation voulue“ eines assyrischen Gottesnamens, vielleicht von „Ninurta“ oder „Nusku“. Auf den Vorschlag „Nusku“ wird noch einzugehen sein.

4) Im New Interpreter’s Dictionary of the Bible (NIB) erklärt J. Scurlock „Nisroch“ als „punning reference to Akkadian matsrakhu“. Maṣrāḫu bezeichnet nach gängigen Lexika einen Sockel für Göttersymbole (AHw II, 620; CDA, 200); Scurlock denkt an eine „divine standard or weapon”, vor der Opfer dargebracht und Vasalleneide geschworen werden. Das hebräische „nonsense word“ נסרך nsrk sei entstanden, indem das des Ausgangsbegriffs als ס s und das als כ k wiedergegeben wurde. Der dadurch entstandene hebräische Name ist zwar unverständlich, weckt aber nach Scurlock sowohl Assoziationen an סרח srḥ „überhängen / wuchern“ (nach Scurlock: „to run free and unrestraint“) als auch an צרך ṣrk „nötig haben / brauchen“ „thus summarizing in a single word Isaiah’s judgment on Sennacherib as a boastful and ultimately humbled ‘weapon’ in the hand of God (Jes 10,12-16)“. Scurlocks Erklärung deutet für 2Kön 19,37 = Jes 37,38 eine plausible Szene an: Sanherib hätte im Augenblick seiner Ermordung vor einem Göttersymbol die Proskynese vollzogen. Insgesamt ist aber auch ihre Rekonstruktion zu kompliziert, zumal das einleitende נ n des hebräischen Wortes unerklärt bleibt.

Von den genannten Alternativen scheint nur die unter Nr. 3) angesprochene Ableitung „Nisrochs“ von „Nusku“ erwägenswert. Nusku galt als Sohn des Mondgottes Sîn. Diesen wiederum verehrte Sanherib als den Gott, dem er seine Herrschaft verdankte (Frahm 1997, 216); daher könnte Nusku von ihm als vermittelnder persönlicher Gott (2Kön 19,37 = Jes 37,38: „sein Gott“) ebenfalls verehrt worden sein. „Nisroch“ (נׅסְרֺךְ nisrokh) wäre dann wohl aus נסוך oder einer ähnlichen Form verschrieben (Frahm 2011b, 275 m. Anm. 39). Allerdings scheint die für diese Rekonstruktion grundlegende besondere Verehrung Nuskus durch Sanherib ebenso wie die Annahme eines Nusku-Schreins als Ort seiner Ermordung (Frahm 2011a, 18; Frahm 2011b, 275 Anm. 39) allein aus der Wertschätzung des Königs für Sîn erschlossen zu sein. Umgekehrt scheint die Ableitung „Nisrochs“ von „Nimrod“ / Ninurta zum einen philologisch, aufgrund des Gleichklangs von „Nisroch“ und „Nimrod“, und zum anderen sachlich, aufgrund der erwiesenen Bedeutung Ninurtas für die assyrischen Könige, im Großen und Ganzen besser begründet.

2. Zur Wirkungsgeschichte: „Nisroch“ als Brett der Arche Noah

Auch wenn der Gottesname „Nisroch“ (נׅסְרֺךְ nisrokh) durch Verschreibung wohl aus „Nimrod“ (נׅמְרֹד nimrōd) entstanden ist, hat sich eine eigene Wirkungsgeschichte an diese biblische Namensform geknüpft. Ein Beispiel ist folgende Geschichte, mit der im Babylonischen Talmud 2Kön 19,37 = Jes 37,38 erklärt wird:

Hierauf ging er [=Sanherib] fort und fand ein Brett von der Arche Noaḥs. Da sprach er: Das ist der große Gott, der Noaḥ vom Ertrinken rettete; (er sprach:) wenn ich jetzt Gelingen habe, so bringe ich dir meine beiden Söhne als Opfer dar. Als seine Söhne dies hörten, töteten sie ihn; hierauf deutet der Schriftvers: und während er einst im Tempel seines Gottes Nisrokh anbetete, erschlugen ihn seine Söhne Adrammelekh und Saréçer durch das Schwert &c. (Babylonischer Talmud, Traktat Sanhedrin IX, 95a [Üb. L. Goldschmidt, 58]).

Auch wenn der „Sanherib-Stoff in der jüdischen Traditionsliteratur von der Zeitenwende bis ins Mittelalter“ „gänzlich ins Sagenhafte ausgesponnen“ erscheint (Frahm 1997, 25; auch Frahm 2011a, 20; Ulmer), können in einzelnen Aussagen historisch interessante Überlieferungen erhalten geblieben sein.

Die Identifizierung „Nisrochs“ mit einem göttlich verehrten Brett der → Arche Noah erklärt den Namen des Gottes von der im nachbiblischen Hebräisch belegten Wurzel נסר nsr „sägen“, zu der נֶסֶר næsær „Brett / Bohle“ gehört (vgl. Jastrow, 918f.; Dalman, 273). Es ist außer Zweifel, dass diese Ableitung der Geschichte zu Grunde liegt, obwohl das Brett im Aramäischen der Gemara דַּפָּא daffā’ genannt wird. Die Namensdeutung liegt theologisch auf der Linie der biblischen Erzählung, die ja an der Machtlosigkeit des Gottes Sanheribs interessiert ist (vgl. oben 1.1.).

Dass das von Sanherib göttlich verehrte Brett von der Arche Noah stammen soll, spielt offensichtlich auf eine von den Rabbinen kritisch gesehene Verehrung von Reliquien der Arche an, die in anderen Quellen, etwa in → Josephus‘ Antiquitates, belegt ist.

In Antiquitates I 93 teilt Josephus unter Berufung auf Berossos mit, dass auf dem Kordyäergebirge in Armenien noch ein Teil der Arche vorhanden sei und dass Teile der Asphaltabdichtung als Talismane benutzt werden.

Nach Antiquitates I 95 schreibt Nikolaos von Damaskus über einen Berg „Baris“, ebenfalls in Armenien, auf dem noch lange Zeit Überreste des Holzes der Arche erhalten geblieben seien.

Nach Antiquitates XX 25 werden im „Land Karron (Καρρῶν)“ noch Reste der Arche gezeigt.

Dass Sanherib die Verehrung eines Restes der Arche zugeschrieben wird, ist wohl nicht daraus entwickelt worden, dass die Mörder Sanheribs nach 2Kön 19,37 = Jes 38,37 in das Land Ararat fliehen, in dem nach Gen 8,14 der Landeplatz der Arche liegt (so etwa Ulmer, 383f.); die Verbindung Sanheribs mit Resten der Arche scheint vielmehr auf älterer Tradition zu beruhen. Dazu ist von der Beobachtung auszugehen, dass die bei Josephus genannten Lokalisierungen der Arche-Reste in Bergregionen am Nordrand der Gezira verweisen, die die natürliche Nordgrenze Mesopotamiens bilden. Eine seit der vorchristlichen Antike bis heute bestehende Tradition verortet den Landeplatz der Arche auf dem „wie eine Mauer über dem Tigris-Schwemmland“ (Bender, 122) aufragenden Cudi Dağı (zu den bei Josephus genannten Ortsangaben und ihren Verbindungen mit Sintfluttraditionen vgl. Weissbach, v.a. 1935-1937).

Der türkische Name Cudi Dağı (Koordinaten: N 37° 22' 46'', E 42° 27' 09'') entspricht der Bezeichnung des Landeortes der Arche im Koran (11,44: al-ğūdī). Diese wurde offenbar erst in islamischer Zeit auf den Berg übertragen. Die Asphaltstücke, die Josephus zufolge schon Berossos (um 300 v. Chr.) als Arche-Reliquien erwähnt, könnten derselben materiellen Quelle entstammen wie die asphaltverklebten Holzreste, die bei privaten Untersuchungen des Geologen F. Bender 1954 am überlieferten Landeplatz der Arche auf dem Cudi gefunden wurden (Bender, 123f.). Bei diesen Funden dürfte es sich um antike Hölzer handeln, auch wenn die Jahre später vorgenommene C-14-Datierung mit einer Altersangabe von ca. 6500 Jahren zu hoch greifen sollte.

Sanherib hat im Rahmen des fünften Feldzuges (697 v. Chr.) am Cudi, den er „Nipur“ nennt (vgl. Streck 2001b), gekämpft, den Berg bestiegen und mehrere Inschriften und Reliefs auf ihm hinterlassen (vgl. Frahm 1997, 150f.; auch Elayi, 95f.). Der Feldzug scheint weniger politischen Notwendigkeiten als Prestige- und militärischen Übungszwecken gedient zu haben (Mayer, 365); die Aktion am Cudi ist „in erster Linie als eine hochalpine Klettertour“ geschildert (Frahm 1997, 13). Dann aber könnte Sanherib den Cudi wegen einer Arche-Tradition aufgesucht haben, die vielleicht schon zu seiner Zeit am Berg lokalisiert wurde. Setzt man ein entsprechend hohes Alter der Cudi-Arche-Tradition voraus, wäre die auffällige Mitteilung des Talmud, dass Sanherib ein Brett der Arche gefunden und als Gott verehrt habe, als später Reflex einer Tradition zu erklären, nach der er am Landeort der Arche interessiert war und vielleicht sogar am Cudi auf angebliche Reste der Arche stieß (so Finkel, 288-292, v.a. 292: Die talmudische Erzählung sei ohne „kernel of tradition“ nicht vorstellbar). In Kenntnis einer solchen Tradition hätte es nicht ferngelegen, dass die Rabbinen dem Namen „Nisroch“ einen Sinn abgewannen, indem sie ihn mit נֶסֶר næsær „Brett“ in Verbindung brachten.

Eine Unsicherheit ergibt sich daraus, dass die Inschriften Sanheribs, vor allem die, die sich auf die Aktion am Nipur / Cudi beziehen (Chicago [oder: Taylor] - Prisma III 75 – IV 12a, in: Grayson / Novotny 2012, 178; Inschriften vom Cudi, in: Grayson / Novotny 2014, 307-310), kein Interesse an einer dort verorteten Arche-Tradition erwähnen. Eine Erwähnung wäre aber auch nicht zu erwarten, wenn Sanherib die Arche am Cudi gesucht und allenfalls kümmerliche angebliche Reste gefunden haben sollte (so auch Finkel, 290).

Ein Problem bildet auch das ungewisse Alter der Cudi-Arche-Tradition. Sie ist frühestens mit Berossos’ Verweis auf den Arche-Berg im Kordyäergebirge zu belegen; je nach Einschätzung zur Authentizität des in Antiquitates I 93 mitgeteilten Zitates ist sie vielleicht auch erst für das 1. Jh. v. Chr. zu sichern (Weissbach, 1935). Der Cudi ist nicht mit dem im Gilgamesch-Epos (XI 142-146) als Landeort der Arche genannten Niṣir (oder: Nimusch) gleichzusetzen, der weiter östlich, im Zagros-Gebirge, zu lokalisieren ist (vgl. die Karte in: Finkel, 277; auch Streck 2001c). Die Differenz zum Gilgamesch-Epos wiegt aber für sich genommen nicht schwer: Da in der christlichen Tradition sowohl der Cudi als auch der weitaus prominentere Große → Ararat (Koordinaten: N 39° 42' 39'', E 44° 17' 30'') als Landeorte der Arche gelten können, können auch in neuassyrischer Zeit schon verschiedene exponierte Berge gleichzeitig als Landeort gegolten haben.

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