Deutsche Bibelgesellschaft

Orakel des Lammes

(erstellt: Februar 2009)

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„Orakel des Lammes“ bzw. „Lamm des Bokchoris“ ist die moderne Bezeichnung eines prophetischen bzw. teilweise auch als apokalyptisch eingeordneten demotischen literarischen Textes (→ Bokchoris).

1. Überlieferung und Bearbeitung

Die Komposition ist auf einem einzigen Papyrus (Papyrus Wien D 10.000) in fragmentarischem Zustand überliefert. Der Anfang ist verloren, die mittleren Bereiche teilweise fragmentarisch, lediglich das Ende ist zusammenhängend gut erhalten. Durch den erhaltenen Kolophon ist der antike Titel „Der Fluch, den Re über Ägypten gemacht hat seit dem Jahr 6 des Pharao Bokchoris“ gesichert. Die Handschrift stammt aus dem Jahr 33 des Augustus (4 n. Chr.) und ist von einem auch sonst durch mehrere Handschriften bekannten Schreiber niedergeschrieben worden (Zauzich 1976), über dessen Leben einiges bekannt ist (Schentuleit 2007).

Der Text wurde zuletzt von Zauzich (1983) ediert, von Thissen (1998; 2002) in einigen Punkten der Lesung und Deutung behandelt und ins Deutsche übersetzt und von Hoffmann / Quack (2007, 181-183 u. 351-353) mit einigen neuen philologischen Vorschlägen neu übersetzt worden; einen generellen Überblick gibt Quack (2005, 150-154).

2. Inhalt

Soweit die ersten erhaltenen Textbereiche ein Urteil erlauben, liest ein gewisser Psinyris ein Buch, während seine Frau schwanger ist und zum Gebären kommt. Der Inhalt des betreffenden Buches scheint aus Unheilsvorhersagen zu bestehen, allerdings deutet die Situation am Ende des Textes eher darauf hin, dass diese Unheilsvorhersagen nicht schriftlich vorliegen, sondern von einem sprechenden Lamm in Gegenwart des Psinyris verkündet werden. Zunächst wird innerägyptisch das Recht und die Religion verletzt, dann werden die „Meder“ (d.h. → Perser) einwandern. An einer relativ änigmatischen Stelle erscheinen zwei verschiedene Gestalten, nämlich „der von den 2“ und „der von den 55“, von denen der erste abgelehnt wird, während der zweite offenbar Zuspruch findet. Im → Töpferorakel, wo diese Passage unter expliziter Angabe der Quelle aufgegriffen wird, werden die Zahlen konkreter als Regierungsjahre aufgelöst. Ohne klaren Zusammenhang werden auch die → Griechen einmal erwähnt.

Eine weitere Reihe von Unheilsvorhersagen verkündet Rechtsunsicherheit ebenso wie Niederlagen gegen äußere Feinde. Kleine Kinder sollen angesichts ihrer Eltern nach Syrien verschleppt werden. Die wichtigsten religiösen Zentren Ägyptens werden unter Angabe der in ihnen entstandenen Verwüstungen zum Weinen aufgefordert.

Damit beendet das Lamm seine Unheilsvorhersagen. Auf Anfrage des Psinyris verkündet das Lamm eine 900 Jahre später einsetzende Heilszeit, wenn es sich als Uräus an der Stirn des Pharao befinde. Dann würde die Lüge vergehen und die Wahrheit aufblühen. Die Ägypter würden sich an → Niniveh rächen und nach Syrien ziehen, von wo sie die Götterkapellen zurückbringen würden. Der kleine verbliebene Rest der Ägypter würde sich überall freuen. Mit dem Ende seiner Aussagen stirbt das Lamm. Der Bericht über seine Aussagen wird vor König → Bokchoris gebracht, der auf Anfrage erfährt, die Dinge würden noch vor seinem Tod eintreten. Er ordnet an, das Tier wie einen Gott zu bestatten. Damit schließt der Text.

3. Moderne Deutungen

So sehr es deutlich ist, dass dieses Werk eine politische Stoßrichtung hat, so wenig besteht in der Forschung bislang Einigkeit über seine Intentionen und die dahinter stehende Gruppe. Einerseits beruhen manche Details von vorgeschlagenen Deutungen noch auf inzwischen überholten Lesungen, andererseits gibt es zwei Kernprobleme. Das eine ist die unbefriedigende Erhaltung der vorderen Passagen, das andere die Frage späterer redaktioneller Überarbeitungen am Text. Solche wurden erstmals substantiell von Meyer (1997) vorgeschlagen, in dieser Form von Thissen (2002, 121) abgelehnt, dagegen von Quack (im Druck) in teilweiser abweichender Form wieder etabliert.

Teilweise wurde versucht, den Text im Rahmen einer globalen Deutung weiterer Literaturwerke als Zeugnis einer kritischen Haltung gegenüber den griechischen Oberherren in der ägyptischen Priesterschaft der Ptolemäerzeit zu lesen (Huß 1994).

Insbesondere Thissen (1998; 2002) hat versucht, in dem Text eine Widerspiegelung politischer Ereignisse des 2. Jh.s v. Chr. zu sehen. Als Kernpunkt dient ihm die Annahme, die Invasion Ägyptens durch → Antiochos IV. sei hinter der Erwähnung des „Meders“ zu sehen. Er will auch die Gestalten von Ptolemaios VIII. und des angeblichen einheimischen Gegenkönigs Harsiese wiedererkennen. Dessen Existenz ist allerdings inzwischen mit guten Gründen bezweifelt worden (Veïsse 2004, 48-52; Veïsse, im Druck), auch eine angebliche Erwähnung des Meders an entscheidender Stelle im Text hat sich als Fehllesung erwiesen.

Immer noch möglich erscheint es, den Herrscher von 55 Jahren mit Psammetich I. zu identifizieren, dessen Regierung tatsächlich approximativ diese Dauer hat. Träfe dies zu, könnte man für den Kernbestand einer ältesten Fassung damit rechnen, dass es sich ursprünglich um eine politische Propagandaschrift der späteren Saitenherrscher handelte, die z.B. im Zusammenhang mit der aktiven Syrienpolitik Psammetichs II. stand. Deutlich ist auf jeden Fall, dass das Ende der Regierung des → Bokchoris (der nach historiographischer Überlieferung vom siegreichen Äthiopenherrscher → Schabaqo lebendig verbrannt wurde) einen zu bewältigenden Einschnitt darstellt. Man wird mit verschiedenen Redaktionsstufen zu rechnen haben, die auch bei den späteren Lesern potentiell zu Neudeutungen geführt haben, mindestens eine wäre in diesem Modell aufgrund einer Vorhersage der persischen Eroberung Ägyptens zwingend zu postulieren. Die Verheißung für die Heilszeit nach Ablauf von 900 Jahren, wie sie die aktuell erhaltene ägyptische Fassung bietet, liegt jedenfalls vom Ende der Regierung des Bokchoris aus gerechnet zum Zeitpunkt der Niederschrift der erhaltenen Handschrift noch deutlich in der Zukunft.

Das Motiv des sprechenden Lammes, welches die Zukunft ankündigt, hat bei etlichen griechischen Autoren (→ Manetho, Aelian, Plutarch) Spuren hinterlassen (Thissen 2002, 138f.).

4. Bezüge zur jüdischen Apokalyptik

Seit etwa der Wende vom 19. zum 20. Jh. hat man neben den Texten vieler anderer Nachbarkulturen auch die demotischen und gräkoägyptischen Texte, unter ihnen das Lamm des Bokchoris (noch mehr allerdings das → Töpferorakel), im Zuge ihrer Erschließung in Verbindung mit alttestamentlichen Prophetien sowie jüdischen apokalyptischen Schriften gebracht, ja teilweise sogar als historischen Ausgangspunkt der Apokalyptik gesehen (vgl. generell Blasius / Schipper 2002). Verschiedene Punkte der absoluten Chronologie dieser Literatur sind jedoch nicht ausreichend geklärt, auch bleibt ein aramäisches Fragment des 5. Jh.s v. Chr., das möglicherweise eine Umsetzung aus dem Demotischen darstellt (Quack 2009, 176) noch angemessen einzuordnen. Sofern man das Kriterium einer echten „Eschatologie“ anwendet, bei der am Ende der Vorhersage eine konkrete Endzeit in einer zeitlich und räumlich transzendenten Welt angekündigt wird (→ Eschatologie), ist keiner der fraglichen ägyptischen Texte im strikten Sinne als apokalyptisch anzusehen, obgleich die Verlagerung von einer Ex-eventu-Prophezeihung, die im Dienste einer konkreten politischen Position steht, zu einer vagen Heilserwartung für die Zukunft, deutlich in diese Richtung geht; diese Entwicklung scheint gerade beim Lamm des Bokchoris innerhalb der fortlaufenden Rezeption und Transformation des Textes erfolgt zu sein.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Lexikon der Ägyptologie, Wiesbaden 1975-1992

2. Weitere Literatur

  • Blasius, A. / Schipper, B.U. (Hgg.), Apokalyptik und Ägypten. Eine kritische Analyse der relevanten Texte aus dem griechisch-römischen Ägypten (OLA 107), Leuven / Paris / Sterling 2002
  • Gozzoli, R.B., The Writing of History in Ancient Egypt during the First Millennium BC (ca. 1070-180 BC). Trends and Perspectives (GHP Egyptology 5), London 2006
  • Hoffmann, F. / Quack, J.F., Anthologie der demotischen Literatur (Einführungen und Quellentexte zur Ägyptologie 4), Berlin 2007
  • Huss, W., Der makedonische König und die ägyptischen Priester. Studien zur Geschichte des ptolemäischen Ägypten (Historia Einzelschriften 85), Stuttgart 1994
  • Meyer, R., Die eschatologische Wende des politischen Messianismus im Ägypten der Spätzeit. Historisch-kritische Bemerkungen zu einer spätägyptischen Prophetie, Saeculum 48 (1997), 177-212
  • Quack, J.F., Einführung in die altägyptische Literaturgeschichte III. Die demotische und gräko-ägyptische Literatur (Einführungen und Quellentexte zur Ägyptologie 3), 2. Aufl. Berlin 2009
  • Quack, J.F., Ist der Meder an allem schuld?, in: A. Jördens / J.F. Quack (Hgg.), Ägypten zwischen innerem Zwist und äußerem Druck. Die Zeit Ptolemaios’ VI. bis VIII., im Druck
  • Schentuleit, M., Satabus aus Soknopaiu Nesos: Aus dem Leben eines Priesters am Beginn der römischen Kaiserzeit, CdÉ 82 (2007), 101-125
  • Thissen, H.J., „Apocalypse Now!“. Anmerkungen zum Lamm des Bokchoris, in: W. Clarysse / A. Schoors / H. Willems (Hgg.), Egyptian Religion, The Last Thousand Years, Part II. Studies Dedicated to the Memory of Jan Quaegebeur (OLA 85), Leuven 1998, 1043-1053
  • Thissen, H.J., Das Lamm des Bokchoris, in: Blasius, A. / Schipper, B.U. (Hgg.), Apokalyptik und Ägypten. Eine kritische Analyse der relevanten Texte aus dem griechisch-römischen Ägypten (OLA 107), Leuven / Paris / Sterling 2002, 114-138
  • Veïsse, A.-E., „Les révoltes égyptiennes“. Recherches sur les troubles intérieurs en Égypte du règne de Ptolémée III à la conquête romaine, Leuven 2004
  • Veïsse, A.-E., À propos de l’ „ennemi des dieux“ Harsièsis, in: A. Jördens / J.F. Quack (Hgg.), Ägypten zwischen innerem Zwist und äußerem Druck. Die Zeit Ptolemaios’ VI. bis VIII., im Druck
  • Zauzich, K.-Th., Der Schreiber der Weissagung des Lammes, Enchoria 6 (1976), 127-128
  • Zauzich, K.-Th., Das Lamm des Bokchoris, in: Festschrift zum 100-jährigen Bestehen der Papyrussammlung der Österreichischen Nationalbibliothek Papyrus Erzherzog Rainer, Wien 1983, 165-174, T. 2.

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