Ordal
(erstellt: März 2015)
Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/29705/
→ Gericht Gottes
Das Wort Ordal hat seine Wurzeln im Angelsächsischen und Althochdeutschen; latinisiert wird es zu ordalium. Es hängt etymologisch offensichtlich mit „Urteil“ zusammen, nur dass das Urteil nicht von menschlichen, sondern von übermenschlichen Instanzen gefällt wird, und zwar deswegen, weil ein Rechtsfall mit üblichen Beweismitteln nicht lösbar erscheint: Es liegt eine Schädigung vor, doch fehlen Geständnisse von Tatverdächtigen oder verlässliche Zeugenaussagen; oder ein strafrechtlich relevanter Sachverhalt ist zwischen zwei Parteien strittig, und es gelingt nicht, Schuld und Unschuld klar zuzuteilen. In religiös geprägten Gesellschaften wird in solchen Fällen ein Gottesurteil gesucht. Dazu setzt man den Verdächtigen einer Probe aus, und je nachdem, ob er sie besteht, gilt er als rehabilitiert oder als schuldig. Bei den entsprechenden Verfahren treten homines religiosi in Aktion, die mit Hilfe technisch-ritueller Mittel das Urteil der Gottheit evozieren.
1. Ordale als eine Form von Divination
In naturnahen Religionen wird das Göttliche als in Elementen wie → Feuer
In Religionen, die stärker theologisch reflektiert sind, übernehmen personal gedachte Gottheiten die richterliche Funktion. In einer monolatrischen oder monotheistischen Religion fällt der (wichtigste oder einzige) Gott das Urteil. So ist es auch in Israel (→ Gericht / Gerichtswesen
Ordale gehören in den weiten Bereich der → Divination
Auch im Alten Testament begegnen verschiedene Formen der Divination. Hier nur ein paar besonders ausdrucksstarke Beispiele aus dem Überlieferungsgut, das im sog. → deuteronomistischen Geschichtswerk
In einem solchen, für Divination offenen Klima hat auch das Ordal seinen Platz. Einige alttestamentliche Erzählungen lassen entsprechende Denkkategorien erkennen, ohne noch direkt von Rechtsverfahren zu handeln. Laut Ex 32,20
Die eigentlichen Ordaltexte führen in den Bereich der Jurisdiktion. Dass man in Altisrael mit der Möglichkeit und auch der Wirklichkeit von Gottesurteilen gerechnet hat, belegen einschlägige Gesetzesbestimmungen ebenso wie Erzählungen, Psalmen und vielleicht auch Prophetenworte.
2. Ordale in Rechtstexten
In Ex 22,6-9
Ein ritueller Test wird relativ anschaulich in Num 5,11-28
Das deuteronomische Gesetz legt in Dtn 17,8-13
3. Ordale in Erzähltexten
In der aller Wahrscheinlichkeit nach jungen, nämlich nachexilischen Erzählung Jos 7 wird geschildert, wie ein Verbrecher mittels eines Ordals überführt und bestraft wird. Ein gewisser → Achan
Damit verwandt, jedoch literarisch und auch sachlich altertümlicher, ist eine Szene in 1Sam 14,37-46
In 1Kön 8,31f
In der → Jona-Erzählung
Die Erzählung von den drei Freunden → Daniels
4. Hinweise auf Ordale in den Psalmen
In der Psalmenexegese (→ Psalmen
Insgesamt mehr als zwei Dutzend Psalmen hat man in diesem Sinne als „Gebete von Angeklagten“ oder von Asylsuchenden angesprochen (namentlich Ps 3; Ps 4; Ps 5; Ps 7; Ps 11; Ps 17; Ps 23; Ps 26; Ps 27; Ps 31; Ps 35; Ps 54; Ps 55; Ps 56; Ps 57; Ps 59; Ps 71; Ps 91; Ps 93; Ps 94; Ps 107; Ps 118; Ps 124; Ps 139; Ps 140; Ps 142). Damit ist der Kreis sicher zu groß gezogen, doch bleibt auffällig, wie viele sprachliche Elemente und gedankliche Motive sich mit der Vorstellung eines am Tempel stattfindenden Rechtsverfahrens relativ zwanglos in Verbindung bringen lassen. Da scheint es Reflexe zu geben von Befragungen und Einlassungen von Prozessgegnern (Ps 7,10
Immer wieder klingt das Motiv einer nächtlichen Prüfung an, die „am Morgen“ endet: erwünschtermaßen mit einem Freispruch des Angeklagten (Ps 3,6
5. Spuren eines Ordals in den Prophetenschriften?
Enthält der Psalter keine klaren Zeugnisse oder Berichte über Ordale, sondern allenfalls Hinweise darauf, so betritt man in den prophetischen Schriften in dieser Hinsicht noch schwankenderen Boden. Im Grunde ist es nur ein einziges Motiv, das sich in dieser Richtung deuten lässt: der von Gott verabreichte „Zornesbecher“ (→ Becher
Man könnte in diesen Texten ein Trink-Ordal angesprochen sehen: Gott reicht Menschen – nie Einzelnen, immer Gruppen: sei es Israel oder seien es Feinde Israels – einen Becher, ähnlich wie nach Num 5 der Priester der beschuldigten Frau. Freilich ist jetzt die Grundsubstanz nicht Wasser, sondern Wein (vgl. Jer 25,15
Dem „Zornesbecher“ Gottes hingegen kann niemand widerstehen. Wer ihn gereicht bekommt, muss ihn austrinken und erlebt alsbald die katastrophalen Folgen. Allein dieser Sachverhalt spricht dagegen, dass im Hintergrund wirklich die Vorstellung eines Gottesurteils steht; denn dieses müsste ja auch positiv ausfallen können. Vielmehr hat man es im „Zornesbecher“ mit einer speziellen, aus der Erfahrung tyrannischer Machtausübung geborenen Ausprägung der prophetischen Gerichtserwartung zu tun: Diesen Trunk erhalten nicht Beschuldigte, damit ihre Schuld oder Unschuld zutage komme, sondern Verurteilte, damit ihre Schuld bestraft werde.
6. Schlussüberlegung
Auch wenn sich Ordal-Texte verstreut über den ganzen Kanon und auf allen Stufen der alttestamentlichen Literaturbildung finden, ist ihre Zahl doch überschaubar. Allem Anschein nach waren Gottesurteile in Altisrael eher die Ausnahme als die Regel, eher eine Randerscheinung als ein zentrales Element des → Rechtswesens
Gleichwohl, wenn Ordale überhaupt Platz haben in einer Rechtsordnung, kann diese nicht nur innerweltlich-rationalen Maximen verpflichtet sein. Tatsächlich beriefen sich im Alten Orient Gesetzgeber auf die Götter; im Alten Testament ist Gott selbst der Gesetzgeber. Von daher wohnt dem alttestamentlichen → Recht
Literaturverzeichnis
1. Lexikonartikel
- Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl., Tübingen 1957-1965 (Gottesurteil)
- The Interpreter’s Dictionary of the Bible, Nashville / New York 1962 (Supp. 3. Aufl. 1982)
- Neues Bibel-Lexikon, Zürich u.a. 1991-2001
- The Anchor Bible Dictionary, New York 1992
- Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2007 (Gottesurteil)
2. Weitere Literatur
- Boecker, H.J., Recht und Gesetz im Alten Testament und im Alten Orient, Neukirchen-Vluyn 1976
- de Ward, E.F., Superstition and Judgment: Archaic Methods of Finding a Verdict, ZAW 89 (1977), 1-19
- Dietrich, Chr., Asyl. Vergleichende Untersuchung zu einer Rechtsinstitution im Alten Israel und seiner Umwelt (BWANT 182), Stuttgart 2008
- Dietrich, W., Achans Diebstahl (Jos 7) – eine Kriminalgeschichte aus frühpersischer Zeit, in: „Sieben Augen auf einem Stein.“ Studien zur Literatur des Zweiten Tempels (FS Ina Willi-Plein), Neukirchen-Vluyn 2007, 57-67
- Dietrich, W., Samuel (BKAT 8), Teilband 1 (1Sam 1-12), Neukirchen-Vluyn 2011; Teilband 2 (1Sam 13-26), Neukirchen-Vluyn 2015
- Dubach, M., Trunkenheit im Alten Testament. Begrifflichkeit – Zeugnisse – Wertung (BWANT 184), Stuttgart 2009
- Frymer-Kensky, T., The Judicial Ordeal in the Ancient Near East (University Microfilms), Ann Arbor, MI 1977
- Frymer-Kensky, T., The Strange Case of the Suspected Sotah (Numbers V 11-31), VT 34 (1984), 11-26
- Gunkel, H., Einleitung in die Psalmen. Die Gattungen der religiösen Lyrik Israels, Göttingen, 2. Aufl. 1966
- Janowski, B., Rettungsgewissheit und Epiphanie des Heils. Das Motiv der Hilfe Gottes „am Morgen“ im Alten Orient und im Alten Testament (WMANT 59), Neukirchen-Vluyn 1989
- McCarter, P.K., The River Ordeal in Israelite Literature, HThR 66 (1973), 403-412
- McKane, W., Poison, Trial by Ordeal and the Cup of Wrath, VT 30 (1980), 474-492
- Press, R., Das Ordal im Alten Testament, ZAW 51 (1933), 121-140
- Schmidt, H., Das Gebet des Angeklagten im Alten Testament (BZAW 49), Berlin 1928
- van der Toorn, K., Ordeal Procedures in the Psalms and the Passover Meal, VT 38 (1988), 427-445
- Wagner, V., Profanität und Sakralisierung im Alten Testament (BZAW 351), Berlin 2005
PDF-Archiv
Alle Fassungen dieses Artikels ab Oktober 2017 als PDF-Archiv zum Download:
Abbildungen
Unser besonderer Dank gilt allen Personen und Institutionen, die für WiBiLex Abbildungen zur Verfügung gestellt bzw. deren Verwendung in WiBiLex gestattet haben, insbesondere der Stiftung BIBEL+ORIENT (Freiburg/Schweiz)